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John Tanner – Das Leben eines Jägers 39

John Tanner
Das Leben eines Jägers
oder
John Tanners Denkwürdigkeiten über seinen 30-jährigen Aufenthalt unter den Indianern Nordamerikas
Erstmals erschienen 1830 in New York, übersetzt von Dr. Karl Andree

Neunundreißigstes Kapitel

Ich nahm diesmal den Weg nach dem Wälder-See über den Be-gwi-o-nus-ko-se-be, und reiste teils zu Lande und teils zu Wasser. Wenn man den schlimmen Fluss hinauffahren will, kann man vermittelst des Störflusses und eines Tragplatzes eine beträchtliche Wegstrecke sparen. An der Mündung des Störflusses befand sich damals ein Dorf oder Lager, das aus etwa sechs oder sieben Hütten bestand. Zu der Gruppe, welche dort wohnte, gehörte ein junger Mensch, namens Ome-zhuh-gwut-oons, der einige Zeit vorher auf Befehl des Herrn Cote abgeprügelt worden war, weil er entweder wirklich in der Nähe des Kontors sich schlecht betragen hatte oder doch im Verdacht stand, sich unnütz gemacht zu haben. Deshalb hegte er tiefen Hass. Als er von meiner Reise hörte, stieß er mit seinem kleinen Kanu zu mir.

Dieser Mensch drängte sich auf eine befremdliche Art an mich und behauptete, ein Verwandter von mir zu sein. Nachts blieb er bei uns und brach, wenn der Tag erschien, gemeinschaftlich mit mir auf. Als wir einst am Ufer haltmachten, bemerkte ich, dass er eine Gelegenheit suchte, eine meiner Töchter im Wald allein zu treffen. Sie kehrte etwas aufgeregt zurück. Im Laufe desselben Tages hatte ihre Mutter mehrmals vertrauliche Unterredungen mit ihr. Das junge Mädchen aber blieb sehr niedergeschlagen und schrie mehrmals laut auf.

Als wir gegen Abend anhielten, um zu lagern, entfernte sich der junge Mensch. Ich war dem Anschein nach sehr eifrig mit der Bereitung unseres Nachtlagers beschäftigt, verlor ihn aber keinen Augenblick aus den Augen. Plötzlich lief ich auf ihn zu und fand ihn mitten zwischen seinen Medizinen, welche er rings um sich ausgebreitet hatte. Er wickelte gerade eine etwa fünf Zoll lange Damhirschsehne um eine Kugel.

Ich sprach zu ihm: »Mein Bruder (denn so hatte er mich zuerst genannt), wenn es dir an Pulver, Kugeln oder Feuersteinen mangelt, so will ich dir geben, so viel du willst, denn ich habe genug.«

Er gab mir zur Antwort, daran mangle es ihm nicht, und ich ging zu meinem Lagerplatz zurück.

Jener blieb einige Zeit abwesend. Endlich kam er zurück, gekleidet und geschmückt wie ein Krieger, der in den Kampf zieht. Während der ersten Hälfte der Nacht überwachte er alle meine Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit und bestätigte den Argwohn, welchen ich bereits gegen ihn hegte, immer mehr. Er sprach indessen viel und noch dazu freundschaftlicher als jemals. Er forderte mir mein Messer ab, um, wie er sagte, ein wenig Tabak zu schneiden. Statt mir jedoch dasselbe wieder zu geben, steckte er es ein. Ich glaubte, er würde es mir wohl am nächsten Morgen zurückstellen.

