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Der Freibeuter – Norcroß in Kopenhagen

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 19

An einem Maimorgen des Jahres 1726 trat der Kammerherr von Raben zu ungewöhnlicher Zeit unangemeldet in das Schlafzimmer des Kronprinzen von Dänemark.

»Was hast du vor?«, rief ihm der Schläfer mit halb geöffneten Augen zu und dehnte sich in den weichen Pfühlen.

»Königliche Hoheit, der Freibeuter Norcroß ist wieder in Kopenhagen.«

»Norcroß? Der Engländer? Der schwedische Kaperkapitän?«, rief der Kronprinz zusammenfahrend und die Augen weit aufreißend.

»Derselbe! Er ist schon zweimal beim General Arnold gewesen, und gestern gegen Abend sogar in Friedrichsburg im Vorzimmer Sr. Majestät des Königs, welchen er durchaus hat sprechen wollen. Abgewiesen hat er fast Gewalt gebraucht, um in des Königs Zimmer zu kommen. Der ganze Hof ist darüber in Alarm.«

»Der schreckliche Mensch wird mich doch nicht stehlen wollen? Ja, ja, den hat die russische Kaiserin geschickt, dass er mich stehlen soll. Raben, was ist zu tun?«

»Ihr werde mir ein Verdienst daraus machen, mein Leben für Eure Königliche Hoheit zu wagen. Wir wollen an den König berichten. Ich will mir eine Kompanie ausbitten, damit wollen wir ihn fangen.«

»Tu das, lieber Raben. Doch nein, ich will selbst mit dem König reden. Geh du zum Kanzleirat Bredal und lass dir den von Norcroß unterschriebenen Schein aushändigen. Verstehst du? Und den Schein bringst du in das Vorzimmer des Königs.«

Raben ging, und nicht allein zu Bredal, sondern auch zu Madame Kragenlund, und benachrichtigte sie, dass der berüchtigte Freibeuter wieder in Kopenhagen sei und sie nun ihre Klage von Neuem anzustellen habe. Die Frau schien keine Lust zu haben, aber des Geheimrats Drängen und die Erinnerung an geleistete Gefälligkeiten vermochten sie endlich doch nach ihrem Advokaten zu schicken.

Von da verfügte sich Raben in das Haus seines Freundes und Kollegen, des Kammerherrn und Vizeadmirals Gabel. Dort wohnte seit einiger Zeit eine vornehme Dame aus England, welche mit dem Haus von Gabel durch Bande der Verwandtschaft verknüpft war. Der Ursprung der gegenseitigen Verbindung war die Vermählung des Prinzen Georg von Dänemark mit der Königin Anna von England. Dieser Dame galt Rabens Besuch.

»Mylady!«, rief er in ihr Zimmer tretend, »ich bin so glücklich, die Zärtlichkeit, mit welcher Sie mich beglücken, durch eine herrliche Nachricht zu belohnen.«

»Und welche ist sie?«, fragte die Engländerin.

»Ihr Landsmann, John Norcroß, ist vorgestern mit einem französischen Schiffe in unseren Hafen eingelaufen und hat sich in einer Herberge an der Ecke der Strandstraße einlogiert.«

»Ja, das ist eine herrliche Nachricht!«, jubelte das Weib und umarmte den Kammerherrn.

»Die Zeit ist endlich gekommen, wo der Schändliche für alle Bosheit, die er an Ihnen und mir verübt hat, büßen muss. Er läuft uns selbst ins Netz. Recht aus Herzensgrund wollen wir uns an ihm rächen.«

»Rächen! Rache an ihm!«, rief die Lady.

»An meinem Arm soll Lady Palmerston in seinen Kerker treten.«

Ein Kuss belohnte ihn für den Einfall. Aus Rosamundes Augen strahlte Schadenfreude.

»Eilen Sie!«, rief sie, »dass er Ihnen nicht entwischt.«

Am Nachmittag desselben Tages ging aus des Königs Kabinett der Befehl an den Kommandanten von Kopenhagen, Grafen Sponeck, den Kapitän Norcroß ohne Aufsehen zur Haft bringen zu lassen.

Norcroß – bleich und vom Schicksal hart berührt – saß in seiner Herberge, sinnend über neuen Plänen und von dem ungestümen Verlangen seines Herzens nach Friederike gequält, das ihn wieder in das Land getrieben hat, wo er so übel behandelt worden war, als ein Hauptmann der Liniensoldaten hereintrat und nach ihm fragte. Dieser gab sich zu erkennen, und der Hauptmann richtete einen Gruß vom Grafen von Sponeck aus, welcher die Ehre zu haben wünschte, den Kapitän Norcroß zu sprechen.

