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Colorado Sunrise – Folge 5

Bittere Erinnerungen

Mae starrte in Mrs. Willings vernarbtes Gesicht. Du lieber Himmel. Welch Schicksal musste diese Frau ertragen. Wie konnte der Herr dies zulassen?

»Ich erzähle Ihnen meine Geschichte, dann entscheiden Sie, ob Sie bleiben.«

Mae nickte. Jedes Wort wäre fehl am Platz gewesen.

»Ich hatte eine glückliche Kindheit, besuchte die besten Schulen von San Francisco und genoss eine gute Erziehung. Klavierspiel, feine Stickereien zu fertigen und Sprachunterricht, gehörte zum täglichen Unterricht. Dienstboten sorgten für unser leibliches Wohl in einem feudalen Haus, in dem meine Eltern regelmäßig Teepartys veranstalteten. Meine Pflicht war es, hübsch und elegant zu sein und einen geeigneten Mann aus guten Kreisen zu ehelichen. Schöne Kleider, Konversation mit langweiligen Gentlemen und die Unterhaltung mit Freundinnen über die neueste Mode waren für mich wichtig. Das Leben der Armen kannte ich zu diesem Zeitpunkt nicht, doch das sollte sich bald ändern.«

Mrs. Willings lachte trocken auf.

»Auf einem Ball lernte ich einen Mann kennen, der mir den Hof machte. Meine Eltern hatten einen anderen Bräutigam für mich ausgewählt, doch zum ersten Mal widersprach ich ihnen. Trotz Verbot traf ich mich heimlich mit ihm. Ich war siebzehn und in vielen Dingen unbedarft. Er war galant und redegewandt und versprach, mir die Welt zu Füßen zu legen. In meiner Naivität glaubte ich ihm jedes Wort. Ich wusste nichts von Schwangerschaft und woran man sie erkennt, dachte an eine kurzzeitige Unpässlichkeit. Meine Mutter stellte mich eines Morgens zur Rede. Mein Vater fuhr wutentbrannt zu meinem Verehrer, kehrte bald darauf noch zorniger zurück. Mit keiner Silbe erwähnte er das Gespräch zwischen ihnen. Seine Worte werde ich niemals vergessen: »Ich lasse mir von einer unmoralischen Person nicht mein Ansehen ruinieren. Ich habe keine Tochter mehr. Du hast eine Stunde Zeit, das Haus zu verlassen. Nimm mit, was du tragen kannst und kehre niemals wieder.« Meine Mutter sah mich mitleidig an und verließ den Raum. Natürlich wollte ich dies nicht wahrhaben. Auf Knien bat ich meinen Vater um Vergebung, doch er meinte lapidar, er habe kein Kind und brauche darum auch niemandem zu vergeben. Können Sie sich das vorstellen, Mae? Ich bin vor ihm zu Kreuze gekrochen. Wie ein Verbrecher fühlte ich mich. Unter Tränen packte ich die nötigsten Dinge und verließ die Menschen, von denen ich dachte, dass ich ihnen mehr bedeute, als gesellschaftliches Ansehen.«

Mrs. Willings trat zum Fenster und starrte hinaus.

»Stundenlang irrte ich herum und fand im Arbeiterviertel, in das ich nie zuvor einen Schritt gewagt hatte, bei einer älteren Frau Unterschlupf.«

Sie dreht sich wieder Mae zu.

»Doch sie starb bald darauf. Mit fortschreitender Schwangerschaft verschlechterte sich mein Gesundheitszustand und ich musste ins Krankenhaus. Es war eine schwierige Geburt, bei der mein Baby starb. Vielleicht hatte Gott ein Einsehen. Welches Leben hätte ich meinem Kind bieten können? Es wäre für immer mit dem Stigma der Illegitimität behaftet gewesen. Die Gesellschaft hat nichts übrig für Menschen, die sich einen Fehltritt erlauben, ebenso wenig für deren Kinder.«

Mrs. Willings ging zur Anrichte. Ihre Hände zitterten leicht, als sie aus einer Karaffe zwei Gläser füllte. Vielleicht erzählte sie heute zum ersten Mal ihre Geschichte. Mae presste ihre Fingernägel in die Handballen. Der Schmerz hinderte sie daran, in Tränen auszubrechen. Sie wusste, wie schlimm es war, ein Kind zu verlieren.

