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Kleiner Stern – Teil 3

Man konnte sich zumindest in einer angemessenen Lautstärke unterhalten. Von den unzähligen Gestirnen war allerdings nichts zu erkennen.

»Sie sind wirklich wundervoll, nicht? Ähm, ich meine natürlich, wenn man sie mal ausnahmsweise sehen kann.« Er schmunzelte Arin freundlich an.

Sie nickte bestätigend und schloss verträumt für einen Moment ihre Augen. Kurz darauf erwiderte sie sein Lächeln und blickte ihn dabei offen an.

»Was willst du denn nun wissen?«

Thalen war verblüfft über diese Frage, mit der er so schnell gar nicht gerechnet hatte, und überlegte zuerst einen Augenblick. Irgendwie konnte er sich momentan nicht wirklich entscheiden, wo genau er beginnen sollte. Weil er unbedingt einiges über sie persönlich erfahren wollte, aber es mussten auch ihre ganzen rätselhaften Äußerungen während des Gesprächs vorhin geklärt werden.

»Zuerst mal etwas ganz Banales. Wie bist du eigentlich in meine Wohnung gekommen?«

***

Der Rest ihrer Einheit begleitete die Alpha zu einem von einer Metallplatte verschlossenen Durchgang, der in das Innere des heruntergekommenen Bauwerks führte. Nachdem dieses Problem schnell beseitigt wurde, brachten sie einige Treppenstufen hinter sich und standen nur kurz darauf an der verschlossenen Eingangstür des Appartements 1072.

Ein Spezialist bereitete augenblicklich die Sprengung vor und brachte mehrere Explosivkapseln an. Als alles soweit erledigt war und die Psybegabte von jedem Mitglied ihres Kommandos eine mentale Bestätigung erhalten hatte, konnte die Aktion beginnen. Sie erteilte umgehend den Zugriffsbefehl.

***

»Ups«, sie schaute ihn ganz zerknirscht an, »ich glaube, das wird dir sicherlich nicht gefallen. Ich hab …«

Ein lauter Knall unterbrach ihren Erklärungsversuch. Sofort drehten sich die Beiden um und blickten überrascht durch die offene Tür des Zimmers in den Gang dahinter. Dort sahen sie zunächst nur grauen, undurchdringlichen Detonationsnebel, der langsam in ihre Richtung trieb. Lesandor wischte sich ungläubig über die Augen.

Derweil tosten übergangslos zahlreiche Ratsdiener in sein Appartement. Zwei rannten sogar aus der Küche und erreichten als Erste sein Bett, neben dem sie auch rasch ihre Feuerpositionen einnahmen. Während des zackigen Aufmarsches innerhalb seiner Wohnung schwangen sich noch mehr von den Kerlen an Seilen über das Dach. Direkt vor seinem Balkon stoppten sie ihren kurzen Fall.

Nun waren die Beiden eingekesselt und wurden von allen Seiten mit äußerst großen Waffen bedroht. Seltsamerweise verharrte diese Einheit jedoch in ihrer lauernden Stellung, da sie scheinbar nicht den Befehl erhalten hatte, ihre zwei Ziele auf der Stelle zu überwältigen.

Ziemlich verwunderlich, wie Thalen fand.

Aber es lag wohl an dem Mädchen. Nach einem flüchtigen Blick auf die bedrohliche Ratsdienermeute vor sich fiel ihm seine erste Begegnung mit Arin ein.

Und du Trottel, schalt er sich daraufhin selber, hast wirklich geglaubt, dass ihr damals freundliches »Hallo« die Einleitung für solch eine Prozedur war.

Fast wollte Lesandor schon laut herauslachen wegen seines naiven Irrtums, da die Realität natürlich ganz anders aussah. Doch bewegte er lieber keinen Muskel. Es könnte ja missverstanden werden. Schließlich tauchte bedauerlicherweise die leitende Psybegabte inmitten der kriegerischen Beamten auf und zwängte sich langsam in Richtung der Festgenommenen.

Zwischen den knienden Soldaten in der vordersten Linie hielt sie an.