»Verzeiht, mein Herr«, versetzte dieser, »wer ist dieser Herr Graf, welcher mich zu sprechen wünscht?«

»Er ist Stadtkommandant.«

»Gut. Ich werde morgen das Glück haben, demselben aufzuwarten. Vermeldet ihm dies mit meinem Gegengruß.«

»Ich muss Euch bitten, mir sogleich zu folgen«, sagte der Soldat höflich. »Es ist dem Herrn Grafen viel daran gelegen, jetzt mit Euch zu reden. Es sind Dinge von Wichtigkeit, die er schnell mit Euch zu verhandeln hat.«

Norcroß wurde von einer Ahnung durchflogen, dass dieser Besuch nicht zu seinem Vorteil ausschlagen möchte. Doch beschloss er, mit dem Hauptmann zu gehen. In des Kommandanten Wohnung wurde er sogleich vor diesen, einen feurigen Mann in den mittleren Jahren, geführt, der ihn mit den Augen durchbohren zu wollen schien.

»Wie lange seid Ihr schon hier in der Stadt?«, fragte der Graf.

»Es ist heute der vierte Tag.«

»Woher kommt Ihr?«

»Von Dünkirchen.«

»Habt Ihr Reisepässe?«

»Hier sind meine Pässe der französischen Regierung und der Marine.«

»Ihr habt Euch vor drei Jahren schon eine Zeit lang hier aufgehalten, und damals mit einem Reisegeld die Weisung erhalten, nicht wieder in das Königreich Dänemark zu kommen. Wie könnt Ihr Euch nun unterstehen, Euch dennoch wieder innerhalb der Stadtmauer sehen zu lassen?«

»Mir ist ein solches Verbot nicht bekannt«, versetzte Norcroß betreten.

»Wie? Wollt Ihr Eure eigene Handschrift ableugnen? Habt Ihr nicht selbst die Bedingung unterschrieben, Dänemark nie mehr zu besuchen?« Mit diesen heftigen Worten hielt der Graf dem Kaperkapitän die Quittung über die von Bredal erhaltenen dreißig Taler hin.

Norcroß las und staunte. »Diese Unterschrift rührt allerdings von mir her«, sagte er kleinlaut, »aber die in der Onittung enthaltene Bedingung ist mir bis jetzt unbekannt gewesen. Ich habe sie damals nicht gelesen.«

»Elende Ausflüchte! Gelesen oder nicht, es war Euch bekannt, dass Ihr nicht wieder nach Dänemark kommen solltet. Was hat Euch wieder hierher getrieben?«

»Excellenz«, bat Norcroß aufs Demütigste. »Haben Sie Mitleid mit einem sehr armen, unglücklichen, aus seinem Vaterland vertriebenen, heimatlosen Mann! Ihr will Ihnen alles erzählen. Als ich vor drei Jahren, vom Unglück hart verfolgt, von hier nach Dünkirchen ging, legte ich mich auf die Handelschaft. Da ich aber kein eigenes Vermögen hatte und nur mit fremdem Geld verkehren konnte, auch die Sache nicht mit rechter Lust und Neigung trieb, so brachte ich nichts vor mich. Ich durchstreifte die Meere und hatte wenig Gewinn. Dieses Frühjahr endlich scheiterte ich mit meinem Schiff und rettete nichts als das nackte Leben. Ich war des Handels so müde, dass mich die Nachricht von einer plötzlich in der Ostsee erschienenen Flotte, deren Zweck man nicht kenne, mit Freude und Hoffnung erfüllte. Ich wusste, dass es eine russische Flotte sei und auch was sie beabsichtigte. Ich hatte es ja damals Sr. Masestät, dem König dieses Reichs, vorausgesagt. Meine Prophezeiung schien jetzt schon in Erfüllung gehen zu wollen, und obwohl sie damals ungnädig aufgenommen wurde, so glaubte ich mich doch nun darauf berufenzu dürfen, um so mehr, da ich auch jetzt noch Mittel und Wege anzugeben weiß, um die drohende Gefahr abzuwenden. Denn ich getraue mich, die Bäuerin von Marienburg eher zu überlisten, als ihren verstorbenen Gemahl, den großen Peter. Diesen Gedanken ergriff ich mit Lebendigkeit. Ich baute darauf, dass die nordischen Mächte jetzt Leute genug brauchen würden, um ihre Flotten auf den Kriegsfuß zu setzen. Da ich einmal zum Seesoldaten geboren bin, so schied ich von Frau und Kind und segelte nach Amsterdam, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, welches mich mit in den Norden nähme. Ich fand auch wirklich ein solches, aber es war bestimmt, nach Christiania in Norwegen zu segeln. Wollte ich wohl oder übel, so musste ich mit. Mein Verlangen war groß und eine andere Reisegelegenheit nicht da. Wir gingen unter Segel und langten nach kurzer und glücklicher Reise in Christiania an. Dort sprach man von nichts als von den neuen Unruhen, von den Kriegsaussichten und den verschiedenen Bündnissen der hohen Mächte, namentlich von dem des Königs von Dänemark mit dem König von Großbritannien gegen die russische Kaiserin. Zu meiner Freude ging auch bald ein Schiff nach Kopenhagen ab, und so bin ich denn hierher gekommen, Sr. Majestät, dem König, meine Dienste anzubieten. Sollte Höchstderselbe aber keinen Gebrauch davon machen wollen, so bin ich gewillt, mich an den hier anwesenden großbritannischen Vizeadmiral mit der Bitte zu wenden, dass er mir die Rückkehr in mein Vaterland vermittle. Ich habe meine frühere politische Meinung ganz geändert und möchte bei meiner reich gewordenen Mutter leben, deren Erbe ich einmal sein werde. Dies ist die Absicht gewesen, die mich hierher geführt hat. Ihr bitte daher, Ew. Exzellenz wollen mich gnädigst entlassen.«