Mrs. Willings reichte ein Glas an Mae und nahm wieder Platz.

»Um zu überleben musste ich arbeiten, denn die Krankenhausrechnung hatte meine Barschaft aufgebraucht. Für Trauer blieb keine Zeit. In den Hotels, in denen ich früher zu speisen pflegte, wagte ich nicht zu fragen. Niemand hätte mich aufgenommen und meinen Vater, den Staatsanwalt brüskiert. Ich hätte es auch nicht ertragen, Menschen ins Gesicht zu sehen, mit denen ich früher gesellschaftlich verkehrte. Der Besitzer eines zwielichten Etablissements stellte mich als Bedienung ein. Ich nahm es als glücklichen Umstand, dass auch ein kleines Zimmer dazugehörte. Wie naiv von mir. Die Männer, die dieses Lokal aufsuchten, waren keine Gentlemen. Der Inhaber verlangte, dass ich nett zu seinen Gästen sein sollte. Besonders nett. Als ich mich weigerte, verprügelte er mich so schlimm, dass ich tagelang nicht arbeiten konnte. Nach einigen Tagen kam er mit einem Fremden in mein Zimmer und meinte, es sei an der Zeit, meine Schulden zu begleichen. Von da an ging ich täglich mit Männern auf mein Zimmer.«

***

Mae hielt bei diesem Geständnis kurz die Luft an. Ein uneheliches Kind und dann noch … Und Mae saß dieser Frau gegenüber, wohnte in deren Haus. Ihre Hände wurden schweißnass. Es war unmöglich, hierzubleiben. Doch möglicherweise hatte sie wirklich keine andere Wahl gehabt. Sie war nett, wie auch die Frauen in dem anderen Haus. Nach wie vor fiel es ihr schwer, manche Wörter zu denken, geschweige denn auszusprechen. In den letzten Wochen hatte sie viele Menschen auf ihrem Weg getroffen. Kleidung und Benehmen unterschieden sich von denjenigen, mit denen Mae früher Kontakte pflegte. Der Herr bestimmte, wer arm und wer reich geboren wurde. Sie gestand sich ein, früher nie über diese Dinge nachgedacht zu haben. Es bestand keine Veranlassung.

»Das bisschen Geld, das ich verdiente, sparte ich. Ich wollte raus aus diesem miesen Leben. Meine Chance sah ich in einer Heiratsanzeige. Männer suchten Ehefrauen, die mit ihnen ein Leben in der Wildnis teilten.

Ich korrespondierte mit einem Agenten, der die Vermittlung für diese Männer übernommen hatte. Ich dachte, schlechter kann das Leben im Westen nicht sein. Als ich das Geld für die Fahrkarte zusammengespart hatte, machte ich mich auf die Reise. Ich heiratete einen Holzfäller, den ich zuvor noch nie gesehen hatte und zog mit ihm in seine winzige, baufällige Hütte, abseits der Zivilisation. Er war ein braver, rechtschaffener Mann, der für mich sorgte, so gut er es vermochte. Dafür achtete ich ihn. Es war ein hartes Leben, sehr einsam, doch ich hatte genug zu essen. Mit dem Luxus, in dem ich einst geschwelgt hatte, war es nicht zu vergleichen, doch mit den Jahren lernte ich, zufrieden zu sein. Der Krieg zerstörte alles. Ich zog in die nächstgelegene Stadt, die nicht mehr als eine Ansammlung armseliger Hütten war und versuchte, ein anständiges Leben zu führen. Doch in einem vom Krieg ausgebeuteten Land, in dem die Menschen so gut wie nichts besaßen, gab es wenig Arbeit. Ein fahrender Händler, der zu alt war, um als Soldat zu dienen, machte mir das Angebot, mich für Gegenleistung mitzunehmen. Ich blieb bei ihm. Wir zogen umher und verkauften unsere Waren. Eines Tages überfielen uns Deserteure, raubten uns aus und töteten meinen Begleiter. Im Glauben, ich sei tot, ließen sie mich liegen. Mehr tot als lebendig schleppte ich mich in eine Stadt und klopfte an das erstbeste Haus. Die Frauen des Bordells pflegten mich gesund. Nach meiner Genesung blieb ich eine Weile dort, doch die vorbeiziehenden Soldaten behandelten uns wie Abschaum. Ich wollte mein Leben selbst bestimmen, so weit es möglich war und zog in eine Goldgräbersiedlung in den Bergen. Der Krieg war inzwischen vorbei. An Geld und Gold mangelte es mir nicht, die Goldgräber zeigten sich mehr als erkenntlich für meine Dienste. Doch das Glück, wenn man es so nennen konnte, währte nicht lange. Über Nacht brachen die Pocken aus. Heute ist es mir unerklärlich, warum ich geblieben bin.«

