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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aëlita – Teil 14

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Jenseits der gezackten Berge

Das Luftschiff flog in geringer Höhe über dem Mars in nordwestlicher Richtung. Losj und der kahlköpfige Marsianer blieben an Deck. Gussew war mit den Soldaten ins Innere des Schiffes gegangen.

In der hellen, strohfarbenen Deckkabine setzte er sich in einen Korbstuhl und schaute eine ganze Weile auf die spitznasigen, schmächtigen, kleinen Soldaten, die wie Vögel mit ihren rötlichen Augen blinzelten. Dann holte er sein uraltes Zigarettenetui aus Blech hervor – sieben Jahre lang hatte er sich an allen Fronten nicht von ihm getrennt – und klopfte auf den Deckel. »Wollen wir rauchen, Genossen«, sagte er und bot Zigaretten an.

Die Marsianer schüttelten erschrocken die Köpfe. Einer nahm immerhin eine Zigarette, betrachtete und beroch sie, steckte sie sodann in die Tasche seiner weißen Hose. Als Gussew jedoch anrauchte, rückten sie in größter Furcht von ihm weg und flüsterten: »Schocho, tao tawra, schocho-om.«

Ihre rötlichen Gesichter verfolgten mit Entsetzen, wie der »Schocho« den Rauch schluckte. Doch allmählich gewöhnten sie sich an den Geruch und beruhigten sich. Sie setzten sich auch wieder zu dem Menschen.

Gussew, den seine Unkenntnis der marsianischen Sprache wenig genierte, begann seinen neuen Freunden von Russland zu erzählen, vom Krieg, von der Revolution und von seinen Heldentaten: »Gussew – das ist mein Familienname. Gussew kommt her von Gusj, Gans. Es gibt solche mächtigen Vögel auf der Erde, so was habt ihr euer Lebtag nicht gesehen. Und ich heiße Alexej Iwanowitsch. Ich habe nicht nur ein Regiment, sondern auch eine Kavalleriedivision kommandiert. Ich bin ein schrecklicher Held, ein ganz großer. Meine Taktik ist so: mit oder ohne Maschinengewehre – vorwärts mit dem blanken Säbel: ›Wollt ihr die Stellung räumen, ihr Hundesöhne!‹ und dreingeschlagen. Ich selber bin auch ganz zerhauen, darauf pfeife ich. In unserer Kriegsakademie wird sogar eine besondere Vorlesungsreihe gehalten: ›Alexej Gussews Kampfmethode‹. Ihr glaubt es nicht? Ein Armeekorps ist mir angetragen worden.« Gussew schob mit dem Fingernagel die Mütze zur Seite und kratzte sich hinter dem Ohr. »›Nein, entschuldigen Sie, ich hab es satt! Sieben Jahre lang habe ich gekämpft, das hängt schließlich jedem zum Halse heraus.‹ Und da ruft mich gerade Mstislaw Sergejewitsch, er fleht mich an: ›Alexej Iwanowitsch, ohne Sie muss ich womöglich auf den Mars verzichten.‹ Na also, guten Tag.«

Die Marsianer hörten zu und staunten. Einer brachte eine Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit, die nach Muskat roch. Gussew holte aus seinem Sack eine halbe Flasche Sprit hervor, die er von der Erde mitgenommen hatte. Die Marsianer tranken und wurden redselig. Gussew klopfte ihnen auf den Rücken und lärmte. Dann zog er allerhand wertloses Zeug aus den Taschen und schlug vor, zu tauschen. Die Marsianer gaben ihm mit Freuden kleine Goldsachen für ein Federmesser, einen Bleistiftstummel, für ein merkwürdiges, aus einer Gewehrpatrone hergestelltes Feuerzeug.

Zur selben Zeit blickte Losj, auf das Gitter der Bordwand gestützt, hinab auf die traurige, unter ihm dahingleitende Ebene. Er erkannte das Haus, in dem sie gestern gewesen waren. Überall waren ebensolche Ruinen und Bauminseln, überall zogen sich ausgetrocknete Kanäle hin.

Er zeigte auf die Wüstenei, und sein Gesicht drückte Erstaunen aus, warum dieses ganze Gebiet verlassen und tot sei.