Ich legte mich zum Schlafen nieder, denn ich wollte mir nicht den Anschein geben, als hege ich Verdacht gegen ihn. Ich hatte übrigens mein Zelt noch nicht aufgeschlagen. Mein einziger Schutz gegen das Wetter bestand in einem Stück bestrichenen Segeltuches, welches ich am Red River als Geschenk erhalten hatte. Ich legte mich auf die flache Erde, so jedoch, dass ich alle Bewegungen des jungen Mannes überwachen konnte. Da er mir gegenüber am Feuer saß, so bemerkte ich, dass er kein Auge schloss und gar keine Anstalten zum Schlafengehen traf. Als sich ein Sturm erhob, schien er unruhiger und ungeduldiger zu werden als bisher. Es fielen Regentropfen, und ich lud ihn deshalb ein, zu mir unter mein Obdach zu kommen. Das nahm er auch an. Der Platzregen wurde immer stärker und löschte unser Feuer aus. Bald danach wurden uns auch die Moskitos sehr lästig. Ome-zhuh-gwut-oons machte wieder Feuer an und hielt die Moskitos, mit einem Baumzweig wedelnd, von mir ab.

Ich fühlte wohl, dass ich nicht schlafen durfte. Allein endlich wurde ich doch sehr müde. Da kam ein neues Gewitter, das noch heftiger war, als das frühere. Es zuckte Blitz auf Blitz. Ich aber saß da, ohne mich zu bewegen oder die Augen weit zu öffnen, verwandte jedoch keinen Blick von dem jungen Mann, welcher, als ein sehr starker Donnerschlag ihn ängstigte, als Sühneopfer etwas Tabak in die Flamme warf. Ein anderes Mal, als mich der Schlaf beinahe übermannt hätte, sah ich, dass er auf mich wie eine Katze blickte, welche sich anschickt, über ihre Beute herzustürzen. Ich schlief aber nicht.

Wie gewöhnlich frühstückte er am anderen Morgen mit uns und reiste dann ab, ehe ich noch fertig war. Meine Tochter, mit welcher er im Wald gesprochen hatte, schien mir unruhiger als sonst und weigerte sich standhaft, ins Kanu zu steigen. Ihre Mutter gab sich indessen alle Mühe, sie zu beruhigen und versuchte mir alles zu verbergen. Endlich entschloss sich das Mädchen einzusteigen, und wir fuhren ab. Der junge Mensch ruderte eine kleine Strecke weit vor uns, bis etwa um zehn Uhr, dicht am Ufer hin. Plötzlich, als er an eine Stelle gekommen war, wo das Land weit in das schnellströmende Wasser hineinragt, erblickte ich weder ihn noch sein Kanu. Der Fluss mag auf jener Stelle etwa achtzig Klafter breit sein, und etwa zehn Ruten von der erwähnten Landspitze erhebt sich eine aus nacktem Fels bestehende Insel. Ich hatte mein Kleid abgelegt und ruderte mit großer Anstrengung gegen das heftig strömende Wasser. Dabei war ich gezwungen, mich nahe am Ufer zu halten. Plötzlich hörte ich ganz in meiner Nähe einen Schuss fallen. Die Kugel pfiff, es war, als säße sie mir in der Seite. Das Ruder fiel aus meiner rechten Hand, der Arm fiel mir am Leib nieder. Aus dem Gebüsch stieg Qualm auf. Ich erkannte deutlich den Ome-zhuh-gwut-oons, welcher davonlief.

Meine Töchter schrien laut auf, und ich bemerkte nun, dass das Kanu ganz blutig war. Ich versuchte mein Fahrzeug mit der linken Hand ans Ufer zu rudern und war erschlossen, den jungen Mann zu verfolgen. Allein die Strömung war zu stark für mich, und trieb uns nach der anderen Seite hin gegen das Felseneiland. Dort stieg ich an Land, zog das Kanu auf den Felsen und versuchte mein Gewehr zu laden. Als ich damit fertig war, fiel ich bewusstlos zu Boden. Endlich kam ich wieder zu mir selbst. Ich befand mich ganz allein auf der Insel. Das Kanu, in welchem meine Töchter saßen, schwamm stromabwärts und war kaum noch zu sehen. Ich wurde zum zweiten Male ohnmächtig, doch endlich kehrte mir das Bewusstsein zurück.