***

Mrs. Willings starrte eine Weile auf ihre Hände. »Mein Leben sähe anders aus, wäre ich sofort abgereist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich pflegte die Kranken, von denen die meisten starben. Als die Epidemie schon dem Ende zuging, erkrankte ich ebenfalls und überlebte. Doch zu welchem Preis. Als ich in den Spiegel blickte, wollte ich sterben, doch mir fehlte der Mut. Ich raffte alles Geld und Gold zusammen, das ich finden konnte. Ja, ich stahl auch, denn ich dachte, das war mir das Leben schuldig. Ich kam hier her, als das Goldvorkommen in den Meredith Hills erschöpft war. Viele der Goldgräber zogen weiter, einige blieben und bauten Coldwell weiter auf. Das Land ist groß. Es ist noch genug Platz für weitere Siedler und mit ihnen wird die Stadt wachsen.

Ich gab mich als Witwe aus, deren Mann als Offizier im Krieg gefallen ist. Für die Einwohner bin ich Mrs. Willings, die ewig trauernde Witwe. Ich habe viel gesehen und erlebt, das ich vergessen möchte. Doch die Vergangenheit kann niemand löschen. Wir müssen für unsere Taten bezahlen. Auf die eine oder andere Art.«

Mae war außerstande, ihr Mitgefühl in Worte zu fassen. »Es tut mir so leid«, stammelte sie.

»Wie entscheiden Sie sich? Bleiben Sie weiterhin hier wohnen?«

Mae blickte in das früher schöne, jetzt mit Narben gezeichnete Gesicht. Sie suchte Traurigkeit oder Schwermut in den dunklen Augen, doch der Blick war noch immer klar und lebhaft. Das ehemals blonde Haar war mit feinen Silberfäden durchzogen und zu einem Knoten hochgesteckt. Die Witwe war nett, daran bestand kein Zweifel. Mae dachte zurück, an jenen Tag zu Hause, der ihr ganzes Leben veränderte. Sie war zu verletzt und verstört und keiner klaren Gedanken fähig gewesen, um die Situation richtig einzuschätzen und danach zu handeln. Auch Mae hatte den falschen Weg eingeschlagen, das war ihr im Nachhinein klar geworden, doch für eine Umkehr war es zu spät. Dies war eine Prüfung, wie vieles andere.

Mae lächelte. »Ich bleibe gern. Sehr gern.«

Vor nicht allzu langer Zeit wäre es für sie undenkbar gewesen, mit einer Person mit dunkler Vergangenheit unter einem Dach zu leben. Sie kannte diese Frau noch nicht lange, fühlte sich aber auf seltsame Weise mit ihr verbunden.

Zögernd streckte Mae die Hand aus, unsicher wie Mrs. Willings reagieren würde.

