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Die Tauscher 25

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 25

»Die Wunde sollte verbunden werden«, sagte Florian. Das war eine halbe Stunde später, an ihrem Treffpunkt im vierten Hinterhof eines Mietblocks. Der Mann schaute sich den Unterarm an, wo an einer Stelle die Haut weggebrannt war.

»Habe ich in der Aufregung gar nicht bemerkt«, bekannte er, »außerdem wollte ich ja die vorzeitige Weihnachtsbescherung nicht verpassen.«

Er rollte die Scheine, die ihm Florian gegeben hatte, zu einer dicken Walze zusammen und steckte sie in die Tasche.

Grüßend hob er die Hand an den Mützenschirm. »Und falls mal wieder was anliegt, Chef – immer gerne.« Damit ging er hinter den anderen her. Ihre eiligen Schritte verklangen.

Kalle zählte noch einmal sein Geld. Er tat das zum fünften oder sechsten Mal und jedesmal mit derselben Begeisterung.

»Spendierhosen, was?«, wandte er sich an Hammerstain.

»Gute Arbeit, guter Lohn.«

»Ja, war nicht schlecht«, nickte Kalle, »absolut nicht schlecht.« Er grinste, sodass man seine schwarzen Backenzähne sehen konnte. »Aber ich werde aus dir nicht schlau, Hammerstain. Fünf Jahre auf dem Boden und jetzt meldest du dich mit so einer Aktion zurück. Das nennt man extrem, selbst hier in Berlin. Kommst du mit?«

»Ich warte noch einen Moment und klettere über die Mauer. Besser, man sieht uns nicht zusammen.«

Kalle zündete sich seine zweite Zigarre an. »Ich werde demnächst mal die Südstaatenstumpen probieren. Sollen sogar besser sein als die hier. Noch was vor?«

»So dies und das.«

»Nur nicht zuviel verraten«, kicherte Kalle und ging. Aus der dunklen Einfahrt kam noch seine Stimme. »Viel Glück, pass auf dich auf und man sieht sich.«

1939. Das war kein Datum. Keine Jahreszahl. Eine Adresse. Hausnummer, Stockwerk, Büronummer. Die Schlüssel waren bei dem Geld, das er inzwischen größtenteils an örtliche Ganoven verteilt hatte. Hammerstain kicherte bei dem Gedanken daran, was die Zucker-Erben denken würden. Als ob die armen Kerle nicht schon genug damit zu tun hätten, sich gegenseitig zu erschießen.

Das Betreten des Gebäudes war ein Schock. Als ob ein Schmerz, den man verdrängt hat, wiederkehrt. Der bekannte Geruch nach Reinigungsmitteln. Der Hall der Schritte im Eingang, als ob die Töne wie Fledermäuse unter der Decke geschlafen hätten und nun erwacht durch den Raum flattern würden.

Unbekanntes Gesicht an der Pförtnerloge. Blick in das Logenbuch. Neben der Büronummer sein Name.

»Herr Silwester Hammerstain? … Sie sind lange nicht mehr hier gewesen.«

Unterschrift. Aufzug. Zwölftes Stockwerk. Ohne Nachdenken der Schwenk zur linken Flurseite. Das Schloss war ein wenig eingerostet. Dahinter die schale Luft eines seit Langem unbenutzten Raumes.

Hammerstain ließ das Türschloss langsam und geräuschlos einrasten. Hier war der Vorraum, dort ging es in das kleine Bad. Im Durchgang die Teeküche und dahinter das Büro. Groß und hell, durch das Fenster geht der Blick auf die Spree. Unten tuckert ein Ausflugsdampfer vorbei. Menschen in Sommerkleidung, leichtes gemeinsames Schunkeln zu russischen Klängen unter Anleitung einer Akkordeonspielerin. Weiter hinten macht ein Luftschiff wieder am Zuckerhaus fest.

In den nächsten Minuten pendelte Hammerstain zwischen Panik und Erstaunen. Panik, wenn er irgendetwas suchte und nicht sofort fand. Erstaunen, wenn er es dann doch gefunden hatte. Es war alles da. Sein Plan konnte aufgehen. Eines fehlte noch.

Er musste warten.

Hammerstain setzte sich in seinen Schreibtischsessel. Ein bekanntes Gefühl, als hätte er nur darauf gewartet, wieder in diesem schweren Lederkorb nach hinten wippen zu können.

