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Der Detektiv – Das Geheimnis des Czentowo-Sees – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Geheimnis des Czentowo-Sees

1. Kapitel
Einer, der Szentowo kennt

Harald Harst hatte soeben mit seiner Mutter den Morgenkaffee eingenommen und ihr dabei von der in der vergangenen Nacht im Universum-Klub abgeschlossenen Millionenwette und von seiner ersten Aufgabe erzählt. Frau Harst war glücklich in dem Gedanken, dass ihr Einziger infolge dieser Wette über den Verlust seiner heiß geliebten Braut leichter und schneller hinwegkommen würde, da er sich ja verpflichtet hatte, zwölf seltsame Begebenheiten oder schwierige Kriminalfälle aufzuklären. Während sie dann ihre gewohnte Tagesbeschäftigung begann, die kaum vermuten ließ, dass sie die Witwe eines vielfachen Millionärs war, prüfte ihr Sohn in seiner im Erdgeschoss gelegenen Wohnung, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzend, die große Spezialkarte von Pommern, die sein Privatsekretär und Gehilfe Max Schraut ihm frühmorgens hatte besorgen müssen.

Das Dorf Szentowo sowie das gleichnamige Schloss und der See lagen unweit des Städtchens und der Bahnstation Malchin an der Hauptstrecke Stettin-Stolp-Danzig.

Dann sah Harst das Kursbuch ein und entschied sich für den 11-Uhr-Abend-Schnellzug. Er wollte nachmittags nochmals das Grab Marga Mildens besuchen, bevor er durch die Reise nach Szentowo seinen neuen Lebensabschnitt einleitete – seine Tätigkeit als Liebhaberdetektiv. Er, der bisherige Staatsanwaltschaftsassessor hatte ja gerade durch die Ermittlung des Mörders seiner Braut abermals bewiesen, wie sehr er sich für diesen ganz besonders geartete Fähigkeiten erfordernden Beruf eignete, dessen Vorbedingungen, weit umfassende Allgemeinbildung und ebenso gründliche Kenntnis aller mit der Kriminalistik eng zusammenhängenden Wissensgebiete, in seiner Person aufs Beste erfüllt waren.

Er saß jetzt zurückgelehnt da und schaute sinnend durch das Fenster auf die im hellen Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinaus.

Das Geheimnis des Szentowo-Sees. Das war alles, was seine Wettgegner ihm mitgeteilt hatten. Um welche Art von Geheimnis es sich handelte, dies hatten sie ihm festzustellen überlassen. Es mussten jedenfalls mit diesem See mysteriöse Vorgänge verknüpft sein, die zumindest dort in jener Gegend ziemlich allgemein bekannt waren. Und Harst ließ seine Fantasie nun spielen und erwog, wie beschaffen diese Rätsel sein könnten. Lag ein unaufgeklärtes Verbrechen, etwa ein Mord, vor? Wohl kaum. Sonst hätten die Wettgegner dieser ersten Aufgabe eine genauere Fassung gegeben.

Es klopfte.

Harst rief: »Herein.«

Es war Max Schraut, der frühere Komiker und Taschendieb, den er bei den Ermittlungen nach Marga Mildens Mörder bereits als treuen und gewandten Gehilfen schätzen und als reuigen Entgleisten kennengelernt hatte. Schraut spielte hier im Hause der Frau Auguste Harst den würdigen, älteren, graubärtigen Herrn, während er doch kaum die vierzig erreicht hatte und ohne falschen Bart und Perücke ganz anders aussah. Diese Verkleidung war nötig, denn die Polizei war hinter ihm als entsprungenen Strafgefangenen drein.

»Herr Harst, ich habe soeben die Morgenblätter durchgesehen«, begann er sofort eifrig und breitete auf dem Schreibtisch die am meisten gelesene Zeitung Berlins aus. »Denken Sie: Die ganze Wettgeschichte steht schon haarklein unter Allerneuestes, und selbst unsere erste Aufgabe ist erwähnt, was für uns insofern sehr angenehm ist, als der Verfasser dieses Artikels recht genau über das Geheimnis des Sees unterrichtet zu sein scheint.« Er deutete dabei auf eine bestimmte Stelle eines längeren Aufsatzes mit der Überschrift: Eine Millionenwette im Universum-Klub.