»Ich heiße Grace«, sagte die Witwe und drückte Maes Hand. Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Auch wenn manch schöne Stunde schon lange vorbei ist, kann das Herz davon zehren. Und glaube nicht, dass Wunden mit der Zeit heilen. Das ist Unsinn. Sie vernarben und wir lernen, mit diesen Narben zu leben.«

»Grace«, Mae zögerte. »Ich bin ebenfalls Witwe und habe viel um mein Leben und mein Glück geweint. Ich kann dir meine Geschichte nicht erzählen, noch nicht.«

Bei ihren letzten Worten senkte sie beschämt den Blick. Grace hatte ihr Leben offenbart und sie schaffte es nicht, dasselbe zu tun. Sie hatte Angst. Sie konnte nicht erklären, worauf ihre Angst beruhte, doch sie hing über ihr wie eine dunkle Gewitterwolke, jederzeit bereit, auseinanderzubrechen.

»Das ist in Ordnung. Wenn du jemanden zum Zuhören brauchst, bin ich für dich da.«

Grace strich über ihre vernarbte Hand.

»Ich habe sehr lange gebraucht, um mich im Spiegel anzusehen. Mein Hass auf mich, auf die Menschen, auf die ganze Welt war grenzenlos, doch an meiner Situation änderte es nichts. Es hieß für mich zu sterben, wozu mir der Mut fehlte, oder mich mit dem Leben zu arrangieren. Mittlerweile schaffe ich es sehr gut. Man lernt mit den Jahren. Aber ich führe ein einsames Leben, darum freue ich mich über dein Bleiben.«

»Deine Einrichtung ist exquisit«, stellte Mae fest.

»Ja, ich umgebe mich gern mit schönen Dingen.« Grace kicherte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Einwohner staunten, als die Kisten geliefert wurden. Ich bin sicher, viele würden gern einen Blick in mein Haus werfen.«

Sie prosteten sich zu.

»Trinken wir auf dein neues Leben und dass du dein Glück findest.«

Die golden glänzende Flüssigkeit schmeckte süß, hinterließ eine leichte Schärfe in der Kehle.

»Hervorragender Sherry.« Mae nickte anerkennend.

»Du bist willensstark. Ich erkenne mich in dir wieder. Gib den Menschen Zeit, dich zu akzeptieren, doch lasse sie nicht denken, dass du sie für Hinterwäldler hältst.«

Mae wollte protestieren, doch Grace winkte ab und lachte.

»Du kannst allen etwas vormachen, doch nicht mir. Durch den Schleier kann ich sorglos beobachten, ohne dass es jemanden auffällt.«

Sie traten zum Fenster.

»Irgendwann wirst du dich in Coldwell zu Hause fühlen.«

Grace deutete auf eine einfach gekleidete Frau, die die Straße entlang ging.

»Auch für sie beginnt ein neues Leben.«

»Was ist mit ihr? Wohnt sie nicht in Coldwell?«

Sie beobachteten durch das Fenster die Gestalt, die sich fortwährend umsah, als suche sie etwas, oder warte auf jemanden.

»Ein Siedlermädchen, dessen Vater gestorben ist. Als ich bei Slicker einkaufte, kam sie in den Laden und fragte nach Arbeit.«

»Stellte der Ladenbesitzer sie ein?« Mae nippte an ihrem Glas.

Grace schüttelte den Kopf. »In einer kleinen Stadt wie Coldwell gibt es nicht viele Möglichkeiten. Du hattest großes Glück.«

»Weißt du, was sie vorhat?«

»Nach der Richtung zu urteilen, geht sie ins Bordell«, erwiderte Grace ungerührt. »Ja, ich bin sicher, sie geht dort hin. Ihre einzige Chance.«

Mae verschluckte sich. Der Hustenreiz trieb Tränen in ihre Augen.

»Das glaube ich nicht«, krächzte sie.

»Doch. Wohin sollte sie sonst gehen?«

Mae schüttelte den Kopf. Gerade in einer Kleinstadt durfte man so etwas nicht zulassen. Es musste andere Möglichkeiten geben.

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