Die Uhr ist stehengeblieben. Das Tuckern der vorbeifahrenden Ausflugsdampfer unterteilt die verstreichende Zeit.

Er spürt sie kommen, lange bevor er sie hören oder sehen kann.

Sie öffnet lautlos die Tür, ihre Schuhe machen auf dem Teppich keinen Laut, nur ihr Kleid raschelt leise. Ein sommerliches Rauschen, wie warmer Wind in den Blättern.

»Süßer Schmerz«, sagt Hammerstain laut, als sie den Raum betritt. Und dann: »Hallo Noira.«

Sie trägt ein Kleid, blutrot, knielang, enges Oberteil, dazu einen schwarzen Seidenschal, der ihre perfekte Haut betont. Jetzt ist sie brünett, ein helles, freundliches Braun in den schulterlangen Haaren. An den Schläfen trägt sie eine Spange, das wirkt ein wenig mädchenhaft, aber die Spange ist so wertvoll, dass das Diamantglitzern alles Mädchenhafte wieder fortblitzt.

Sie legt wortlos das Bolerojäckchen ab und gibt den Blick auf ihr Decollete frei. Sie weiß, dass sie perfekt ist. Sie hat es schon immer gewusst.

Hammerstain wippt leicht mit seinem Sessel und schaut ihr zu, wie sie ihre Tasche auf den Schreibtisch legt, die Öffnung zu sich und sich dann mit übergeschlagenen Beinen auf die Platte setzt. Die Haut auf ihren Schienbeinen schimmert. Die ganze Zeit hat sie ihn im Blick und niemals den Rücken zur Tür gewandt.

»Überraschung«, gurrt sie. Die Stimme ist immer dieselbe, die kann sie nicht umfärben, nicht mit einer Perücke verdecken. Es ist dieselbe Stimme, die ihn in der Kaiserhalle um Feuer bat, die ihn in Spellbergs Institut aufforderte, schnell zum Ausgang zu laufen.

»Ich hatte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen«, sagt Noira.

»Und in der Kaiserhalle?«

»Das war eine Probe. Spellberg wollte es. Er wollte wissen, ob du mich erkennen würdest. Du hast mich nicht erkannt, stimmt´s?«

»Stimmt. Und in der Klinik?«

»Da musste ich improvisieren. Plan B. Das war nicht schwer, du bist so ungemein berechenbar.«

»Revuepalast?«

»Ein weitere Probe. Aber du hast etwas gemerkt, das spürte ich. Also wollte ich dich nach draußen locken.«

»Um mich dann als Leiche in den Landwehrkanal zu werfen.«

Noira lächelt ihn an, herzzerreißend und eiskalt. Ein kleiner herzförmiger dunkler Fleck über ihren roten Lippen betont die makellose Glätte ihrer Haut. Schön wie eine Marmorstatue. Und ebenso menschlich.

»So sind die Regeln«, sagte Noira sanft, »aber wie üblich hast du immer einen Freund, der im richtigen Moment auftaucht.« Sie zögerte kurz, öffnete dann ihr Täschchen. Hammerstain spannte sich, bis er das Zigarettenetui sah, das sie herauszog. Sie zündete sich eine Zigarette an. Er beobachtete sie, wie sie den ersten Zug machte, genussvoll, mit halb gesenkten Lidern und dann wieder der Kussmund und das Spiel der Zunge mit dem Rauch.

Sie schaute sich um. »Du rauchst nicht?«

»Nein.«

Ein erstes Flackern von Überraschung ging durch ihre Augen. »Oh.«

»Ich glaube nicht an die gesundheitsfördernde Wirkung«, sagte Florian.

»Und wenn. Hauptsache, es macht Spaß.«

Sie schwieg und betrachtete Hammerstain, als wäre er ein Gegenstand. Er ließ die Prüfung gelassen über sich ergehen.

»Spellberg wird wütend sein«, sagte Noira.

»Er kann sich selbst die passende Pille verschreiben.«

Noira lächelte, als wären sie beide für einen Moment Komplizen.

»Seit wann hast du die Erinnerung wieder?«

»Ist das wissenschaftliche Neugier oder entwickelst du wieder sentimentale Gefühle für deinen Ehemann?«

»Seit wann?«, wiederholte Noira, in ihrer sanften Stimme klang ein metallisches Raspeln durch.