Harst hatte sich vorgebeugt und las. Besonders interessierte ihn natürlich Folgendes:

Tatsache ist, dass zuerst im verflossenen Herbst auf dem Grund des Sees seltsame, wandernde Lichterscheinungen sich nachts zeigten, für die niemand eine Erklärung fand. Dann wurde dasselbe geheimnisvolle Leuchten vor fünf Wochen abermals beobachtet, und es ist seitdem in unregelmäßigen Zwischenräumen zumeist in besonders dunklen, regnerischen Nächten verschiedentlich von einwandfreien Zeugen gesehen worden, so zum Beispiel auch von einem Kriminalkommissar, der in einer nahen Kreisstadt dienstlich zu tun gehabt und die Gelegenheit benutzt hatte, diese etwas rätselhafte Angelegenheit zu prüfen, die in der dortigen Gegend schnell allerlei abergläubische Märchen von einer Seenixe hervorgerufen hat. Jener Beamte wäre dabei fast das Opfer eines ebenfalls geheimnisvollen Unfalls geworden. Als er allein in einem primitiven Nachen, einem aus Brettern zusammengeschlagenen sogenannten Seelenverkäufer, der Stelle zuruderte, wo es in der Tiefe hin und wieder hell aufleuchtete, kippte der Kahn urplötzlich ohne jede erkennbare Ursache um und traf dann den gerade wieder auftauchenden Kommissar, einen vorzüglichen Schwimmer gegen den Hinterkopf, dass der Beamte beinahe die Besinnung verloren hätte. Der Kommissar führt dieses Umkippen des Seelenverkäufers auf einen plötzlichen Schwindelanfall seinerseits zurück. Im Dorf Szentowo kursieren jedoch allerlei Gerüchte, dass auch einem Gast des Besitzers des Schlosses Szentowo, des Grafen von Lippstedt, genau dasselbe gefährliche Missgeschick begegnet sein soll, dass dieser Gast, ein Professor ebenfalls beinahe ertrunken wäre, und dass die Seenixe auf diese Weise die Neugier der Menschen bestrafe. Man kann gespannt sein, wie Herr Harst als Liebhaberdetektiv sich mit alledem abfinden wird. Auch uns erscheint es dringlich geboten, jene merkwürdigen Vorgänge aufzuklären, die unseres Erachtens vielleicht doch nicht ganz harmloser Natur sind, wenn sich auch die Sachlage von hier aus kaum zutreffend beurteilen lässt.

Harald Harst legte die Zeitung auf den Tisch zurück. Er hatte mit steigender Spannung die Zeilen überflogen. Trotzdem behielt sein Gesicht den kühl-gelassenen Ausdruck bei. Und als er nun Schraut mit einem Wirklich recht eigenartig! leicht zunickte, verriet auch der Ton seiner Stimme nichts von seinen bereits der Gegenwart weit vorauseilenden Gedanken. Nur eins tat er: Er entnahm seiner goldenen Zigarettendose eine jener dicken, etwas süßlich duftenden Zigaretten, die er nur für sich in einer Fabrik nach seinen eigenen Angaben aus bestimmten Tabaksorten herstellen ließ und denen er den Namen Mirakulum (Wunderwerk) gegeben hatte, zündete sie mit dem ihm eigenen gemessenen und doch keineswegs gezierten Bewegungen an, blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft und fügte dann dem Wirklich recht eigenartig ganz plötzlich lebhafter hinzu: »Ah, wir bekommen wirklich Besuch. Gehen Sie, lieber Schraut, und öffnen Sie dem Herrn die Haustür, der da soeben die Gartenpforte zuwirft. Fraglos ein temperamentvoller Mensch! Auch etwas rücksichtslos. Würden alle Besucher die Pforte derart zuschmettern, wäre sie bald erneuerungsbedürftig. Bleiben Sie dann hier im Zimmer. Setzen Sie sich dort an den Mitteltisch und tun Sie, als ob Sie mit einer Schreibarbeit beschäftigt wären.«

Der Herr trat ein. Es war ein schlanker, sehr gut gekleideter, jüngerer Mann, etwa Ende der Zwanziger. Er trug den blonden, starken Schnurrbart lang ausgezogen und hatte ein leicht gebräuntes Gesicht mit einem nie ganz daraus verschwindenden hochmütigen Zug um den schmallippigen Mund.

»Von Blenkner«, stellte er sich Harst vor und nahm dann sofort auf dem ihm angebotenen Klubsessel neben dem Schreibtisch Platz, schlug ein Bein über das andere, schaute sich recht zwanglos in dem mit vornehmem Geschmack eingerichteten Zimmer um und sagte mit einem Blick auf den scheinbar eifrig im Hintergründe schreibenden früheren Schauspieler: »Könnte ich Sie allein sprechen, Herr Harst?«

»Mein Privatsekretär ist gleichzeitig mein Vertrauter, Herr von Blenkner. Also bitte: Womit kann ich dienen?«

