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Die Tauscher 21

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 21

Das Orchester setzte zu einer flotten Melodie an, die Truppe nahm blitzschnell Aufstellung und dann schwangen die Girls die Beine und die Arme. Ihre Schuhen krachten mit dem Lärm und der Exaktheit einer perfekt abgefeuerten Salve auf den Boden, ihre Bewegungen waren in perfekter Abstimmung und ohne die geringste Abweichung. Die Girls bildeten Reihen, Linien, Formationen, Vierer- und Sechsergruppen, sie fädelten auseinander und fanden wieder zusammen wie sorgfältig geschliffene Mosaiksteinchen. Und während das Orchester schwungvoll von einer Melodie zur anderen wechselte und das Publikum begeistert mitklatschte, lächelten die Münder, wendeten sich die Köpfe wie an einer Schnur gezogen nach links oder rechts und flogen die schlanken Beine, auf denen das Licht der Scheinwerfer glitzerte, als wäre es nicht menschliches, verletzliches Fleisch, auf das sich alle Augen hefteten, sondern eine überirdische Substanz, Fleisch der Götter. Alles auf der Bühne glitzerte und glänzte, schimmerte und leuchtete und wurde mehr und mehr zu einer Vision, einer Erscheinung einer höheren Welt, während sich alle Bewegungen mit der fehlerlosen Vollkommenheit einer gut geölten Maschine vollzogen.

Florian schaute sich um. Überall waren die Augen auf die Bühne geheftet, die Bedienungen bewegten sich wie Eindringlinge in einer Kirche voller ergriffener Gläubiger.

Florians Ohren dröhnten von dem Krachen der Sohlen und dem Klatschen des Publikums. Er war froh, als die Trompeten den letzten hektischen Ton herausquetschten, die Girls sich wie eine einzige Person verbeugten und dann von der Bühne die Treppe hinaufglitten wie entschwebende Engel. Applaus füllte den Saal bis an die Schmerzgrenze.

Langsam dämmerte Florian, was die Faszination dieser berühmten Truppe ausmachte. In einer Stadt, die ständig an der Grenze zum Chaos entlang taumelte, wirkte die Exaktheit und Perfektion wie ein Wunder. Mehr noch, wie ein Versprechen, dass es auch anders gehen könnte, als im chaotischen Alltag.

»Phantastisch, nicht wahr. Wie eine Maschine!«, begeisterte sich Fräulein Levinsohn.

»Was ist so toll daran, wie eine Maschine zu sein?«

Florians Frage schien eine deutliche Unanständigkeit zu enthalten, denn Fräulein Levinsohn schaute ihn zugleich entgeistert und empört an.

»War diese Bemerkung jetzt ernstgemeint«, schnappte sie schließlich.

»Ja.«

Fräulein Levinsohn beugte sich über den Tisch und winkte Florian näher.

»Die Perfektion der Maschine ist ein Spiegel der Harmonie des Universums, wie es sein würde, wenn es perfekt wäre.« Sie nuschelte ein wenig und kicherte dann.

»Aber was Harmonie und Perfektion angeht, haben Sie natürlich wenig Erkenntnisgrundlage, Herr Hammerstain.«

»Haben Sie mich hierhin geschleppt, um mir das mitzuteilen?«

Fräulein Levinsohn setzte sich auf und stemmte die Arme auf die Tischplatte. »Unter anderem«, erklärte sie, »aber ich denke, es gibt noch einige andere Dinge, über die wir sprechen müssen.«

»Dann mäßigen Sie Ihren Sektkonsum, sonst können Sie über diese Dinge nur noch lallen.«

Die Antwort kam zwar, aber Florian achtete nicht auf sie, weil er die Szene am Nebentisch beobachtete. Ein Paar mittleren Alters schnupfte ein weißes Pulver aus einer kleinen goldenen Dose, wischte sich diskret die Reste von der Nase und versank dann in ergebenes Warten.

