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Die Tauscher 12

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 12

Vor ihnen lag eine gerade, freie Strecke und Fräulein Levinsohn gab wieder Gas. Florian wurde in den Sitz gepresst und bemühte sich hektisch, seine verkrampften Finger zu lockern, um sie wieder an den Griff zu bekommen.

Im nächsten Moment musste er sich abstützen, denn der Wagen bremste schlingernd und bog durch ein Tor auf einen Kiesplatz ab. Das Sanatorium Seelensonne residierte in einem ehemaligen Palast. Das Gebäude war geschmacklos, aber eindrucksvoll. Vor dem Eingang stützen sechs Säulen einen tempelartigen Dreiecksgiebel. Die Fassade strahlte in der Sonne.

Fräulein Levinsohn hielt vor der Eingangstreppe. Sie schaltete die Zündung aus, ließ den Motor mit einem letzten Gasstoß röhren und zog die Handbremse an. Kaum waren sie ausgestiegen, als ein Mann in Anzug und Hut um die Ecke bog und auf den Wagen zustürmte.

»Welche Musik«, rief er mit einem schwer verständlichen Akzent, »welche mechanische Symphonie von Kolben, Ventilen und Zylindern.«

Freudestrahlend stellte er sich vor den Wagen, seine Hände fuhren in der Luft die Linien der Karosserie ab.

Hinter ihm tauchte ein junger Mann mit Ringerfigur auf, der weiße Kittel flatterte um sein Beine.

»Herr Manetti, Sie können nicht einfach die Gesprächsrunde verlassen«, rief er.

Herr Manetti warf sich in die Brust. »Papperlapapp, Blablabla – das hier ist kein Gespräch, dieses hier ist eine Aussage, eine Feststellung, ein Befehl. Dies ist das, was so sein soll, wie es ist und ich muss es bewundern.«

Der junge Mann wollte zu Manetti treten und Florian sah schon, dass er zu einem Ringergriff ansetzte. Aber Fräulein Levinsohn trat ihm in den Weg und erklärte, sie seien gekommen, um mit einem der Anstaltsleiter zu reden und seien angemeldet.

Der junge Mann blickte zweifelnd auf Herrn Manetti, der weiterhin mit zärtlichen Gesten die Luft um den Wagen streichelte.

»Im Grunde ist er harmlos«, erklärte der Pfleger mit gesenkter Stimme. »Er ist hier, weil er die Nike von Samothrake mit einer Handgranate in die Luft sprengen wollte. Mitten im Louvre, stellen Sie sich das nur vor! Ich kann Sie begleiten, aber vielleicht gibt es dann Kussspuren auf dem Lack oder er leckt über die Ledersitze. Mehr macht er bestimmt nicht, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

»Gehen wir!«, entschied Fräulein Levinsohn, »wenn er über die Abgasrohre schleckt und sich die Zunge verbrennt, ist das zumindest nicht mein Problem.«

Sie rauschte auf die Gebäudeecke zu, fast so schnell, wie sie gefahren war, nur etwas leiser. Der Pfleger schloss sich an und Florian kam hintendrein. Als er an der Ecke einen Blick zurückwarf, beugte sich Manetti über die Motorhaube und sog genießerisch den Geruch der Maschine ein.

Sie betraten eine weite Wiese mit einigen alten Eichen. Das Hauptgebäude zog sich als hohe, schmucklose Fassade an der Seite entlang. Hinten standen einige Einzelgebäude unterschiedlicher Größe. Über die Wiese verteilt saßen Gruppen um Tische herum, man spielte Federball, andere saßen hinter ihren Staffeleien, lasen oder dösten in Klappsesseln, die auch auf ein Ozeanschiff gepasst hätten. Die weißen Gestalten von Pflegerinnen und Pfleger eilten über das Gras, dazwischen waren die weniger eiligen Weißkittel, wahrscheinlich die Doktoren. Florian suchte den Rand der Wiese ab, die durch Hecken umgrenzt war. Tatsächlich, ganz kurz waren zwei Männer sichtbar. Sie trugen keinen weißen Kittel, sondern eine Art Uniform und sie hatten Hunde bei sich.

»Wir versuchen, den Spagat zwischen notwendiger Aufsicht und wünschenswerter Freiheit unaufdringlich zu vollführen«, erklärte der Arzt, zu dem sie der Pfleger führte. Er sah jung aus und wirkte etwas nervös. Schon im ersten Satz machte er deutlich, dass er nur ein Unter ferner liefen-Angestellter war und dass die maßgeblichen Personen zur Zeit leider nicht anwesend waren.