»Nun, wenn es sein muss, gut. Ich möchte Sie als Detektiv zurate ziehen. Ich habe in der heutigen Morgenzeitung von der Wette im Universum-Klub gelesen und bin dadurch auf Sie aufmerksam geworden. Sofort ohne Zögern eilte ich hierher, um Sie zu bitten, mich in Malchin zu besuchen, bevor Sie nach Szentowo weiterfahren. Malchin ist ja die nächste Eisenbahnstation. Ich bewohne dort ein kleines Landhaus, das wie geschaffen für mich ist, da ich als Privatgelehrter und Schriftsteller Einsamkeit und unverfälschte Natur ringsum brauche. Ich bin ein Neffe des Grafen Lippstedt auf Schloss Szentowo, unverheiratet und halte mir nur eine bereits bejahrte Wirtschafterin. Mir ist nun vor zwei Wochen aus einem in die Wand meines Arbeitszimmers eingemauerten Stahlschränkchen ein Umschlag mit Familienpapieren verschwunden. Diese Papiere sind für mich sehr wertvoll …« Er ließ sich nun des Längeren über diesen Diebstahl aus und schloss dann mit den Worten: »Ich nehme an, Sie werden infolge der Wette und Ihrer ersten Aufgabe sehr bald nach Szentowo reisen. Dürfte ich erfahren, wann und ob Sie eine Verkleidung benutzen werden? Ich möchte eben rechtzeitig heimkehren, damit ich Ihnen alles an Ort und Stelle nochmals erklären könnte.«

»Morgen Abend fahre ich, Herr von Blenkner. Eine Verkleidung halte ich für überflüssig. Ich bin auch gern bereit, mich mit Ihrer Angelegenheit zu beschäftigen. Haben Sie schon anderweitig Hilfe in Anspruch genommen?«

»Nein, nein, ich habe sogar die ganze Sache bisher verschwiegen, weil ich … weil ich selbst versuchen wollte, den Dieb zu entdecken.«

»Wo wohnen Sie hier? Vielleicht reise ich doch erst einige Tage später. Ich möchte Sie dann benachrichtigen.«

»Ich bin seit einer Woche in Berlin und im Fremdenheim Menkwitz am Schiffbauerdamm abgestiegen.«

»Ah, und dort haben Sie wohl beim Morgenkaffee den Bericht in der Zeitung gefunden und werden sicherlich den Kopf über die etwas ungewöhnliche Wette geschüttelt haben«, gab Harst liebenswürdig lächelnd von sich.

»Ganz recht. Beim Morgenkaffee … Hm … Ihre Wette ist nicht ganz ungefährlich, Herr Harst. Mir ist ebenfalls zu Ohren gekommen, dass zwei Herren, die in Szentowo …«

»Oh, das steht ja alles hier in der Zeitung, Herr von Blenkner. Können Sie mir sonst etwas angeben, was diese Lichterscheinungen anbetrifft und was dieser Artikel nicht enthält?«

»Bedauere. Ich habe mich gehütet, mich mit der Sache näher zu befassen. Ich will gern noch ein paar Jahre leben.« Er erhob sich und verabschiedete sich kurz.

Als er gegangen war, meinte Harst zu dem ehemaligen Komiker: »Bitte, nehmen Sie Papier für einen Rohrpostbrief und schreiben Sie: Anschrift: An Herrn von Blenkner, Schiffbauerdamm, und so weiter. Sehr geehrter Herr! Da Herr Harst keine Zeit unnötig verlieren möchte, hat er sich entschlossen, doch schon heute Abend abzureisen. Sobald seine Arbeit in Szentowo erledigt ist, wird er sich bei Ihnen in Malchin einfinden. Mit vorzüglichster Hochachtung – im Auftrag des Herrn Harst.« Hier machte Harst eine Pause, sagte dann: »Sie müssen nun doch umgetauft werden, Schraut. Denn diesen Ihren wirklichen Namen dürfen Sie als mein Privatsekretär nicht mehr führen. Hier bei uns im Haus war das ungefährlich. Meine Mutter und unsere alte Köchin, die ich nun beide in Ihre Verhältnisse eingeweiht habe, sind ebenso verschwiegen wie unser kleiner Bundesgenosse Karl Malke, der für seine fünfzehn Jahre überhaupt ein fast zu frühreifer Charakter – dies nur in gutem Sinne gemeint – ist. – Wie wäre es, wenn wir Sie in Max Schüler umtauften? Meine Mutter ist eine geborene Schüler, und ihr jüngster auf See verschollener Bruder, von dem wir noch verschiedene Legitimationspapiere besitzen, hieß mit Vornamen wie Sie – Max. Also gut: Max Schüler fortan! Sie sind ja schließlich auch mein Schüler, wollen sich in die Geheimnisse der praktischen Kriminalwissenschaften einweihen lassen. Unterzeichnen Sie den Brief an Blenkner also: Schüler, Privatsekretär. Nun, wie hat Ihnen dieser Privatgelehrte gefallen? Ganz sympathische Erscheinung. Sie schütteln den Kopf? Ganz richtig – ein wenig hochmütig und selbstbewusst. Aber auch nicht ganz wahrheitsliebend, scheint mir!«