Fräulein Levinsohn folgte seinem Blick. »Angeblich ist dieses Zeug ja gesundheitsfördernd. Aber ich weiß nicht – ist mir einfach zu künstlich. Hören Sie mir überhaupt zu?«

»Nein. Wie üblich.«

Während Fräulein Levinsohn mit einem empörten Quieken der Flasche einen Rest Champagner entlockte, bemühte sich Hammerstain, nicht allzu auffällig zum Nebentisch zu schauen.

Es war die Narbe, die ihn aufmerksam machte. Diese Narbe, die an der linken Schläfe des fast kahlköpfigen Mannes erkennbar war und die sich jetzt deutlich sichtbar als feiner grauer Strich abzeichnete. Die Haut war mit Schweiß bedeckt, der Mann wischte sich den Schädel mit der Serviette, während er rot wurde, als müsste er schwere Gewichte stemmen. Dabei wirkte er keineswegs erschöpft, sondern quicklebendig und auch seine Begleiterin machte sich mit lautem Kichern bemerkbar.

Hammerstain massierte die eigene Narbe, versuchte durch Kopfnicken und ein eingestreutes ´So?` Aufmerksamkeit zu simulieren. Fräulein Levinsohn war in einem Zustand ungeahnter Gesprächigkeit und sie schien sogar ihre sonst gewohnten verbalen Breitseiten gegen ihren Chef zu unterlassen. Eigentlich schade, dachte Florian, dass ich das nicht richtig genießen kann.

Am Nebentisch explodierte die Stimmung förmlich, man sah Bekannte, winkte sie hektisch heran und spendierte einen Zug aus der Dose. Inzwischen hatte Florian die Befürchtung, dem Kahlkopf könnte jeden Moment die krebsrote Birne platzen.

»So, jetzt habe ich vorgeglüht, jetzt können wir tanzen«, hörte er Sara Levinsohns Stimme durch den Trubel.

»Ich kann nicht tanzen«, sagte Florian.

»Hah!«, machte die Levinsohn, als hätte sie ihn beim Naschen erwischt.

»Entschuldigung.«

Der Kahlkopf hatte sich erhoben und auch Hammerstain stand auf. Es war leicht, dem Mann zu folgen. Obwohl er ziemlich klein war, leuchtete sein Schädel wie ein Signalkörper zwischen den Schultern der umherwuselnden Bedienungen. Er steuerte auf die Waschräume zu, die auf der anderen Seite des Saales lagen. Zwischen Halbsäulen aus glänzendem, aber dennoch falschem Marmor, lagen die Schwingtüren aus poliertem, dunkel schimmerndem Holz. Davor standen Gruppen plüschiger Sessel, in denen sich zahlreiche Gäste rauchend entspannten. Hammerstains Blick fiel im Vorbeigehen auf eine schlanke schwarzhaarige Frau mit Pagenfrisur, die an einer enorm langen Zigarettenspitze sog.

Er folgte dem Kahlkopf bis in den Waschraum und ließ sich dann auf das Sofa fallen, das den großen Raum teilte. An den Seiten warteten Waschbecken auf Benutzer. Hammerstain blickte dem Mann nach, der durch die Tür zu den Toiletten ging. Für seine Körperfülle und sein Alter bewegte er sich mit einer Energie, als gäbe es für ihn keine Schwerkraft.

Florian schloss die Augen. Durch die schweren Türen drang die Musik nur als leises Rauschen zu ihm.

Das Gefühl, dass etwas falsch war, dass irgendetwas absolut nicht stimmte, überschwemmte ihn und schien ihn zu lähmen. Einige Männer standen vor den Becken, wuschen sich die Hände, machten sich frisch, stürzten sich mit sorgfältig gekämmtem Haar in den Trubel. Das alles war unwirklich und doch spürte Florian die Wasserspritzer vom nächsten Waschbecken auf seiner Wange.

Der Kahlkopf sauste zurück in den Waschraum. Hammerstain erkannte ihn bei geschlossenen Augen an seinem hektischen Trippelschritt, der wirkte, als würde man einen Film zu schnell abspielen.