»Fremdes Wesen, hiermit sind Sie, im Namen der Zentralregierung des Reiches, verhaftet. Leisten sie keinen Widerstand. Arbeiter der Klasse C, Thalen Lesandor, für Sie gilt das Gleiche.«

Ohne weitere Verzögerung nahm Ralissan sich die Gefangene vor. Sie untersuchte ihren andersartigen Geist zuerst rein oberflächlich, um dann mit größtmöglicher Sorgfalt an ihre eigentliche Arbeit zu gehen und besonders behutsam tiefer in den Verstand der Kleinen einzudringen. Keinesfalls wollte sie abermals so überrumpelt werden wie bei ihrer ersten Begegnung.

Arin verharrte indessen schlicht verblüfft in der vorhin eingenommenen, totales Entsetzen ausdrückenden Körperhaltung. Plötzlich erkannte Lesandor einen tief gehenden Schmerz in ihren vor grenzenlosem Schreck weit aufgerissenen Augen.

»Hör auf.«

Ein Waffenkolben schmetterte unglaublich brutal gegen seinen Schädel. Sofort ging er in die Knie, welche hart und recht schmerzhaft auf dem eiskalten Beton aufschlugen. Mit einem letzten Blick zu dem Mädchen, das sich mittlerweile nicht mehr an der vermuteten Stelle aufhielt, kippte Lesandor um. Er blieb anschließend benommen auf dem Rücken liegen.

Über sich in der metallenen Decke entdeckte Thalen außerordentlich verwirrt ein kreisrundes Loch, an das er sich bei bestem Willen nicht mehr erinnern konnte. Innerhalb weniger Sekunden, die er abschließend nutzte, um schwer blinzelnd dort hindurch zu glotzen, kam endlich und einfach überaus wohltuend die Ohnmacht.

Er nahm bloß beiläufig den Hauch eines Feuerschweifes auf der Innenseite seiner sich schließenden Lider wahr, der wie ein Komet gen Himmel schoss. Den Sternen entgegen.

***

Lesandor erwachte in einer winzigen, völlig leeren Zelle, die grell, fast schon quälend, von Wänden, Decke und Boden ausgeleuchtet wurde. Diese missliche Lage kam ihm bekannt vor. Denn er war während der Studentenproteste öfter mal für längere Zeit in solchen Löchern verschwunden. Gleichzeitig bemerkte er, dass sein Schädel abscheulich wehtat.

Als Thalen endlich wieder einfiel, welchem Umstand er seinen peinigenden Aufenthalt hier verdankte, versuchte er mühsam die Hände zu heben, um seinen schmerzenden Kopf sachte nach möglichen Verletzungen abzutasten. Es fiel ihm aber frustriert auf, dass diese hinter seinen Rücken gefesselt waren.

»Scheiße! Verdammte Scheiße!«, schimpfte er daraufhin laut und unglaublich verzweifelt.

Sein Fluchen bekam ihm allerdings gar nicht gut, weil es nur das quälende Stechen verstärkte. Umgehend nahm Lesandor sich vor, solche Ausbrüche in Zukunft zu unterlassen.

Wenigstens bist du diesen Monstern entkommen, freute er sich für Arin, diesmal vorsichtshalber ausschließlich im Gedanken. Als Thalen danach eine Zeit lang mit zusammengebissenen Zähnen darüber nachdachte, wie sie ihren Häschern wohl entgangen war, erinnerte er sich langsam an wirklich alles. Zuletzt kam ihm die feurige Leuchtspur in den Sinn, welche sich Richtung dunklen Himmel gezogen hatte.

Sofort flüsterte er leise und zutiefst beeindruckt: »So reist du also.«

***

»Durch das Dach gebrannt hat es sich? Wie konnte so etwas bloß zugelassen werden?«

Hoher Rat Holmbrok sprang erneut mit laut krachenden Knochen von seinem Sessel auf und starrte ungläubig in Richtung des mit Kapuze verhangenen Helms seiner Psybegabten. Eine dicke Ader in der Mitte seiner Stirn schwoll bedrohlich an.

»Alles lief vorschriftsmäßig. Das Kommando hatte die korrekten Positionen eingenommen und die Lage schien unter Kontrolle, Herr.«

Ralissan musste sich das erste Mal in ihrer Laufbahn rechtfertigen und ein persönliches Versagen eingestehen. Eine Aufgabe, die ihr nicht gerade sonderlich gut gefiel. Unterdessen stand ihr Vorgesetzter und langjähriger Mentor nur stumm vor seiner fähigsten Beamtin und fixierte sie wütend.