Die vorgewölbten Augen des kahlköpfigen Marsianers wurden plötzlich böse. Er gab ein Zeichen, und das Luftschiff stieg höher, beschrieb einen Kreis und flog nun den Gipfeln der gezackten Berge zu.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, die Wolken waren verschwunden. Die Propeller heulten, beim Wenden und Aufsteigen knarrten, sich bewegend, die biegsamen Flügel, surrten die vertikalen Luftschrauben. Losj bemerkte, dass außer dem Surren der Schrauben und dem Pfeifen des Windes in den Flügeln und den geschlitzten Masten keine Laute zu hören waren. Die Maschinen arbeiteten geräuschlos. Von den Maschinen selbst war auch nichts zu sehen. Nur an der Achse jeder Luftschraube drehte sich eine runde Trommel, die der Hülle eines Dynamos ähnlich sah, und auf den Spitzen des vorderen und des hinteren Mastes knisterten zwei elliptisch geformte Körbe aus silbern glänzendem Draht.

Losj fragte den Marsianer nach dem Namen der Gegenstände und schrieb sie auf. Dann nahm er das kleine Buch mit den Werkzeichnungen, das er sich gestern eingesteckt hatte, aus der Tasche und bat, ihm die Laute der geometrischen Buchstaben vorzusprechen. Der Marsianer blickte staunend auf dieses Buch. Und wieder wurden seine Augen kalt, seine schmalen Lippen kräuselten sich verächtlich. Er nahm Losj das Buch vorsichtig aus der Hand und warf es über Bord.

Die dünne Luft in dieser Höhe verursachte Losj Schmerzen in der Brust, und Tränen traten ihm in die Augen. Als der Marsianer dies bemerkte, gab er das Zeichen, tiefer zu fliegen. Das Luftschiff flog jetzt über blutrote nackte Felsen. Ein gewundener breiter Bergkamm zog sich von Südosten nach Nordwesten. Der Schatten des Schiffes glitt über zerklüftete Abgründe, an deren Wänden Adern von Erzen und Metallen funkelten, über abschüssige, moosbewachsene Berghänge, stürzte in neblige Schlünde, verdeckte als kleine Wolke eisglitzernde Bergspitzen und spiegelnde Gletscher.

»Lysiasira«, sagte der Marsianer, mit einer Neigung des Kopfes auf die Berge hinweisend, und entblößte kleine, metallisch blitzende Zähne.

Beim Hinabschauen auf die Felsen, die ihn so traurig an die tote Landschaft des geborstenen Planeten erinnerten, erblickte Losj in einem der Abgründe auf den Steinen den umgestürzten Rumpf eines Luftschiffes. Bruchstücke aus einem silbrigen Metall lagen ringsumher. Weiter weg ragte hinter einem Felsgrat der zerbrochene Flügel eines zweiten Schiffes in die Luft. Rechts, durchbohrt von einer granitenen Bergspitze, hing ein drittes, völlig verstümmeltes Luftschiff. Überall waren in dieser Gegend Reste riesiger Flügel, zerschlagene Schiffsrümpfe, ragende Rippen zu sehen. Dies war der Ort einer Luftschlacht, und es schien, als seien Dämonen auf diese unfruchtbaren Felsen hinabgestürzt worden.

Losj warf einen Seitenblick auf seinen Nachbarn. Der Marsianer saß und blickte ruhig zum Himmel hinauf, den Mantel am Hals festhaltend. Zu einer langen Reihe auseinandergezogen, flogen große, langflügelige Vögel dem Luftschiff entgegen. Jetzt flogen sie höher hinauf, ihre gelben Flügel leuchteten in dem dunklen Blau, sie änderten die Richtung. Als Losj ihren wieder abwärtsgehenden Flug folgte, erblickte er das schwarze Wasser eines runden Sees, der tief unten zwischen den Felsen lag. Krause Büsche säumten seine Ufer. Die gelben Vögel gingen dicht am Wasser nieder.

Nun begann sich das Wasser auf dem See zu kräuseln, es sprudelte, und aus seiner Mitte erhob sich ein starker Wasserstrahl, sprühte nach allen Seiten und versank wieder.