»Noch nicht lange.«

»Und wie ist es? Sich wieder zu erinnern?«

»Ungefähr so, als würde man sich selbst mit einer Nagelschere die Haut abziehen. Nur schmerzhafter.«

Noira schnippte lächelnd Asche von ihrem Kleid. »Spellberg war sicher, dass er alles gelöscht hatte. Die Hauptspur der Erinnerung und jede Verzweigung und jede Verknüpfung mit einer Verzweigung. Inzwischen hat sich seine Methode tausendfach bewährt.«

»Vielleicht liegt es daran, dass ich einer der Ersten war.«

»Du warst die Nummer einhundert oder so. Jedenfalls war die Methode schon erprobt, auch wenn Spellberg den Schläfenschnitt erst später eingeführt hat.« Noira beugte sich vor. Sie hatte ein Parfüm aufgelegt, das nach Kirschen duftete.

»Die Erinnerung ist gelöscht«, sagte sie eindringlich, »da kann nichts mehr zu finden sein.«

»Tut mir leid, dass wir dich enttäuscht haben«, sagten Hammerstain und Florian.

»Oh, deine seelische Spaltung«, kicherte Noira amüsiert. »Ich hatte das nicht ernst genommen, obwohl mir Spellberg von diesem Unfug erzählte und keine Erklärung hatte. Er wirkte sogar leicht besorgt. Nein – du bist zu simpel für so etwas. Selbst für einen Mann und die sind naturbedingt simpel.«

»War das jetzt ein Lob oder ein Tadel?«

»Eine Feststellung«, lächelte Noira, »und es hat mir auch gefallen. Diese Gradlinigkeit. Keine Tricks, keine Halbheiten. Ich mochte das.«

»Ich weiß, dass du es mochtest«, seufzte Hammerstain, »du hast es mir zumindest vorgespielt. Bis du dann interessantere Männer getroffen hast.«

»Wie das Leben so spielt. Ich liebe Menschen mit Visionen. Und deine waren mir zu spießig.«

»Das hat mir allerdings noch niemand vorgeworfen.«

»Wenn du glaubst, deine konsequente Selbstzerstörung der letzten Jahre durch Trinken und Prügeleien seien mehr als blankes Spießertum, dann muss ich dich enttäuschen. Du bist ein Spießer, der sich auf links gedreht hat, das ist alles.«

»Und?«, fragte Hammerstain und schaute auf das glatte, perfekte Frauengesicht, »wer hat dich umgedreht?«

Noira lächelte ihn an. Zum ersten Mal registrierte Hammerstain die Kälte dieses Lächelns. Selbst hinter ihrer scheinbaren Freundlichkeit war sie kalt und berechnend.

»Niemand dreht mich um«, erklärte sie entschieden, »es war meine Entscheidung. Und du selbst hast mich dazu gebracht.«

»Der weiße Fleck«, murmelte Hammerstain. Er konnte förmlich hören, wie sich die letzte verdeckende Schicht von dieser Erinnerung ablöste. Er musste sich, unter den amüsierten Blicken von Noira, abstützen. Ein Schauder durchlief ihn, als hätte man ihn an einen seiner peinlichsten Momente erinnert.

»Ja, Baron von Anken-Starhemberg«, sagte Noira versonnen. Inzwischen hatte sie sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen gesteckt, »ein Mann mit großen Plänen.«

»Die habe ich gesehen. Gepanzert, mit Kanonen bewaffnet und von Ketten angetrieben.«

»Du glaubst, du wärst der erste und einzige Agent, dem es je gelungen ist, in den weißen Fleck einzudringen und lebendig wieder herauszukommen. Das stimmt sogar. Aber der Baron hat seine Helfer schon immer außerhalb gehabt.«

»Spellberg, zum Beispiel. Und dich.«

Noira nickte. »Als mir klar wurde, dass du tatsächlich über das Niemandsland kommen würdest, habe ich ihm telegrafiert. Für den Fall, dass du den Rückweg schaffen solltest. Du siehst, ich hatte eine hohe Meinung von dir.«

»Und als ich zurückkam, habt ihr mich abgefangen.«

»Du warst in einem ziemlich schlechten Zustand. Es war leicht, dich außer Gefecht zu setzen, sodass wir dich nach Berlin schaffen konnten. Hier hat Spellberg seine Therapie an dir angewendet.«

»Und warum dann der Mord, den ihr mir anhängen wolltet?«

»Wunsch des Barons«, sagte Noira ungerührt, »er hielt dich noch immer für eine Gefahr.«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Also nahmst du meine alte Pistole, die ich vom Evidenzbüro bekommen hatte, und nutztest sie als Waffe, um gleich zwei Menschen mit einem Schuss zu erledigen. Mich und den Kerl, der Zucker lästig werden konnte.«

Noira bestätigte den Verdacht mit einem leichten Lächeln.