Ich vermutete, dass der Mensch, welcher nach mir geschossen hatte, sich noch irgendwo in der Nähe versteckt hielt, und untersuchte meine Wunden. Der rechte Arm war mir sehr beschädigt, und die Kugel, welche in der Nähe der Lunge eingedrungen war, im Körper stecken geblieben. Mein Zustand schien mir hoffnungslos zu sein. Ich rief Ome-zhuh-gwut-oons beim Namen und flehte ihn an, meinem qualvollen Leben ein Ende zu machen.

»Du hast nach mir geschossen«, rief ich aus. »Die Wunde ist zwar tödlich, aber ich lebe noch. Wenn du ein Mann bist, so komm und schieß noch einmal.« Ich erhielt jedoch keine Antwort.

Ich war beinahe nackt, denn als ich verwundet wurde, hatte ich nichts auf dem Leib als Beinkleider und ein ganz zerrissenes Hemd, von welchem während der mühseligen Arbeit des Ruderns mehrere Fetzen abgerissen worden waren. Ich lag da, den Sonnenstrahlen ausgesetzt, mit grün- und schwarzköpfigen Mücken bedeckt, auf einem nackten Felsen an einem Juli- oder Augusttag, mit der Aussicht, langsam dahinzusterben. Gegen Sonnenuntergang aber kehrten mit der Hoffnung auch einige Kräfte zurück, und ich schwamm ans andere Ufer. Als ich ans Land stieg, konnte ich auf den Füßen stehen und stieß zum Zeichen der Freude und der Verachtung das Sassakwi oder Kriegsgeschrei aus. Allein der Blutverlust, welchen ich infolge der Anstrengung beim Schwimmen erlitten hatte, verursachte mir abermals eine Ohnmacht.

Als ich wieder zu mir selbst kam, verbarg ich mich am Ufer, um meinen Feind zu beobachten. Bald danach sah ich, wie Ome-zhuh-gwut-oons aus seinem Versteck kam und sein Kanu flott machte, um den Fluss hinabzufahren. Er kam ganz in meiner Nähe vorüber, und ich fühlte einen mächtigen Drang, mich auf ihn zu stürzen, ihn zu packen und im Wasser zu erwürgen. Allein ich befürchtete, meine Kräfte mochten dazu nicht ausreichen, und ich ließ ihn vorbeifahren.

Bei mir stellte sich bald ein quälender Durst ein. Die Ufer des Flusses bestanden aus steilen Felsen. Mit meinem verwundeten Arm konnte ich mich nicht niederlegen, um zu trinken, sondern musste so tief ins Wasser gehen, dass es mir bis an den Mund reichte. Am Abend wurde es kühl, und ich bekam wieder einige Kräfte. Es floss aber viel Blut aus den Wunden und ich dachte deshalb daran, sie zu verbinden. Das Fleisch war schon bedeutend angeschwollen. Dennoch aber versuchte ich die Knochenstücke wieder einzurichten. Ich zerriss den Rest meines Hemdes in kleine Streifen, befestigte mit Hilfe der Zähne und der linken Hand diese Streifen um den rechten Arm und zog sie allmählich stärker an, bis dieser Verband fest saß. Kleine Holzstücke legte ich als Schienen an, und ließ den Arm in einem Seil ruhen, welches ich über den Hals geworfen hatte.

Als ich damit fertig war, schälte ich etwas Rinde von einem in der Nähe stehenden Baum, der wie ein Kirschbaum aussah, kaute dieselbe und legte sie, um den Blutfluss aufzuhalten, auf meine Wunde. Das Gesträuch und der Platz zwischen diesem und dem Ufer waren mit Blut bedeckt. Als es Nacht wurde, wählte ich eine mit Moos bewachsene Stelle als Lager, und ein Baumast ward mein Kopfkissen. Ich blieb vorsätzlich in der Nähe des Flusses, um alles, was vorging , beobachten und meinen Durst, falls derselbe sich wieder so heftig einstellen sollte, stillen zu können. Ich wusste, dass ein den Handelsleuten gehörendes Kanu, dessen Ankunft am Red River bereits gemeldet war, bald vorüberkommen musste, und von ihm erwartete ich Hilfe. Indianerhütten lagen in dieser Gegend nicht. Das nächste Dorf war jenes, in welchem Ome-zhuh-gwut-oons zu mir gekommen war. Ich hatte alle Ursache anzunehmen, dass mehrere Meilen weit in der Umgegend niemand anderes sich aufhielt als mein Mörder, meine Frau und meine Töchter.