Während sein Gesicht sich langsam immer mehr verdüsterte, bekam sie ungewollt seine Gefühle übertragen. Das Intensivste davon war ihr bisher stets unbekannt gewesen, da es sich um bitterste Enttäuschung handelte. Im Endeffekt blieb es Nolder jedoch genauso gleichgültig wie sein sonstiges Repertoire.

»Wir wissen einfach nicht, wie ihr das gelungen ist. Niemand hat etwas gesehen. Sie verschwand zu schnell, Herr. Das Ganze hat letztlich einen Augenblick gedauert – den Bruchteil davon. Mir und der Einsatzgruppe waren es unmöglich zu reagieren. Ihre rasante Flucht war unbegreiflich, Herr.«

Deggard schnaubte verächtlich.

»Sie hören sich ja fast bewundernd an. Das macht mir Sorge.«

»Nein, Herr. Ich interpretiere ausschließlich meine Erkenntnisse. Ich habe eine sehr mächtige, unglaublich komplexe Struktur erfasst, aus der ich nicht einmal ansatzweise einzelne Gefühle oder Gedanken herausfiltern konnte. Das Innere des Kindes war so anders, schlicht unergründbar.«

Eigentlich log sie bei dieser Aussage, denn eines hatte sie ganz deutlich empfangen. Nämlich große Schmerzen, als sie in ihren Geist vorgedrungen war. Aber das interessierte ihn wahrscheinlich herzlich wenig.

Vergiss nicht seinen Charakter, dachte sie besonders angeekelt.

Vermutlich würde ihn diese Nachricht sogar erfreuen. Also verschwieg Nolder ihre Erkenntnis lieber. Der Hohe Rat beruhigte sich mittlerweile etwas und lächelte jetzt sogar – wenn auch ausgesprochen böse.

»Erstens, nennen Sie es nie wieder so. Es ist und bleibt ein unwürdiges Ding. Zweitens will ich, dass sie sich unseren Gefangenen persönlich vornehmen und alles herausbekommen, was die zwei besprochen haben. Und anschließend erfüllen Sie ihre Pflicht. Der Verräter ist bereits abgeurteilt.«

»Ja, Herr.«

Die Alpha verbeugte sich tief, verließ das Büro und ging sofort seiner Order nach.

***

»Gefangener 1.739.216 ist vor 004329 erwacht«, wurde Ralissan vom allgegenwärtigen Zentralcomputer über den Status des Inhaftierten informiert.

Einen kurzen Moment stand sie noch vor einer der unzähligen Zellentüren in einem kühlen, schier endlos erscheinenden Gang und bereitete sich mental auf das anstehende Verhör vor.

»Öffnen«, befahl Nolder dann dem Rechner, der prompt und fast lautlos reagierte.

Anschließend betrat sie den Raum, in dem ein am Boden liegender Mann sich gerade mühsam auf die Seite wälzte und zu ihr hochblickte. Nachdem er begriff, wer – was gerade hereingekommen war, verzog sich sein Gesicht sofort zu einer hasserfüllten Fratze.

»Arbeiter der Klasse C, Thalen Lesandor, Sie werden jetzt vernommen und zwangsweise durchleuchtet. Widerspruch ist in Ihrem Fall nicht gestattet. Setzen Sie sich.«

Während sie den letzten Satz aussprach, glitten zwei Sitzflächen aus den seitlichen Wänden. Sie ließ sich auf ihren Platz nieder und wartete darauf, dass Lesandor ihrem Beispiel folgte. Nach einigen umständlichen Versuchen schaffte er es endlich. Erschöpft und schwer atmend sah er jetzt der verhüllten Psybegabten direkt in die Augen. Lesandor vermutete es zumindest.

»Ich werde Ihnen einige Fragen stellen, deren Antworten ich im Anschluss prüfen werde. Lügen ist somit zwecklos. Wir beginnen sofort: Ihr Kontakt zu diesem Wesen hat mindestens drei Stunden bestanden. Was haben sie besprochen?«

Lesandor befürchtete, dass sich die Mühe nicht gelohnt hatte. Sein Gegenüber war ausschließlich professionelle Kälte und leere Gefühllosigkeit, kein anderer lebendiger Mensch, sondern nur eine auf Empfindungslosigkeit getrimmte, elitäre Ratsdienerin. Liegen bleiben wäre deutlich besser für seinen Kopf gewesen.