»Warum Zucker?«

»Oh«, Noira verdrehte theatralisch die Augen, »er war der Typ Mann, der einem Mädchen jeden Wunsch von den Augen ablesen kann. Seine eigenen Wünsche hingegen waren ziemlich einseitig und banal. Aber das war es wert. Und auf einer gewissen Ebene war er wirklich Weltklasse … eine Frau wie ich hat ja auch ihre körperlichen Bedürfnisse …«

Sie schaute ihn unter halb geschlossenen Lidern an und wartete auf seine Reaktion.

Dann fügte sie lächelnd hinzu: »Man sah es ihm vielleicht nicht an, aber er war ein richtiger Hengst.« Sie seufzte theatralisch. »Natürlich mithilfe einiger Mittelchen und er war auch nie der Feinmechaniker. Aber man unterhält sich eben am besten unter seinem Niveau …«

Wieder kam dieser Blick aus halb geschlossenen Augen, prüfend und abschätzend. Hammerstain konnte ihn körperlich spüren, wie tastende Finger, die zugleich schmerzten und ihm einen Schauer der Erregung über die Haut jagten. Er holte tief Luft. Noira wusste noch immer, wie sie ihn treffen konnte, wo sie die Klinge ansetzen musste, um in die Lücken des Panzers zu dringen, in den er sich gehüllt hatte. Sich hüllen musste. Gehüllt wurde.

Er sah ihr Gesicht, auf dem sich ein Echo jener Lust zu spiegeln schien, die sie in den Armen Zuckers empfunden hatte. Diese Vorstellung, die sich ungewollt aufdrängte, nahm ihm den Atem. Er merkte, wie er die Kiefer zusammenpresste, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen. Sie beobachtete ihn, lächelnd, die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben. Sie war die Katze, die mit der Maus spielt. Wieder einmal war sie das und Hammerstain knirschte mit den Zähnen, wurde starr und zugleich weich, merkte, wie jede Entschlossenheit sich auflöste, wie die Härte seines Plans zu weicher Watte wurde. Wie er selbst zusammenbrach und in sich zusammenstürzte wie ein morsches Gestell, schneller und schneller. Chancenlos.

Und dann fand er einen Halt, völlig unerwartet, aber er war da und schien Hammerstain anzuschreien, warum er sich von dieser Hochglanzoberfläche in Frauengestalt derart zerstören ließ. Hammerstain fasste sich, er tauchte wieder auf und grinste Noira schief an.

»Und warum musste Zucker dran glauben? Nicht mehr Hengst genug?«

Noira hob ein wenig den Oberkörper und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie witterte, dass ihr die sichere Beute aus den Fingern glitt.

»Er wurde zu gierig. Und er begann, seine eigenen Pläne zu verfolgen. Und er ging mir auf die Nerven. Da war er fällig. Und dass dabei deine Assistentin aufs Schafott wandert, war Zusatznutzen. Ich fand es ungeheuer witzig.«

»Eifersüchtig auf Sara Levinsohn?«

Noira lachte etwas zu schrill. »Auf dieses Püppchen mit dem Riesenzinken im Gesicht? Machst du Witze?«

»Spellberg? Ich erinnere mich, du hast ihn getroffen, als es um die Auswahl von Ölgemälden für sein Sanatorium ging. Ab da also …«

»Nein, nicht ab da … du verdächtigst eine treue Ehefrau. Zumindest war ich das zu dieser Zeit. Später allerdings …« Noira schaute versonnen dem Rauch hinterher. »Später erkannte ich, dass er der einzige Mann war, der zu mir passte. Der Baron ist ein Irrer, der sich auf der Landkarte verewigen will und schlitzäugige Schlampen besteigt, um Söhne zu zeugen und eine Dynastie zu gründen. Mehr nicht. Zucker – ein kleiner Ganove, der den Mann von Welt spielt und beide glauben, sie hätten Macht. Ich sage dir, wer Macht hat. Spellberg hat Macht über die Seele. Er kann einzelne Menschen manipulieren und Massen nach seinem Willen lenken.«