»Soam«, sagte der Marsianer feierlich. Der Gebirgskamm endete jetzt. Im Nordwesten konnte man durch die schwankenden, durchsichtigen Glutwellen hindurch eine kanariengelbe Ebene sehen, große Wasserflächen glänzten auf. Der Marsianer streckte die Hand gegen die wundersame, neblige Ferne aus und sagte mit einem Lächeln: »Azora.«

Das Luftschiff stieg ein wenig höher. Eine feuchte, süße Luft schlug ihnen ins Gesicht, rauschte in den Ohren. Azora breitete sich als eine leuchtende weite Ebene vor ihnen aus. Sie war durchzogen von wasserreichen Kanälen und bedeckt von orangefarbenen buschartigen Gewächsen, von lustigen kanariengelben Wiesen; Azora – was Freude hieß – ähnelte jenen bunten Frühlingswiesen der weit zurückliegenden Kindheit, an die man sich im Traum erinnert.

Breite Barken aus Metall schwammen auf den Kanälen. An deren Ufern verstreut, standen weiße Häuschen in Gärten mit gewundenen Wegen. Überall krochen die kleinen Gestalten der Marsianer umher. Manche stiegen von den flachen Dächern gleich Fledermäusen auf und flogen über das Wasser oder hinter einen Hain. Zwischen den Wiesen blitzten Wasserlachen, glitzerten Bäche. Azora war ein herrliches Land.

Am Ende der Ebene kräuselte sich, von der Sonne beschienen, eine ungeheure Wasserfläche, auf die die gewundenen Linien sämtlicher Kanäle zuliefen. Das Schiff flog in diese Richtung, und Losj erblickte endlich einen großen schnurgeraden Kanal. Sein anderes Ufer versank im feuchten Dunst. Seine trüben, gelblichen Wassermassen flogen langsam an der steinernen Böschung entlang.

Sie flogen lange. Und nun begann sich am Ende des Kanals aus dem Wasser der gleichmäßige Rand einer Mauer zu erheben, die sich bis weit hinter den Horizont erstreckte. Die Mauer wuchs. Jetzt waren bereits ihre ungeheuren Quadern zu sehen, in deren Spalten sich Sträucher und Bäume angesiedelt hatten. Sie näherten sich einem gigantischen zirkusähnlichen Bau. Er war angefüllt mit Wasser. An seiner Oberfläche stiegen an vielen Stellen schäumende Fontänen auf.

»Ro«, sagte der Marsianer und hob würdevoll den Zeigefinger.
Losj zog sein Notizbuch aus der Tasche, suchte und fand die gestern eilig hingeworfene Skizze der Linien und Punkte auf der Marsscheibe. Er hielt die Zeichnung seinem Nachbar hin und wies hinunter auf die Zisterne. Mit gerunzelter Stirn betrachtete der Marsianer aufmerksam die Skizze, begriff schließlich und nickte freudig. Mit dem Nagel seines kleinen Fingers merkte er einen der Punkte auf der Zeichnung an.
Losj beugte sich über Bord und sah, dass von der Zisterne zwei gerade und eine gebogene Linie ausgingen. Das waren mit Wasser gefüllte Kanäle. So war also das Geheimnis geklärt. Die runden Flecke auf der Marsscheibe waren Zisternen – Wasserbehälter, die Linien der Dreiecke und Halbkreise Kanäle. Aber was für Wesen konnten diese zyklopischen Mauern gebaut haben? Losj sah sich nach seinem Gefährten um. Der Marsianer streckte die Unterlippe vor und hob die ausgebreiteten Arme gen Himmel: »Tao chazcha ro chamagazitl.«
Das Luftschiff überquerte jetzt eine ausgebrannte Ebene, von der sich als rosenroter, überaus breiter, blühender Streifen das wasserlose Bett eines vierten Kanals abhob. Er war in regelmäßigen Reihen von einer offenbar ausgesäten Vegetation bedeckt. Wahrscheinlich war das eine der Linien des zweiten, sich weniger deutlich abzeichnenden Kanalnetzes auf der Scheibe des Mars.
Die flache Ebene ging in leicht geschwungene, nicht sehr hohe Hügel über. Dahinter traten jetzt die bläulichen Umrisse von Türmen mit gitterartigen Mauern hervor. Auf dem mittleren Mast des Schiffes hoben sich wieder die Drahtenden und sandten knisternd Funken aus. Immer neue Konturen von gitterartig durchbrochenen Türmen und abgestuften Gebäuden erhoben sich hinter den Hügeln am Horizont. Aus dem Sonnenglast traten die silbrigen Schatten einer ungeheuren Stadt hervor.
Der Marsianer sagte: »Soazera.«