»Woraus entnehmen Sie Letzteres, Herr Harst?«, fragte der neu erstandene Max Schüler erstaunt. »Und weshalb sollte er Sie wohl zu belügen versucht haben?«

Harst stand auf, zog seinen eleganten Hausrock aus und erwiderte: »Er sagte, er wäre sofort, ohne Zögern hierher geeilt. Er betonte also, wie er auf der Stelle, ohne sich lange zu bedenken, sich auf den Weg gemacht hätte. Er ist ein gebildeter Mann, Schriftsteller, von dem man annehmen muss, dass diese Häufung von Ausdrücken sofort, ohne Zögern kein sprachliches Ungeschick gewesen, sondern bewusst geschehen ist. Wir haben jetzt genau zehn Uhr. Wissen Sie, was vor zweieinhalb Stunden sich ganz unvermutet ereignete?«

»Ah, Sie meinen die eine Wolke, die uns einen kurzen, aber heftigen Regenguss brachte, Herr Harst, nicht wahr?«

Harald Harst nickte. »Den Regen meine ich, ganz recht. Haben Sie nun bemerkt, dass Blenkners Lackstiefel recht beschmutzt waren?«

»Allerdings nicht. Ich gab darauf nicht acht …«

»Sie hätten es tun sollen. Die Stiefel deuteten ja gerade darauf hin, dass er ein wenig mit diesem sofort ohne Zögern geschwindelt hat.«

»Jetzt verstehe ich, Herr Harst. Die Regenfeuchtigkeit hätte auf den Straßen durch die Sonne längst beseitigt gewesen sein müssen, wenn er – er traf hier gegen halb zehn ein – wirklich erst sagen wir um neun das Pensionat verlassen haben würde, um zu uns zu kommen.«

»Sie entwickeln sich, lieber Schüler. Ich behaupte nun sogar, Blenkner ist vom Regen hier ganz in der Nähe überrascht worden, hat dann, da er ohne Schirm war, im Laufschritt einen Unterschlupf gesucht und sich danach in unserer Nachbarschaft noch etwa zwei Stunden herumgedrückt, ehe er sich entschloss, mich aufzusuchen.«

Max Schraut-Schüler machte ein verdutztes Gesicht. Harst lächelte unmerklich, ging ins Schlafzimmer und kam fertig zum Ausgehen zurück.

»Ich habe Arbeit für Sie«, meinte er und füllte beide Fächer seiner Zigarrentasche. »Sie könnten mal sofort im Fremdenheim Menkwitz kurze Freundschaft mit einem der weiblichen dienenden Geister unter Zuhilfenahme eines Zehnmarkscheins schließen und feststellen, wann Blenkner heute ausgegangen ist. Er interessiert mich nämlich mehr, als Sie ahnen, lieber Schüler. Er glaubte, er hätte es hier mit Dummen zu tun. Wir wollen ihm das Gegenteil beweisen. Wer mich in zwei Punkten faustdick belügt, führt irgendetwas im Schilde und ist alles andere nur kein Ratsuchender. Ich sage: in zwei Punkten. Nummer eins ist das sofort, ohne Zögern. Nummer zwei aber die Geschichte von den gestohlenen wertvollen Familienpapieren. Ist Ihnen hierbei nichts aufgefallen? Nein?Aber ich bitte Sie! Wenn Ihnen etwas Wichtiges gestohlen wird, werden Sie dann vierzehn Tage untätig bleiben, bis Ihnen zufällig der Name eines bisher ganz unbekannten Liebhaberdetektivs aufstößt? Gibt es nicht hier in Berlin Privatdetektive von Weltruf? Wird da ein vernünftiger Mensch ausgerechnet auf Harald Harst und den Zeitungsbericht über die Millionenwette warten? Guten Morgen, auf Wiedersehen.«

Harst ließ den sehr nachdenklich gewordenen ehemaligen Komiker allein und verließ das Haus, ging dann nach rechts die Blücherstraße, diesen noch wenig bebauten Straßenzug des Vorortes Schmargendorf hinunter und betrat bald durch die Tür des Bauzaunes ein halb fertiges Gebäude, sprach hier mit einigen Ziegelträgern und schenkte jedem zwei Zigarren. Dann benutzte er das nächste freie Auto zur Fahrt zum Zeitungspalast des verbreitetsten Blattes der Reichshauptstadt.