»Aber das ist noch nicht alles.«

Noira wirkte für einen winzigen Moment überrascht. Dann schüttelte sie lächelnd den Kopf. »Der Baron denkt in Quadratkilometern. Zucker dachte in Reichstalern. Aber Spellberg weiß, dass Raum und Zeit die beiden Maßstäbe sind. Wer die beherrscht, hat alles unter Kontrolle.«

Hammerstain massierte sich die Schläfen. »Dieser Osmane ist euch in die Quere gekommen. Dieser Kemal Soundso, der bei Grünwang mitarbeiten sollte. Er hatte irgendeinen Verdacht.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Noira leichthin, »ich erzählte Zucker eine kleine Geschichte, dann war ich besonders nett und am nächsten Tag war der Osmane erledigt. Zucker, dieser Süße, hatte das mit einer kleinen Abrechnung kombiniert.«

»Und dafür gesorgt, dass der Osmane als Waffenhändler des Sultans durch die Medien gejagt wurde.«

»Es war eine hübsche Geschichte. Aber eigentlich viel zu simpel. Nur so eine wie Großnase Levinsohn konnte auf diesen billigen Trick hereinfallen.«

»Die Levinsohn und ein paar Millionen Zeitungsleser.«

»Und du«, gluckste Noira, »obwohl euer Auftritt als Bankier Steingold plus Gattin ja einen gewissen komödiantischen Reiz hatte. Ich glaube, die Levinsohn hat mit der fetten Bankiersschickse die Rolle ihres Lebens gespielt.«

Ohne dass sich ihre Stimme verändert, ihren leichten, verbindlichen Plauderton verloren hätte, glitten Noiras schlanke Finger in die Öffnung der Handtasche, zogen eine Pistole und feuerten.

Der Treffer schleuderte Hammerstain nach hinten. Er prallte auf den Boden, hatte den Kopf angehoben, um einen Anprall zu vermeiden und spürte sofort den stechenden Schmerz in seinem überdehnten Nacken, der sich mit dem Schmerz in der Schulter vereinte.

»Deine Sara Levinsohn, der Riesenzinken, macht übrigens gerade einen Fluchtversuch. Will sich ihrer erneuten Verhaftung entziehen, das Dummerchen. Mal schauen, was draus wird.«

Noira glitt vom Schreibtisch, als wäre sie aus Wasser. Sie trat neben den reglosen Hammerstain. Ihr Bein fuhr hoch, dann rammte sie ihren spitzen Schuhabsatz mitten in sein Herz. Sie drehte sich auf der Stelle, nahm ihre Tasche und verließ den Raum.

Hammerstain wartete, bis ihre Schritte verklungen waren, bevor er nach Luft schnappte. Er musste vorsichtig atmen, der Tritt schien seine Rippen gebrochen zu haben und jeder Atemzug schmerzte. Stöhnend wälzte er sich zur Seite, zog sich am Schreibtisch hoch und tastete nach dem Telefon.

Erst als er die geübt freundliche Stimme des Fräuleins vom Amt hörte, begann er sich zu wundern. Dass der Apparat überhaupt noch Anschluss hatte, war ein Glücksfall. Wenigstens einer.

Nach dem Telefonat stemmte Hammerstain beide Fäuste auf den Schreibtisch und überlegte. Der Schmerz in den Rippen schien jetzt weniger zu pochen. Vielleicht hatte er auch hier Glück gehabt – großflächige Hautfärbung in Blau, Gelb und Grün und sonst nichts weiter. Gut so, öffentliche Nacktauftritte waren sowieso nicht geplant. In der rechten Schulter war ein glatter Durchschuss. Blutverlust akzeptabel, Schaden gering, wenn er sich demnächst in Behandlung begab. Er ging einige Adressen durch, wo Ärzte solche Wunden ohne Nachfragen behandelten.

Aber das musste warten. Stärker als der Schmerz in den Rippen und in der Schulter pochte die Besorgnis. Noira hatte Sara Levinsohn erwähnt. Sie hatte es getan, um ihm noch einen zusätzlichen Schlag zu versetzen, aber sie hatte nicht gelogen. Zumindest in solchen Dingen konnte man auf die Worte einer Noira von Schwarz absolut vertrauen.

Aber was …?

Hammerstain verließ das Büro, kehrte auf dem Flur noch einmal hastig um, weil er das Wichtigste vergessen hatte, und verließ das Gebäude.