Stöhnend drückte sich Hammerstain hoch und stellte sich neben den Mann. Der bearbeitete seine manikürten Hände mit Seife und warf dem schwankenden Nachbarn einen hastigen Blick zu.

»Alles klar, der Herr?« Selbst die Art, wie er sprach, schien von einem übermäßig schnellen Tonband zu stammen.

»Bisschen zu sehr die Ex weggetrunken«, murmelte Hammerstain mühsam und beugte sich über das Becken.

Der andere kicherte hektisch. »Kenne ich, kenne ich, kenne ich«, versicherte er, »nutzt aber nichts, außer schlechten Leberwerten. Ich sage nur, psychische Amelioration. Teuer, aber jetzt könnte mir meine Ex ins Gesicht springen und ich würde sie noch immer nicht erkennen.« Lachend trocknete er die Hände und flitzte zum Ausgang. »Ist immer lustig, wenn ich alte Fotos anschaue. Wer ist denn die hässliche Sumpfkuh, die den Arm um mich legt, frage ich und meine Tochter immer so: Aber das ist doch Mama, und beim nächsten Bild muss ich wieder nachfragen«, rief er amüsiert über die Schulter.

Hammerstain wankte zum Ausgang und gewann erst im Gewimmel des Saales seine normale Gangart zurück. Der Kahlkopf vom Nebentisch achtete nicht auf ihn, sondern führte ein angeregtes und sehr gestenreiches Gespräch mit mindestens drei Personen gleichzeitig.

Fräulein Levinsohn stand neben ihrem Stuhl und erwartete Hammerstain.

»War der Kamillentee nicht gut?«, stichelte sie.

»Eher die Aussicht auf einen Tanz mit Ihnen!«

Entweder Fräulein Levinsohn war äußerst milde gesinnt oder sie hatte die Boshaftigkeit erst gar nicht verstanden. Auf jeden Fall erwiderte sie nur: »Stichwort« und deutete mit schwungvollem, aber auch sehr autoritärem Zeigefinger zum Ende des Saales, wo sich eine weitere pompöse Treppe, auch sie mit zwei Flügeln, zwischen dicken Säulen erhob.

»Entschuldigen Sie!« Florian zuckte beim Klang der Frauenstimme zusammen und trat zur Seite. Die Schwarzhaarige mit der Pagenfrisur glitt an ihm vorbei. Sie trug ein eng anliegendes Kleid mit Goldpailletten. Im Schein der Lampen glitzerte das Material, als wollte sich die Frau in Licht auflösen. Sie schenkte Florian ein verwirrendes Lächeln und schritt mit wiegenden Hüften weiter.

»Kennen Sie diese Frau?«, kam es etwas streng von Fräulein Levinsohn.

»Nein.«

»Sicher?«

»An so eine Frau erinnert man sich, selbst wenn einem das Gehirn amputiert worden ist«, versicherte Hammerstain.

»Was gibt´s da schon zu amputieren.«

»War Ihre Frage nur eine Vorbereitung auf diese Unverschämtheit?«, fragte Hammerstain.

Fräulein Levinsohn lief trotz ihrer an sich schon frischen Gesichtsfarbe leicht rot an.

»Nein«, patzte sie, »aber diese Frau kennt Sie.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Das war der Blick. Die Frau kennt Sie. Und zwar ziemlich gut sogar. Glauben Sie mir, eine Frau spürt so was und der Blick sprach Bände.«

Die Frau in dem Paillettenkleid war irgendwo in der Menge verschwunden. Hammerstain stierte auf den gemusterten Teppich, der so aussah, als läge er erst seit heute auf dem Boden. Er kannte diese Frau nicht. Das war sicher. Absolut sicher.

Fräulein Levinsohn hakte sich ein und lotste Hammerstain in Richtung auf die Treppe. Sie stiegen die Stufen hoch, warfen noch einen Blick auf den Saal mit seinen Rauchschwaden, dem Glitzern von Schmuck und wohlfrisierten, vor Pomade glänzenden Köpfen, die sich über die Tische beugten und betraten auf der anderen Seite der Treppe den Tanzpalast.