Fräulein Levinsohn schwankte zwischen Empörung und Enttäuschung. Aber sie warf Florian einen schnellen Blick zu, der ihm klar machte: Sie hatte es vorher gewusst.

»Nun, dann gestatten Sie wenigstens, dass wir uns hier ein wenig umsehen«, sagte die Levinsohn ungnädig. Der Arzt nickte Zustimmung und war froh, wieder zu seinem Gesprächskreis im Baumschatten zu kommen.

Fräulein Levinsohn und Florian wanderten langsam über das Gelände. Sie fielen nicht auf, weil sich alle Patienten – die der Arzt Gäste genannt hatte – auch in normaler Kleidung bewegten. Hätte es diese weißen Gestalten nicht gegeben, man hätte sich im Garten eines exklusiven Hotels geglaubt.

»Haben Sie die Männer mit den Hunden an der Hecke gesehen?«

»Habe ich nicht«, antwortete die Levinsohn, »aber die Frage ist doch, auf wen die aufpassen sollen. Auf die Leute hier drinnen oder auf die Leute da draußen. So wie ich es sehe, sind die Patienten alle freiwillig hier. Das ist keine Klapsmühle, sondern ein Sanatorium, für das man gewaltig löhnen muss.«

»Sanatorium oder Trainingslager«, überlegte Florian. Spontan wandte er sich an einen Arzt, der gerade einige Aquarelle eines Gastes betrachtete und fragte nach dem Institut für seelische Amelioration. Der Arzt schüttelte den Kopf, war über die Frage aber nicht verwundert. Er deutete auf die Gebäude im Hintergrund. »Dort ist die Forschungsanlage und einige Institute. Aber wir hier vorne haben keinen Überblick, um ehrlich zu sein. Das fällt voll in den Bereich der Leitung. Und von denen ist heute keiner da.«

Fräulein Levinsohn stieß Florian an. »Da ist er.« Er folgte ihr zu der einsamen Gestalt, die etwas abseits saß und gerade den Aquarellpinsel in einem Glas reinigte. Vor sich hatte er eine Staffelei. »Herr Hüttner«, rief Fräulein Levinsohn enthusiastisch, »welch ein Zufall, dass wir Sie hier sehen. Wir sind solche großen Bewunderer Ihrer Kunst!«

Der Angesprochene schaute sie an. Seine blauen Augen waren leer, als ob sie aus Glas wären und sich nur ein Spiegel hinter ihnen befände. Aber auf seinem Gesicht drückte sich Verwirrung aus. Hinter dem Baumstamm, an dem er gelehnt hatte, schob sich ein Pfleger ins Blickfeld. Mit vor der Brust gekreuzten Armen beobachtete er die Szene aus einiger Entfernung.

Florian umrundete die Staffelei und betrachtete das Bild. Es zeigte eine ländliche Szene mit einem etwas windschiefen Bauernhaus, einem Kirchturm im Hintergrund, Tieren und Menschen in altertümlicher Tracht. Eine Postkutsche war angekommen, Reisende stiegen aus und wurden freundlich begrüßt. Alles wirkte nett, idyllisch, ein wenig naiv und so, als wäre es vor zweihundert Jahren gemalt worden.

»Prominenter Gast«, bemerkte Florian zu dem Pfleger.

»Zu prominent für meinen Geschmack«, antwortete der, »ich war gerade drei Tage hier und schon muss ich auf einen Kerl mit diesem Bekanntheitsgrad aufpassen. Das macht mich nervös.«

»Ist er gewalttätig oder so?«

»Nicht mehr«, sagte der Pfleger, »aber er ist irgendwie unberechenbar. Anfangs wirkte er so, als würde er einem im nächsten Moment an die Kehle springen. Stiefelte durch das Gelände und hielt brüllende Reden und ich immer hinterher. Und dann war er wie ausgewechselt. Keine Ahnung, was die dem verabreicht hatten. Plötzlich war er nett und friedlich. Sprach mit den anderen Gästen und hatte Spaß daran, mit ihnen so eine Art Massenchoreographie zu machen, richtig. Und er wollte malen und Musik hören – am Anfang hatte mir Hüttner das Grammophon hinterhergeworfen und wollte nicht mal Strichmännchen auf eine Serviette malen. Sogar seine Schuhgröße hat sich verändert. Ich wollte es nicht glauben, aber er fiel heute ständig auf die Nase, weil er in den Schuhen schlappte.«

Die beiden Männer näherten sich langsam dem sitzenden Hüttner und Fräulein Levinsohn, die sich angeregt unterhielten.