Der Mann am Empfang konnte ihm mit leichtem Rotwerden sagen, in welche Richtung Noira gegangen war.

Hammerstain empfand eine boshafte Befriedigung. Diesen negativen Effekt hatte Noira von Schwarz nie in ihrem Leben in Erwägung gezogen – dass sie eine Frau war, die Aufsehen erregte und der man nachschaute.

Da war diese leichte Schärfe in dem Kirschduft ihres Parfums gewesen, das Florian bemerkt hatte. Erst wusste er sie nicht einzuschätzen, dann verstand er. Benzin. Der Geruch von Benzin, der typischerweise an einem Selbstfahrer haften blieb. Oder noch genauer: Benzin und Schmieröl – die klassische Zweitaktermischung.

Vorwärts stolpernd ließ Hammerstain die Überlegungen durch seinen Kopf rattern. Manchmal bemerkte er einen Blick anderer Passanten. Hatten sie das Blut an seiner Schulter bemerkt oder wirkte er auffällig verwirrt, konnte man seinem Gesicht seinen inneren Zustand anmerken – selbst in dieser Stadt, deren Gesicht nicht besser sein konnte?

Ein Automobil, das seinen Benutzer mit Benzingeruch markierte, war absolut nicht Noiras Stil. Hammerstain grinste. Vielleicht war ihr Wagen auch Opfer des feurigen Spektakels vor dem Zuckerhaus geworden? Dann hatte sie sich schnellstmöglich Ersatz beschaffen müssen. Sie hätte ein Taxi nehmen können, wollte aber wohl vermeiden, dass sich der Fahrer an sie erinnerte. Langsam glitten Hammerstains Gedanken in die Gedankenwege Noiras. Sie hatte ihn übertölpeln können, vor einigen Jahren, weil er ihr blind vertraut hatte. Ein tödlicher Fehler, aber eine lässliche Sünde. Und dennoch kannte er sie, wusste, in welche Richtung ihre Überlegungen gingen.

Warum war sie nicht zu Fuß gegangen? Sie hatte es eilig. Sie wollte schnell zu seinem ehemaligen Büro, sehen, ob er sie tatsächlich erwartete, die Sache erledigen und wieder verschwinden.

Sie hatte ein Zeitproblem. Aber warum lud sie sich Sara Levinsohn als zusätzliches Problem auf?

Um ihm einen letzten Schlag zu versetzen? Nein, für Noira war er tot, im Sinne des Wortes abgetreten auf dieselbe Art, mit der sie Zucker den Abgang bereitet hatte. Es war nur eine kleine Nebenbemerkung gewesen, weibliche Geschwätzigkeit, die ihr die Zunge zu sehr gelöst und diesen Satz hatte entschlüpfen lassen, ihre Bösartigkeit, die jede Möglichkeit nutzte, den Feind zu schwächen und zu verletzen.

Und dann passte alles zusammen. Als wären die Zahnräder einer Mechanik in die richtige Position geraten, ergab alles einen Sinn. Noira brauchte noch eine kleine Ablenkung, einen kleinen zeitlichen Puffer, um das zu tun, was sie vorhatte. Und genau dazu nutzte sie Sara Levinsohn. Die Öffentlichkeit brauchte nur einen kleinen Moment auf die vermeintliche Mörderin von Alfred Simon Zucker zu schauen, die Stadt brauchte nur einmal ihren hektischen Atem anzuhalten und damit hatte Noira ihr Ziel erreicht. Mehr als diese kurze Unaufmerksamkeit brauchte sie nicht.

Auf der Straße erklang wütendes Hupen. Ein Lastwagen bremste quietschend, der hintere der beiden Anhänger hoppelte, drohte umzukippen und stellte sich dann quer. Bevor er sie sah, wusste Hammerstain, dass es Noira sein musste. Das schrille Aufheulen eines winzigen Zweitaktmotors. Ein kleiner offener Zweisitzer, der sich als Sportwagen ausgab, aber mehr einen Kleinwagen darstellte. Das Gefährt aufgestiegener Sekretärinnen. Das war genau die Art von Wagen, die sich Noira aussuchen würde, wenn sie Ersatz brauchte. Vor jedem Bürohaus standen die Dinger im Dutzend.

