Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Das Horrorhaus

Die ursprüngliche Version wurde erstmals in dem Kurzgeschichtenband Motel des Grauens, erschienen im Engelsdorfer Verlag Leipzig veröffentlicht.

»In einer Minute bist du auf Sendung!«, rief Peter David aus dem silbergrauen Bus mit der Aufschrift GBS.

Morten Eckberg richtete sich die Krawatte, prüfte den perfekten Sitz des Ohrenstöpsels und strich sich durch die Haare, wobei die mühevolle Arbeit der Maskenbildnerin mit einem Schlag zu Nichte gemacht wurde.

Als er die Erkennungsmusik hörte, lächelte er in die Kamera.

»Hallo meine lieben Zuschauer. Hier ist Ihr Morten mit einer Live-Sondersendung über das stadtbekannte Horrorhaus. Wir befinden uns hier in der Harrison Street 54, vor dem Haus des verstorbenen Edward Fisk. Sehen Sie sich das unheimliche Gemäuer an, bekommt man nicht allein bei dem Anblick eine Gänsehaut?«

Die Kameras fuhren das vierstöckige Gebäude ab. Die Veranda, die seitlichen Erker, die Balkone bis hoch zum Dach.

»Vor sieben Monaten hat sich der greisenhafte Hausherr in seinem Schlafzimmer erhängt. Seit dieser Tat gab es in dem Haus eine Reihe unheimlicher Vorfälle, die meist mit dem Tod eines unschuldigen Menschen endeten. Die Putzfrau, die die Leiche fand, starb wenige Tage danach an einem Herzanfall. Der Arzt, der den Leichnam des Mannes untersuchte, verstarb bei einem mysteriösen Unfall. Der Hausverwalter machte einen Rundgang – man fand ihn tot im Flur liegen. Einigen Handwerkern passierten mysteriöse Unfälle.

Doch das ist längst nicht alles!

In der Nacht hören die Anwohner unheimliche Geräusche …!«

Morten brach ab, um eine unheimliche Spannung aufzubauen. Er trat dicht an die Kamera heran und sprach im Flüsterton: »Jeden Abend spielte der alte Fisk in seinem Arbeitszimmer auf einer Orgel. Auch nach seinem Tod hört man abends um dieselbe Zeit seine Musik. Manchmal hört man lautes Gepolter und Geschrei, als ob ein Dutzend Leute im Haus wären.

Und doch ist es menschenleer!

Nun, sind dies alles Hirngespinste und Unsinn? Wir von GBS werden es herausfinden. Und zwar noch heute Nacht. Gleich im Anschluss werde ich, Morten Eckberg, mit meinem Kameramann Marvin Taylor das Horrorhaus betreten und ein für alle Mal klären, ob es dort spukt oder nicht!«

»Die Werbung!«, sagte Peter David in dem Sendebus lustlos und Morten verschwand vom Bildschirm. Der junge Mann schenkte sich einen Schluck Kaffee ein und sah Brenda McPherson an, die ebenso skeptisch und unsicher wirkte wie er selbst.

»Hoffentlich wird die Sendung was, wir können uns keine weitere Pleite mehr erlauben«, meinte sie und seufzte. Peter sah auf den Bildschirm, der eine kitschige Zahnpasta-Reklame zeigte, und sagte: »Die Quoten rutschen in den Keller. Wenn dein Freund keinen Knüller landet, ist es aus!«

»Morten ist nicht mein Freund!«, protestierte Brenda heftiger, als sie es wollte.

Brenda McPherson war Anfang zwanzig und sehr hübsch. Das glatte, makellose Gesicht war von natürlicher Bräune, die Augen groß und smaragdgrün, die Lippen voll und sinnlich, das kastanienbraune Haar glänzend und kokett frisiert. Ihre Figur war schlank und sportlich, mit schmalen Hüften und langen Beinen. Ihre Brüste waren üppig und wirkten fast schon zu groß.

»Morten und ich waren nur einmal zusammen aus, sonst war da nichts«, sagte sie erregt und fragte sich im Stillen, warum sie sich vor dem anderen überhaupt verteidigte.

»Na, du musst es ja wissen!«, erwiderte Peter.

Morten baute sich vor der Haustür auf und fragte den Kameramann: »Und – aufgeregt?«

Dieser schob seinen Kaugummi im Mund hin und her und antwortete lässig: »Fuck, ist doch alles Scheiße!«

»Kannst du eigentlich einen Satz ohne Fuck sagen?«

»Fuck – nein!«

Schließlich kam das OK zum zweiten Sendeteil.

»Wir betreten jetzt das Horrorhaus«, kündigte Morten an und zog eine Grimasse. Seine großen vorstehenden Zähne erinnerten dabei an das Gesicht einer Hyäne.

»Was für ein Spinner«, brummelte Peter David.

Morten betrat die Eingangshalle und untersuchte die unteren Zimmer. Jeder Gegenstand und jedes der abgedeckten Möbelstücke gab ihm Anlass für einen Kommentar.

Im zweiten Stock angekommen, kündigte sich der nächste Werbebreak an. Nervös schlenderte Morten den Flur auf und ab, als er von irgendwo eine Toilettenspülung rauschen hörte. Der Moderator stemmte die Fäuste in die Hüften und seufzte: »Marv, musst du ausgerechnet jetzt deine Blase entleeren?«

Marv stand noch immer am selben Platz.

»Das … das war ich nicht«, stotterte er, »ich dachte das Wasser wäre abgestellt?«

»Das dachte ich auch«, antwortete Morten und fuhr sich durch die Haare.