Von der Galerie aus konnte man den Saal überblicken, der dieselben Ausmaße haben musste wie derjenige, den sie soeben verlassen hatten.

Ein Orchester spielte auch hier und eine zahllose Menge an Paaren drehte sich auf der Tanzfläche, glitt wie eine von der Musik umgerührte Flüssigkeit an den Wänden entlang, bildete in der Mitte Wirbel und Strudel aus Tanzenden und vereinte sich wieder zu einer erneuten Runde.

Florian spürte, wie Panik in ihm aufstieg.

»Ich kann das nicht«, japste er. Schon sah er sich als störenden, stolpernden Felsen in diesem weichen, schwerelosen Gleiten.

Sara Levinsohns Mund war sehr nah an seinem Ohr.

»Doch, können Sie«, hauchte Hammerstains Assistentin, »und ich kann es beweisen.«

»Und ich werde Ihren Zehen beweisen, dass ich es nicht kann.«

»Kommen Sie, gehen wir in einen der kleineren Säle«, entschied Fräulein Levinsohn.

Sie führte Florian die Galerie entlang. Sie umrundeten fast den gesamten Saal, stiegen eine Treppe hinunter und fanden sich auf einem breiten Gang wieder. Von der Decke hingen riesige Kronleuchter, glitzernde und funkelnde Gebilde aus kantigem, glänzendem Messing und zahllosen geschliffenen Kristallen. Auf dem Gang herrschte Stille, sodass ihre Schritte hallten, aber von irgendwoher tönte leise Musik.

Die Levinsohn steuerte einen Eingang auf der linken Seite an. Sie traten durch die doppelte Schwingtür, durchquerten einen Vorraum, dessen Boden mit einem knöchelhohen Teppich bedeckt und dessen Wände und Decke gepolstert waren.

»Warum kennen Sie sich hier so gut aus?«, fragte Florian misstrauisch.

»Ich habe den Gebäudeplan auswendig gelernt. Schien mir eine gute Idee.«

Schwungvoll stemmte sich Fräulein Levinsohn gegen die nächste Tür. Es war, als hätte sie eine Schleuse geöffnet, hinter der ein Stausee von lauter, hektischer Musik lag.

Eine Kapelle dröhnte auf einer kleinen Bühne, die Tanzfläche war voller zuckender Gestalten, die im Takt die Beine zu seltsamen Verrenkungen zwangen und die Arme schwangen, sodass jeder deutlichen Abstand zum Nächsten halten musste.

Fräulein Levinsohn bewegte sich in den Hüften und schnippte mit den Fingern.

»Ich glaube, hier sind wir richtig.«

Florian betrachtete zweifelnd einige der Tänzer, die sich mit ekstatischer Hingabe bewegten, als wollten sie versuchen, ihre Arme und Beine aus den Gelenken heraus und in die Weite des Saales zu schleudern.

»Wirkt auf mich wie Marionetten unter Starkstrom«, kommentierte Hammerstain.

»Ich dachte, das wäre Ihr Ding.«

»Wenn ich mich zum Affen machen will, sicherlich. Bis dahin, nein danke.«

Fräulein Levinsohn seufzte, aber Hammerstain bemerkte den Anflug eines boshaften Lächelns in ihren Mundwinkeln.

»Wir haben ja noch eine Möglichkeit«, erklärte sie.

Das, was Sara Levinsohn als Möglichkeit bezeichnete, stellte sich als angrenzender Saal heraus, in dem flotte Tanzmusik gespielt wurde, zu der sich die Paare ebenso flott bewegten.

»Tja«, sagte Fräulein Levinsohn, »dann versuchen wir es doch einfach mal.«

»Sie riskieren ernsthafte Gesundheitsschäden«, warnte Hammerstain, »ich kann so was nicht.«

»Doch, Sie können.«

Sie zog Hammerstain auf die Tanzfläche, eigentlich grapschte sie eher nach seinem Ärmel und kippte dann noch hinten, was sie mit heftigem Kichern quittierte.