Also ängstlich und zagend sprach der einst so kühne und gefürchtete Freibeuter. Dem Adler war der Flügel gebrochen. Er kroch im Staub. Die Not und Erbärmlichkeit des Lebens hatte auch ihm das edle Haupt niedergedrückt, und er vermochte nicht einmal mehr nach der Sonne zu schauen, geschweige denn ihr entgegenzustürmen.

»Ihr habt mir etwas verschwiegen, Kapitän«, redete der Kommandant etwas milder. »Man vermutet nicht ohne Wahrscheinlichkeit, dass Ihr noch einen anderen Grund haben könntet, weshalb Ihr hierher gekommen seid, nämlich eine Leidenschaft zu dem im hiesigen Irrenhaus verwahrten geisteskranken Fräulein von Gabel, dass Ihr einst geraubt und von der Insel entführt habt.«

Des Kapitäns Mund verzog sich schmerzlich lächelnd. »So ist es doch wahr«, sagte er, »sie haben den edelsten und erhabendsten Geist, der jemals eine Frau belebte, unter die Tollen und Wahnsinnigen gesperrt? Gott mag diese Schuld nicht an denen rächen, die sie begangen haben. Da aber die Sachen so stehen, so mögen sie es immer wissen, Herr Graf, die heftige Sehnsucht meiner Seele, über die Sie vielleicht lächeln mögen, das glühendste Verlangen, Friederike von Gabel wieder einmal zu sehen, die seit zehn Jahren einen heiligen Zauber über mein Herz übt, hat mich mit hierher getrieben. Die alte Unruhe meiner Seele, die mich unglücklich gemacht hat, schweigt in ihrer Nähe. Ich wollte einmal ganz frei von aller Leidenschaft vor meinem Heiligenbild niederknien und Ruhe, Himmelsseligkeit aus ihrer Engelsseele in mein wildbewegtes, trübes Gemüt saugen. Nun, da ist sie in das Irrenhaus gesperrt worden. Es ist auch gut, und ich gehe wieder, mit ein wenig Marter mehr in meinem Herzen, als ich mitgebracht habe. Was hat das aber auf sich? Niemand kümmert sich darum. Es ist nichts daran gelegen.«

Der Graf war ernst und nachdenklich geworden, vielleicht überkam ihm eine höhere Lebensahnung, vielleicht wehte ihm ein wehmütiges Gefühl an, wie es die Geschäfte seines Stadtkommandos noch nicht mit sich gebracht hatten. Er winkte mit der Hand und sagte: »Es ist gut. Ihr könnt gehen.«

Norcroß glaubte sich nun schon in Freiheit, bedankte sich und eilte hinaus. Als er aber an die Treppe kam, stand ein Sergeant mit vier Soldaten da, die dem Erschrockenen die Bajonette entgegenhielten.

»Ihr müsst Euch gefallen lassen, mein Herr«, sagte der Unteroffizier mit Artigkeit, »mit mir auf die Hauptwache zu spazieren.«

»Ich sehe wohl, dass ich tun muss, was Ihr von mir begehrt«, versetzte Norcroß, »es mag mir gefällig sein oder nicht.« Seufzend folgte er dem Sergeanten in der Mitte der Soldaten. Auf der Hauptwache erhielt er eine kleine Kammer neben der Wachstube als Wohnung angewiesen, worin sich nichts als ein Strohsack, ein Stuhl und ein Tisch befand. Das einzige Fenster war stark vergittert und die doppelte Tür mit Eisenbändern und Schlössern belegt. Hier musste er drei lange Wochen sitzen, ohne das Geringste über sein ferneres Schicksal zu vernehmen. Er wäre ruhig gewesen, wenn man ihm das Glück der Einsamkeit vergönnt hätte. Aber rohe Soldaten machten sich eine Freude daraus, ihn stets zu verhöhnen und zu plagen. Er trug ihren Spott, ihre niedrigen Äußerungen geduldig, aber sein Herz blutete und versank in einen totmatten Zustand. Sein einziger Wunsch, der noch wie ein helles Fünkchen in der schaurigen Nacht seines Herzens leuchtete, war, von Friederike etwas erfahren zu können. Er erkaufte mehrere Soldaten mit seinem letzten Geld, aber ihr Bemühen war umsonst. Sie vermochten ihm nicht die kleinste Kunde von ihrem Befinden zu bringen.

In der letzten Woche des Juni fuhr eines Tages ein von sechs Dragonern umgebener Karren vor die Hauptwache, auf welchem Norcroß zum Kastell Friedrichshafen gebracht wurde. Hier warf man ihn in ein Loch voll Moder und Gestank, auf dessen Schwelle der Unglückliche ohnmächtig wurde.