»Leute, brecht die Werbung ab, hier ist irgendwas!«

»Ja … gleich«, kommentierte Peter David unbeeindruckt. Brenda saß neben ihm und zuckte die Schultern.

Morten präsentierte sich nach der Fortsetzung sichtlich nervös.

»Meine Damen und Herren. Wir hörten soeben eine Toilettenspülung, obwohl sich außer uns beiden niemand im Haus befindet und das Wasser eigentlich abgestellt ist.«

Morten stieß die Tür des Badezimmers auf, welche angestrengt quietschte und knarrte. Staub wirbelte von den aschgrauen Fliesen auf, Spinnenweben wedelten umher. Er öffnete den Deckel der Toilette, brackiges Wasser schwamm unten in der Schüssel. Er betätigte die Spülung und ein paar Tropfen kullerten aus dem leeren Spülkasten.

»Nichts! Und doch haben wir deutlich das Rauschen des Wassers gehört.«

»Gott, was macht der denn da? Die Leute lachen uns doch aus«, schimpfte Peter und schüttelte den Kopf. Brenda wollte ebenfalls einen Kommentar loslassen, als sie plötzlich ein krächzendes Gelächter hörte, dem die markanten Klänge eines Orgelspiels folgten. Peter drehte die Lautstärke höher und grinste. Er glaubte, es gehöre zu Mortens Show. Brenda klopfte das Herz. Sie bemerkte den entsetzten Gesichtsausdruck des Moderators.

Morten Eckberg hatte Angst!

»Wollen Sie noch mehr Beweise?«, fragte dieser in die Kamera. Dann knarrten die Treppenstufen. Marv riss die Kamera herum. Sie nahm ein mannshohes Gemälde auf, das das grinsende Porträt eines greisen Edward Fisk zeigte.

Morten erschrak.

Er hätte schwören können, das Gesicht auf dem Bild habe eben noch übertrieben ernst ausgesehen.

Das Gelächter und das Orgelspiel wurden lauter.

Haben sich die Lippen auf dem Gemälde bewegt?

Morten brach der Schweiß aus und sogar der coole Marv zitterte am ganzen Leib.

»Was zum Teufel geht hier vor? Hören Sie das? Sehen Sie das?«

Die Tür des Sendebusses wurde aufgerissen und ein korpulenter Mann stürzte hinein. Er wedelte mit ein paar Computerausdrucken und sagte: »Seht euch das an, die Einschaltquoten schießen in die Höhe!«

Auf Peter Davids Gesicht zog sich ein Grinsen breit.

»Morten, du Fuchs, weiter so!«

Der Moderator schlug auf den Ohrenstöpsel und antwortete erregt: »Was soll der Quatsch? Das ist nicht von mir.«

In den Wänden knisterte und rumorte es, die schweren Vorhänge flatterten wie von Geisterhand bewegt hin und her. Die Musik und das hämische Gelächter schwollen weiter an.

Wuchtig flog eine Tür auf.

»Wow, das ist klasse, richtig gruselig«, hörte Morten Peter sagen.

»Herrgott, das ist nicht von mir, du dämlicher Schwachkopf!«

Brenda sprang vom Stuhl und rief: »Morten, ich hole euch da raus!«

Peter riss sie brutal am Handgelenk und knurrte: »Einen Teufel wirst du tun!«

Eine zweite Tür öffnete sich. Ein geisterhaftes Leuchten drang in die Dunkelheit des Flurs.

»Halt genau drauf!«, befahl Morten.

»Fuck, mach ich ja«, antwortete Marv.

Die Männer gingen langsam auf das Zimmer zu.

Beiden stockte der Atem.

Morten schluckte einen Schrei hinunter, Marv sagte immer nur: »Fuck, Fuck!«

Sie sahen sich dem toten Körper eines Erhängten gegenüber, der an einem dicken Strick von der Decke baumelte. Das hagere Gesicht war kalkweiß und die Augen quollen aus den Höhlen. Die farblosen Lippen wirkten aufgedunsen und eine geschwollene Zunge trat aus dem Mund hervor.

»Marv, hast du das im Bild?«, stotterte Morten. Der andere nickte bloß.

Plötzlich drehte sich der Kopf des Toten. Das gebrochene Genick knirschte und krachte. Wässrige Augen starrten die Männer an.

»Ihr wollt also meine Ruhe stören?«

Marv stöhnte auf, ließ die Kamera fallen und eilte davon. Morten stand mit zitternden Knien da und machte sich hemmungslos in die Hosen, als sich der Tote von dem Strick löste und geräuschlos zu Boden sprang.

»Hey, was ist denn jetzt los?«, keifte Peter, nachdem die Bildschirme nur noch Schnee zeigten. Brenda stieß ihn fest in die Seite und schrie: »Kapierst du es immer noch nicht?«

Die junge Frau sprang aus dem Bus, rannte über die Straße und brüllte: »Macht endlich diese Tür auf, ihr Idioten!«

Es war zu spät.

Die beiden Männer waren tot.

Marv lag in der Eingangshalle mit zerschmettertem Genick am Fuß der Treppe.

Morten lag tot in dem ehemaligen Schlafzimmer. Sein geschwollener Hals zeigte deutliche Würgemale …

Morten Eckbergs letzte Sendung war die Erfolgreichste in der Geschichte von GBS.

ENDE

Copyright © 2007 by Alexander Gail 31. Dezember 2007