»Ich bin das Prickelwasser nicht gewöhnt«, entschuldigte sie sich frohgemut, »kein Wunder, bei Ihnen ist ja eher Wasser und Brot angesagt. Und vorher karges Studentenleben und davor höhere Töchtererziehung, das gibt´s auch nur Tee und Zwieback mit Zuckerglasur.«

Florian befand sich am Rand der Tanzfläche. Er spürte pure Panik, eine lächerliche Panik für einen Mann in seinem Alter, der sich berufsmäßig in den untersten Etagen einer Großstadt herumtrieb.

Er schloss die Augen, seine Hände fanden die richtige Position, Sara Levinsohn schubste ihn an, nachdem sie unerwartet friedfertig seine eine Hand von ihrem wohlgerundeten Hinterteil zum eher knochigen Rücken geschoben hatte.

»Na also, geht doch.«

Hammerstain fixierte eine Strähne auf dem Kopf seiner Partnerin. Die Strähne stand wie eine Fahnenstange in die Höhe und wackelte bei jeder Bewegung. Er spürte, dass er nicht denken durfte, nicht in seiner Erinnerung suchen, dass es nichts zu verstehen gab. Ihm blieb nur eines – den Atem anhalten und sich bewegen. Schließlich setzte er zu einigen schnellen Drehungen an, wirbelte Fräulein Levinsohn, dass die Haarsträhne fast wieder senkrecht lag.

Die Musik lief in einem gefühlvollen Triller der Klarinette aus, die Tänzer klatschten.

»Ich glaube, ich brauche eine Pause«, schnaufte Fräulein Levinsohn und steuerte auf die Sessel am Rand der Tanzfläche zu. Hammerstain folgte ihr mit boshaftem Grinsen. Seine Taktik war aufgegangen. Aber die Frage blieb, warum es ihm gelungen war.

Fräulein Levinsohn ließ sich theatralisch in einen der wenigen freien Sessel fallen und fächelte sich Luft zu.

»Nichts Gutes mehr gewohnt«, lächelte sie, »zum ersten Mal seit drei Jahren, als ich …« Sie brach ab und schaute zur Seite, als wäre sie erwischt worden.

»Ja«, sagte Hammerstain wenig galant, »man wird nicht jünger.«

»Stimmt, und wenn man mit Ihnen arbeitet, zählt jedes Jahr zehnfach.«

»Vorsicht«, grinste Hammerstain, »mit der Rechnung könnten Sie blitzschnell im Rentenalter landen.«

»Sehen Sie. Das ist genau das, was ich meine«, beschwerte sich Fräulein Levinsohn, »Sie sind ein Genie der Boshaftigkeit.«

»Aber ich bessere mich doch, oder?«, erkundigte sich Florian leicht besorgt.

»Na ja, manchmal gab es den Hauch einer Hoffnung. Genau deswegen habe ich mich entschlossen, mit Ihnen ein ernstes Gespräch zu führen. Und ich sagte ´ernst` und meine ´wichtig`. Also wäre es freundlich, wenn Sie mir mal ausnahmsweise zuhören würden.«

Florian hatte die richtige Antwort auf der Zunge, aber er verschluckte sie. In diesem Moment sah er auf der anderen Seite der Tanzfläche einen schwarzen Pagenkopf. Sein Puls begann zu rasen.

Er reckte den Hals, knickte dann in den Knien ein, um diese Person zwischen den sich drehenden Paaren sehen zu können. Sie war es. Es war tatsächlich die Frau, die ihn kannte – zumindest laut Sara Levinsohn. Und jetzt wandte sie den Kopf, einen Herzschlag lang fing er ihren Blick auf und er wusste, dass die Levinsohn recht hatte. Und irgendwo in seinen Gedanken wuchs die Gewissheit, dass auch er diese Frau kennen musste. Er schaute ihr hinterher, ihrem schwingenden, lässigen Schritt, der tänzerischen, knappen, ungemein eleganten und sehr weiblichen Drehung, mit der sie einem Zusammenstoß auswich. Es war wie eine Vokabel, die ihm auf der Zunge lag, die er aber nicht aussprechen konnte. Es brachte ihn fast um den Verstand.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte er und ging zum Ausgang.