Ich lag auf der Erde ausgestreckt und bat den großen Geist, einen Blick der Barmherzigkeit auf mich zu werfen und mir in diesem großen Unglück Hilfe zu senden. Während ich betete, fingen die Moskitos, welche in unzählbarer Menge meinen Körper bedeckten und mich durch ihre Stiche furchtbar quälten, an, sich zu erheben, flogen einige Zeit rings um mich herum und verschwanden endlich. Diese Linderung aber hielt ich nicht für eine unmittelbare Einwirkung des großen Geistes, als ob dieser dadurch meine Bitte gewährt hätte. Ich wusste vielmehr recht gut, dass diese Erscheinung ihren Grund in dem Erkalten der Luft hatte. Aber ich war wie stets, wenn ich mich in Unglück und Gefahr befand, davon überzeugt, dass der Herr meines Lebens, obgleich unsichtbar, doch in meiner Nähe war und über mich wachte. Ich schlief, ohne Schmerzen zu fühlen, ganz ruhig, allein nicht ohne Unterbrechung. Jedes Mal, wenn ich erwachte, glaubte ich im Traum ein Kanu mit weißen Männern auf dem Fluss gesehen zu haben.

Als es etwa Mitternacht sein mochte, glaubte ich in einer Entfernung von etwa zweihundert Ruten auf der anderen Seite des Flusses Frauenstimmen zu vernehmen, die mit jenen meiner Töchter Ähnlichkeit hatten. Ich war der Meinung, Ome-zhuh-gwut-oons habe ausfindig gemacht, wo sie sich aufhielten und tue ihnen Gewalt an, denn es waren wehklagende Stimmen. Ich war aber so schwach, dass ich nicht einmal aufstehen, geschweige denn ihnen zu Hilfe kommen konnte.

Am anderen Morgen, noch vor zehn Uhr, hörte ich abermals vom Fluss her, und zwar oberhalb meines Lagerplatzes, Menschenstimmen und sah ein Kanu herankommen, in welchem weiße Männer saßen, und das ganz jenem glich, welches ich während der Nacht im Traum gesehen hatte. Diese Leute stiegen unweit von mir an Land und trafen Vorbereitungen zum Frühstück. Ich erkannte Herrn Stewart, von der Hudson’s Bay Company, und Herrn Grant. Da ich überzeugt war, dass mein Anblick auf sie einen peinlichen Eindruck machen würde, so wartete ich, bis sie gegessen haben würden.

Als sie sich anschickten, ihr Kanu wieder flott zu machen, watete ich ins Wasser, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sobald sie mich erblickten, ließen die Franzosen ihre Ruder ruhen, und alle blickten mich ganz erstaunt an. Die Strömung führte sie weit weg von mir, und auf meine Rufe in Indianersprache schienen sie gar nicht zu achten. Da rief ich Herrn Stewart bei Namen, sprach einige Worte englisch, und bat die Reisenden, mich aufzunehmen. Sogleich waren die Ruder wieder im Wasser, und das Kanu kam so dicht heran, dass ich einsteigen konnte.

Niemand wusste, wer ich war, nicht einmal die Herren Stewart und Grant, die mich doch recht gut kannten. Ich hatte mein Blut noch nicht ordentlich abwaschen können, und die Leiden, welche ich erduldet hatte, mochten mich auch bedeutend verändert haben. Frage folgte nun auf Frage. Bald wusste man, wer ich war und was sich mit mir ereignet hatte. Man machte mir ein Lager im Kanu und ich bat die Handelsleute, sie möchten in der Gegend, von woher das Geschrei zu mir gedrungen war, meine Kinder aufsuchen. Ich befürchtete, sie würden als Leichen gefunden werden. Aber alle Nachforschungen waren erfolglos.