Hammerstain setzte sich in Bewegung. Seine Gelenke schmerzten, er schien schlagartig sein Gewicht verdoppelt zu haben. Da war sie! Sie hatte sich ein Kopftuch umgebunden, trug eine Sonnenbrille und lenkte ihren Wagen durch die schmale Lücke, die zwischen dem querstehenden Anhänger und den haltenden Wagen auf ihrer Seite blieb. Die wüsten Beschimpfungen von allen Seiten perlten an ihr ab, sie lächelte versonnen, als würde sie diesen Auftritt sogar genießen. Zuzutrauen wäre es ihr.

Vor Hammerstain überquerte ein junger Mann den Gehweg und verschwand in einem Blumengeschäft. Zweifarbige Sportschuhe, karierte Strümpfe, Knickerbocker, helles Jackett, helle Schiebermütze – der Gute gab sich sportlich und hatte heute noch einiges vor. Aber nicht alleine. Sein Instinkt ließ Hammerstain zur Straße schauen. Dort stand der Wagen des Sportsmannes. Das passende Gefährt, ein offener Viersitzer im Lastwagenformat mit einem böse grummelnden Achtzylinder unter der Motorhaube.

Zwischen den parkenden Wagen war eine Lücke, Hammerstain schob sich durch, erreichte den grünen Sportwagen gerade in dem Moment, in dem Noiras Papp-Rennwagen mit kreischendem Motörchen vorbeiflitzte. Hammerstain sprang auf den Fahrersitz, löste die Bremse und gab Gas. Der Motor ließ die schmalen Reifen über das Kopfsteinpflaster radieren, der Wagen stellte sich quer, und erst als Hammerstain Gas wegnahm, griffen die Räder und rissen den Wagen in eine heftige Beschleunigung. Im winzigen zitternden Rückspiegel erkannte Hammerstain eine Gestalt in Knickerbockern, die auf der Straße auf und ab sprang wie ein Teufelchen aus der Kiste und schreiend mit einem Blumenstrauß wedelte.

Mit krachenden, ruckenden Gangwechseln ohne Zwischengas trieb Hammerstain das Tempo hoch. Er war das Fahren nicht mehr gewohnt und dieses Monstrum war zu allem Möglichem tauglich, aber nicht zum Fahren. Noira war vor ihm, sie ließ ihren kleinen Wagen mit unglaublicher Geschicklichkeit durch die kleinste Lücke im Verkehr gleiten, riskierte Kopf und Kragen, indem sie in den Gegenverkehr fuhr, und tauchte im nächsten Augenblick im Verkehrsstrom unter, verschwand förmlich unter all den anderen Wagen. Hammerstains Gefährt bot keine Vorteile, außer dem erhöhten Sitz, sodass er Noira weithin erkennen konnte.

Einige Male hatte er unvermutet freie Bahn, dann gab Hammerstain Vollgas und zog den Kompressorhebel heraus und konnte so mit infernalischem Getöse, als würde sein Wagen das freie Straßenstück in winzige Stücke häckseln, beschleunigen. Vier, fünf polternde Herzschläge später drückte er sich gegen die Rückenlehne und versuchte, den Bremsen etwas Verzögerung abzuringen, aber bei diesem Rennlastwagen schien das Abbremsen nicht vorgesehen zu sein. Immerhin war die Hupe laut und der Anblick des heranrasenden, verchromten und geradezu irrsinnig blitzenden Kühlergrills machte selbst auf die Berliner Automobilisten Eindruck.

Noira ihrerseits saß in der Lärmblase ihres Zweitakters und konnte das Röhren des Kompressors hinter sich nicht hören. Eine Verfolgung in einigem Abstand war außerdem völlig ausreichend. Sara Levinsohn war weder auf dem schmalen Beifahrersitz, noch im winzigen Kofferraum, denn der war nichts als ein kleines Blechdöschen über dem Tank zwischen den Hinterrädern und konnte bestenfalls einige Schminkutensilien einer nicht allzu eitlen Frau aufnehmen.

Für eine Weile wurde Noira zu einem Teilchen im hektischen Verkehr, nicht auffälliger und ungeduldiger als alle anderen.

Wie ein Schwall kalten Wassers traf Hammerstain ein Zweifel. Niemand konnte ihm garantieren, dass Noira überhaupt dahin fuhr, wo die Levinsohn festgehalten wurde. Aber wenn nicht … dann konnte er sich immerhin noch Noira schnappen und das Versteck aus ihr herausprügeln. Florian hatte keine Zweifel, dass er im Notfall genau das tun würde.