Fräulein Levinsohn rief ihm etwas hinterher, aber er verstand es nicht und es war ihm auch vollkommen egal.

Die Frau mit der Pagenfrisur war schon an der Tür, sie schob sich hindurch, als gerade eine fröhliche Gruppe den Saal betrat. Hammerstain musste sich an dieser Gruppe vorbeidrängen. Er spürte, wie sich seine Fäuste ballten, eine ganz instinktive Geste, weil er sich am liebsten vorwärtsgeprügelt hätte, mitten durch diese gutgelaunten, gut alkoholisch abgefüllten, gut gekleideten und gut duftenden Menschen hindurch.

Statt dessen wartete Florian höflich, bekam ein Lächeln zur Belohnung und eilte endlich durch die Tür, den Vorraum, die nächste Tür.

Er schlitterte auf den Gang und schaute sich um. Auf der einen Seite das übliche Bild – elegant gekleidete Gäste, selten allein, meist zu zweit, in ihr Zusammen-Sein versunkene Paare, und noch öfter in laut plappernden, aufgedrehten Grüppchen.

Hammerstain unterdrückte einen Fluch und schaute in die andere Richtung. Da war sie. Sie hatte ihre Handtasche unter die Achsel geklemmt, lehnte an der Wand und richtete die Schnalle ihres hochhackigen Schuhs. Für einen Augenblick wirkte sie, als wäre sie soeben einer Seite eines Hochglanzmodemagazins entsprungen. Dann schritt sie weiter.

So ein Glück. Oder so ein Zufall. Oder so ein … Florian atmete tief durch. Er musste vorsichtig sein. Irgendwo in seinem Hinterkopf schrillte die Alarmglocke. Vielleicht hatte diese Frau auf ihn gewartet. Vielleicht war diese kurze Unterbrechung, um ein Riemchen festzuziehen, ganz genau kalkuliert, damit der Fisch nicht von der Angel ging. Sicherlich wäre es klüger, wenn er …

Hammerstain beschleunigte seinen Gang. In seinen Ohren dröhnte der schnelle, beinahe kriegerische Rhythmus der eigenen Schritte. Die Frau hatte es nun auch eiliger. Sie nahm ihr Täschchen in die Hand, verzichtete auf den lockenden Hüftschwung und schritt weit aus. Ihre Oberschenkel zeichneten sich unter dem Stoff des Kleides ab. Sie verschwand durch eine Seitentür. Hammerstain ließ alle Vorsicht fallen und warf sich Sekunden später gegen dieselbe Tür. Er befand sich in der Vorhalle.

Die Frau kannte sich hier aus, überlegte Florian, sonst hätte sie den großen Hauptausgang gewählt. Er blickte sich um – hohe Säulen, zwei Galerien übereinander, Kristallgebirge der Kronleuchter, die von der hohen Decke hingen, Marmorglanz, schimmerndes Metall, Gruppen von Besuchern, die schwatzend zusammenstanden. Unübersichtlich. Weit mehr als hundert Personen. Ständiges Kommen und Gehen.

Wo zum Geier war sie? Hammerstain ließ seine Blicke an den Ausgangstüren entlang springen. Keine Spur. Ein Dutzend Frauen mit ähnlichen Frisuren, aber nicht diejenige, die er suchte. Er drängte sich zwischen den Gruppen und Grüppchen und Paaren durch und war an der Tür. Eine breite Treppe führte zum Vorplatz hinunter.

Dort war sie. Im Licht einer Reklame schimmerte das Kleid. Sie nahm sich wieder Zeit und schlenderte gemächlich in Richtung einer der Seitenstraßen.