»Herr Hüttner, Sie sollten in die Politik gehen«, sagte die Levinsohn gerade, »Ihre Malerei ist vielleicht etwas zu konventionell für die heutige Zeit, damit könnten Sie bestenfalls Postkarten schmücken. Und Ihre Bücher sind wiederum zu unkonventionell und – sagen wir von etwas gewöhnungsbedürftiger Tendenz. Diese ganzen Grausamkeiten, diese Kriege und diese ganzen Abmurksereien – ich meine, was soll das, wir leben doch im Jahr 1944, da passen solche Unmenschlichkeiten nicht mehr in die Zeit, auch wenn es sich um Literatur handeln soll. Um ehrlich zu sein – ich halte Sie für einen sehr durchschnittlichen Literaten. Aber als Politiker könnten Sie Erfolg haben. Ihre Veranstaltungen werden bestens besucht, Sie können die Menschen mit Ihren Visionen begeistern, in der Politik könnten Sie viel Gutes bewirken.«

Hüttner starrte sie mit seinen leeren Augen an. Sein Bart zitterte. Dann spritzte er hoch. »Ich bin Künstler und ich bleibe Künstler, weil die Vorsehung dies will!«, rief er mit kehliger Stimme, sank im nächsten Moment zusammen und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, rief der Pfleger Fräulein Levinsohn zu. »Herr Hüttner muss weinen.«

»Wenn Sie wüssten, was diese Dame Männern so antun kann, wären Sie mit diesem Zwischenfall noch glücklich«, grinste Hammerstain.

Fräulein Levinsohn wurde stocksteif, richtete sich auf und stemmte die Arme in die Hüften. Ihr Mund öffnete und schloss sich, aber eine entsprechende Antwort wollte nicht in die Richtung des grinsenden Gesichts von Silwester Hammerstain gelangen. Schließlich stieß sie ein mäßiges »Sie blöder Doofmann!« hervor und stürmte vom Gelände.

Florian klopfte dem weinenden Hüttner auf die Schulter. »Sie sollten immer Künstler bleiben, auf keinen Fall Politik«, sagte er, »aber vielleicht überlegen Sie einmal, ob sich der Film mit seiner Massenwirkung nicht für Ihr Genie eignen würde. Ich meine diese Monumentalfilme, wo große Mengen an Statisten dirigiert werden müssen.«

Hüttner stieß ein letztes Schluchzen aus und blickte auf. Zum ersten Mal waren seine Augen nicht leer, sondern mit Interesse gefüllt. »Film?«, murmelte Hüttner und wandte sich dann schüchtern an den Pfleger, »ob ich wohl eine kleine Kamera bekommen könnte?«

Florian folgte Fräulein Levinsohn, aber weil er eine Reihe tanzender und sich an den Händen haltender Gäste vorbeilassen musste, verlor er sie aus den Augen.

Er umrundete die Gebäudeecke, als der Motor aufbrüllte und sie an ihm vorbeijagte. Ohne zu überlegen sprang Florian auf das Trittbrett und hielt sich am Handgriff an der Frontscheibe fest.

Er wollte sich auf den Sitz schwingen, aber Sara Levinsohn beschleunigte mit allem, was der Wagen hergab und Florian konnte nur mit der freien Hand nach der Tür greifen und sich festklammern. Der Wagen schoss durch eine zweite Einfahrt direkt auf die Straße und jagte auf ihr entlang. Ein Blick zurück zeigte Florian die kleiner werdende Gestalt Manettis, der den Hut schwenkte und begeistert in die Luft sprang.

Fräulein Levinsohn starrte verbissen nach vorne, die Hände am Lenkrad, den Kopf vorgestreckt. Auf ihrem Gesicht war deutlich zu lesen Für Gespräche nicht zu haben. Florian drückte sich gegen die Tür. Durch die Schuhsohlen spürte er die Hitze, die die Abgasrohre dem Trittbrett mitteilten. Der Fahrtwind brüllte in seinen Ohren und zerrte an seinem Anzug, zum Glück war der Hut beim Aufspringen hinter den Sitz gefallen. Der Wagen näherte sich der Höchstgeschwindigkeit, die Hecken am Straßenrand verwischten sich zu farbigen Strichen. Insekten knallten gegen Florians Schläfe wie Geschosse. Die Kurve am Ende der Straße stürzte auf sie zu. Es war ein enge Kurve, in der die Straße im rechten Winkel abknickte. Die Reifen holperten über geflickte Stellen und heulten dann wieder über den glatten Asphalt. Florian machte sich bereit. In der nächsten Sekunde musste die Levinsohn in die Bremsen steigen, denn die Kurve war bestenfalls für Schrittgeschwindigkeit gut. Und jetzt war auch erkennbar, dass die alte Eiche, die diese Kurve regierte, schon öfter Blechkontakt gehabt hatte.