Am Straßenrand tauchte einer der blau gestrichenen Pavillons auf, in denen die Verkehrspolizei ein Telefon hatte. Die Pavillons standen meist an belebten Kreuzungen und boten mit einer überdachten Plattform Gelegenheit, auch bei schlechtem Wetter den Verkehr einigermaßen bequem im Blick zu behalten. Zwei oder drei Beamte hielten sich ständig dort auf, außerdem kamen die Doppelstreifen hier immer wieder vorbei, um Meldungen abzugeben und um eine Pause einzulegen.

Jetzt erinnerte der Pavillon mit Sandsäcken und einem Maschinengewehr auf der Plattform an einen Außenposten im Dschungel. Wahrscheinlich war er das sogar.

Hammerstain wechselte die Spur, trieb den Wagen halb auf den Bürgersteig und raste hupend auf den Posten zu. Die Beamten starrten den herankommenden Wagen aus aufgerissenen Augen an, sie kamen gar nicht auf den Gedanken, ihre Gewehre von der Schulter zu reißen, sondern sprangen schreiend zur Seite. Hammerstain rammte mit der Stoßstange einige Sandsäcke, deren Inhalt spritzte in alle Richtungen, eine Staubwolke wie nach einer Explosion schoss hoch. Im Rückspiegel, da war er mit seinem Wagen schon längst wieder im Verkehr untergetaucht, konnte Hammerstain die gelblichen Schwaden über den Autodächern sehen.

Noiras kleiner Sportwagen verschwand aus seiner Sicht, ein Lastzug wechselte die Spur und verdeckte ihn. Zu spät bemerkte Hammerstain, dass sie sich einer Kreuzung näherten, fluchend versuchte er, auf eine andere Spur zu kommen und war eingeklemmt zwischen sturen Taxis und trägen Lastwagen, als säße er zwischen Mauern aus lackiertem Blech. Von Noira war nichts zu sehen. Dann, für den Bruchteil einer Sekunde konnte er ihr Kopftuch und ihr rotes Kleid erkennen, durch die Seitenscheiben eines Lastwagens, sie war abgebogen. Fluchend zog Hammerstain nach außen, riss den Kompressorhebel und beschleunigte mitten in den Gegenverkehr hinein. Dann war die Motorhaube des Lastwagens neben ihm und hupend riss Hammerstain am Lenkrad. Das polierte Holz glitt ihm durch die verschwitzten Finger, bis er an einer Speiche Halt fand. Der schwere Sportwagen neigte sich zur Seite und kratzte mit quietschenden Reifen direkt vor dem Lastwagen in die Kurve. Es gab ein Stakkato von Hupen und Bremsenquietschen, aber Hammerstain brachte den schleudernden Wagen wieder unter Kontrolle und raste hinter Noira her.

Ein Geruch von heißem Öl machte sich breit, das Motorengeräusch veränderte sich. Hammerstain schob den Kompressorhebel wieder rein, das rote Blinklicht ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Jetzt sah er auch das kleine Blechschild mit der Warnung Kompressor nicht länger als 20 Sekunden einschalten, sonst droht Motorschaden! Aus dem Auspuff krachte es, eine pechschwarze Wolke drückte sich aus dem Chromrohr und legte sich wie ein Tarnnebel über die Straße. Wahrscheinlich hatte sich gerade ein Zylinder verabschiedet und das Rasseln und Klopfen unter der Motorhaube verhieß allgemein nichts Gutes.

Hammerstain hatte noch immer einen weiteren Fluch parat. Er drückte auf das Gaspedal. Der Wagen beschleunigte merklich träger, aber es reichte, um einen Bus zu überholen, dessen Fahrer einen Wutanfall in Form eines Hupkonzertes bekam, und sich Noira zu nähern. Er musste näher an sie herankommen. Sollte sein Wagen zusammenbrechen, dann wollte er zumindest noch versuchen, sie mit dem letzten Schwung zu rammen. Bis dahin rammte Hammerstain erst einmal einen fahrbaren Würstchenstand, der gegen einen blauen Pavillon flog.

Die Straße zerfaserte sich in mehrere Spuren, die zu verschiedenen Schnell- und Hochstraßen führten. Wohin wollte Noira? Oder witterte sie den Verfolger und führte ihn in die Irre, lenkte ihn ab?