Während Hammerstain die Treppe hinunterhetzte, hörte Florian die innere Alarmglocke lauter und lauter schrillen. Das war alles so offensichtlich! Sie hatte ihn durch den Seiteneingang in die Vorhalle gelockt. Kaum einer der anderen Gäste benutzte diesen Zugang, und außerdem war er nur Sekunden nach der Frau dort aufgetaucht. Jeder, der hinter einer Säule oder auf einer Galerie gewartet hatte, konnte erkennen, dass er hinter der Frau her war. Oder dass die Frau ihn im Schlepptau hatte. Dass sie ihn präsentierte: Schaut her, das ist der Kerl, den ihr euch vorknüpfen sollt.

Und dieser jeder oder vielmehr dieser jemand oder vielleicht diese jemande saßen ihm nun also im Nacken. Und jetzt benahm er sich auch noch wie ein absoluter Volltrottel und folgte dieser Unbekannten in eine enge, dunkle, unbelebte Seitenstraße, als würde er sich freiwillig in die Ecke stellen und ´Verprügelt mich!` rufen. Wenn sie nur das vorhatten und nicht gleich zum Messer griffen, um ihn auf Ex zu setzen.

Hammerstain hatte keinen Plan. Warum auch – er hatte nie einen Plan. Und wenn er einen hatte, dann wollte er diese Frau einfach am Arm packen und sie fragen: »Woher kennen wir uns?« Er würde vielleicht eine Ohrfeige kassieren oder einen empörten Blick, keine Antwort jedenfalls, aber er musste es versuchen, denn dieser Name, den er auf der Zunge spürte und den er nicht hinausbringen konnte, erstickte ihn. Er hatte keine Wahl.

Kurz blickte er sich um und sah aus den Augenwinkeln andere Gäste die Stufen hinabeilen. Gruppen, Paare. Und einzelne Personen. Dieser vier Männer, die sich nicht zu beachten schienen, die aber in exakter Abstimmung zueinander die Treppe nach unten schritten. Gleicher Abstand. Wie die Maschen eines Netzes, das sich um den Fang schließt. Die könnten es sein. Möglich. Er würde es herausfinden. Zwangsläufig.

Hammerstain erreichte den Platz, kam leicht ins Stolpern und fing sich wieder. Die Männer hinter ihm hatten noch immer denselben Abstand, als wären sie wie eine einzige Person ebenfalls gestolpert.

Die Frau bog in die Seitengasse ein. Im Vergleich zu dem weiten, hell erleuchteten Platz wirkte sie wie eine enge schwarze Schlucht. Hier waren die Rückseiten der Geschäftshäuser, die Fassaden waren unbeleuchtet. Weiter hinten blinkten die Reklamen von einigen Bars und Vergnügungsschuppen. War das ihr Ziel? Oder war sie Selbstfahrerin und hatte ihren Wagen hier geparkt?

Die Frau verschwand im Dunkeln, aber das Hämmern ihrer hohen Absätze war deutlich zu hören und zog Hammerstain weiter. Zu spät drehte er den Kopf, zu spät kam das Geräusch von Schritten an seine Ohren. Sie waren hinter ihm, die vier Männer, die er in Verdacht gehabt hatte. Da hatte ihn sein Instinkt nicht getrogen. Das Wissen konnte ihn nicht befriedigen. Er saß in der Falle, auch das wusste er.

Hammerstain begann zu laufen. Zuerst war es beschleunigter Schritt, dann rannte er und hinter ihm hämmerten die Schritte der Verfolger. Auch sie rannten. Und sie rannten schneller als er, nahmen ihm Meter und Meter ab. Hammerstain schnappte nach Luft. Er verfluchte die Zigarren und Zigaretten und den Alkohol, die ihm die Kraft geraubt hatten und ihn nun so hilflos, langsam und unbeweglich machten wie einen harpunierten Wal.

Er warf sich zur Seite, drängte sich zwischen den parkenden Wagen hindurch. Schwerer Fehler, er wusste es, noch bevor er die Aktion startete. Die Kerle hinter ihm setzen mit einem Sprung über die Motorhauben und waren schon auf der Fahrbahn.

Ein Motor heulte auf, dröhnte in hohen Drehzahlen, starke Scheinwerfer blendeten auf und verwandelten die Gasse in ein Wirrwarr aus greller Helligkeit und kantigen Schatten. Geblendet wankte Hammerstain auf der Fahrbahn weiter. Er konnte die Verfolger nicht hören, weil das Motorengeräusch wie eine Lawine aus Kieseln zwischen den Fassaden entlang tobte. Aber er spürte sie und den einen konnte er sehen, wie er scheinbar schwerelos über eine Motorhaube hinwegsetzte.

Hammerstain rannte über das unebene Kopfsteinpflaster, auf den Wagen zu, der seinerseits beschleunigte. Er wurde geblendet, aber wenn er sich im richtigen Moment fallen ließ und sich unter ein Auto rollte, dann … es war Unfug. Rennen, solange es noch geht. Hammerstain mühte sich mit verzerrtem Gesicht weiter, drängte sich dann an die Seite, als der Wagen kam. Aber die schwere Limousine hielt nicht, sondern raste vorbei. Die drei Männer spritzten von der Fahrbahn zur Seite. Dann radierten die Reifen kreischend über das Pflaster. Krachend wurde der Rückwärtsgang eingeworfen, der Wagen jagte zurück und bremste neben Hammerstain. Zwei Türen wurden aufgerissen, Hammerstain sah nichts mehr, sondern schlug nur um sich, aber ein Arm legte sich von hinten um seinen Hals, er wurde umgerissen, seine Beine gepackt und dann wurde Hammerstain wie ein Sack in den Fonds des Wagens geworfen.

Florian erkannte im Licht der Deckenlampe ein Paar bestens geputzter Schuhe, die auf dem roten Teppich standen. Er rappelte sich hoch, musste sich festhalten, weil der Wagen quietschend um eine Ecke schlidderte, und ließ sich auf die zweite Bank, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, fallen.

Er starrte auf die birnenförmige Gestalt im Maßanzug, die ihm gegenübersaß.

»Wietold«, murmelte Florian, »wenn das kein Zufall ist.«

»Für dich wohl ein glücklicher solcher«, sagte Wietold, »oder war es Zufall, dass dir drei Pistolenschwinger direkt im Nacken saßen?«

Hammerstain richtete sich auf. »Um genau zu sein, waren es vier. Und ich nehme an, es war kein Zufall.«

»Du wolltest an der Ostsee Urlaub machen.«

»Das galt, bevor es sich in Berlin ausgezuckert hatte. Und selber? Ist das hier dein mobiles Hauptquartier, wenn du mal wieder die Konkurrenz aufmischst und der Nummer Eins ein Stück näher kommst.«

Wietold beugte sich vor. Seine dunklen Augen unter den buschigen Brauen tasteten unruhig Hammerstains Gesicht ab.

»Du weißt wirklich gar nichts mehr, oder?«

»Was soll ich wissen.«

»Ich habe keine vierzehn Tage Zeit, um dich auf den Stand zu bringen, den du selbst haben solltest, weil es um dich geht. Ich sag dir nur eines – verschwinde und zwar schleunigst. Ich bin auch weg. Hier wird mir der Boden zu heiß. Diese Stadt war schon immer ein wenig meschugge und wirr im Kopf, aber jetzt dreht sie völlig durch.« Wietolds Zeigefinger klopfte auf Hammerstains Knie. »Hau ab, sonst bist du fällig. Ich kann nämlich nicht immer die Kavallerie spielen.«

»Ich bin sowieso bald verschwunden«, sagte Florian, »aber ich muss was erledigen. Und die Levinsohn braucht meine Hilfe.«

»Vergiss die Levinsohn. Sie hat keine Chance. Ich sag dir, es läuft jetzt schon das Verfahren, ein Reichsschutzgericht einzusetzen. In zwei, drei Tagen ist das Verfahren durch, dann wird die Schlampe kassiert und in einer Woche gibt es sie zweiteilig. Wahrscheinlich öffentliche Hinrichtung, aber Hinrichtung auf jeden Fall. Wo soll ich dich raussetzen?«