Augenblicklich versuchte er seine Emotionen und Gedanken zu kontrollieren. Nachdem Thalen sie danach einigermaßen im Griff hatte, bereitete er sich so gut wie möglich auf diesen ungleichen Kampf vor. Unnötig leicht machen wollte er es ihr trotzdem auf keinen Fall.

»Was wird mir denn überhaupt vorgeworfen?«

»Häretischer Umgang mit einer außerirdischen Lebensform. Ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft werden kann. Ich erwarte nun Ihre Antwort.«

»Oh, ein Todesurteil. Na gut, über was haben wir also geredet? Ich glaube kaum, dass es Themen waren, die euch auch nur ansatzweise interessieren dürften. Kein Wort über unsere planetaren Verteidigungsstreitkräfte oder gar Geheimwaffen, von denen ich ohnehin niemals etwas gewusst habe. Nichts von alledem und sonstigen Schwachsinn. Ehrlich, das hat sie überhaupt nicht interessiert.«

Er sagt die Wahrheit, wusste die Psybegabte.

»Was waren die Inhalte?«

Nach kurzem Zögern erwiderte er: »Alles Mögliche. Unsere Welt und was hier so los ist. Nichts Subversives oder etwas in diese Richtung. Gott behüte.«

Gelogen, zumindest teilweise, schoss es ihr durch den Sinn.

Sein Innerstes war sehr destruktiv und eindeutig gegen die Regierung gerichtet. Zusätzlich waren ausnahmslos Dinge erörtert worden, die ihm sehr wichtig waren, wie sie ungewöhnlich intensiv spüren konnte. Aus diesem Grund glaubte sie ihm keinesfalls, dass ihr Gespräch wirklich so harmlos abgelaufen war, wie er behauptet hatte.

Aber Genaueres erkannte sie einfach nicht, weil er sich erstaunlich gut hielt.

Beeindruckend in seinem elenden Zustand, wie die Beamtin fand.

»Was hat das Wesen über sich erzählt? Wo kommt es her? Was will es hier?«

Lesandor seufzte laut. Das Ganze würde sich bestimmt stundenlang auf diese Weise hinziehen und er hatte schon jetzt gar keine Lust mehr.

Nie gehabt, berichtigte Thalen sich, ich habe das Pack ja nicht gerade freiwillig begleitet.

»Nichts, keine Ahnung und nicht den blassesten Schimmer«, erwiderte er fest.

Zum Glück hat mir Arin bisher kaum etwas von sich erzählt, freute Lesandor sich beruhigt.

Sogleich gewährte er der Alpha zum ersten Mal eine Information offen und völlig freiwillig. Er grinste ihr dabei sogar rotzfrech in das verborgene Antlitz. Wenn er sowieso bald sterben musste … Ralissan wiederum enttäuschte das Wahrgenommene etwas.

Diese Arin ist bis zu unserem Erscheinen nicht gerade sehr mitteilsam gewesen, erfasste sie enttäuscht, als ihr dieser kurze Einblick in seinen Geist gewährt wurde.

Dabei war genau das ihre Hoffnung gewesen.

»Über was haben Sie sich unterhalten?«

***

Arin raste unterdessen mit unermesslicher Dringlichkeit in die beruhigende Weite des Weltraums und ließ den faulenden Planeten mit all seinen abscheulichen Bewohnern weit hinter sich zurück. Aber nicht ihre Erinnerungen, die sie schier überwältigten und zutiefst erschütterten. Ihnen entkam das Mädchen einfach nicht, sosehr es sich auch bemühte.

Nach einer Weile endete zumindest ihre tief empfundene Panik. Schließlich ebenfalls diese wilde, doch im Grunde völlig zwecklose Flucht, die sich übergangslos in ein schwereloses Treiben wandelte. Langsam beruhigte sie sogar wieder ihren aufgewühlten Verstand, der so bedenkenlos durchdrungen worden war und versuchte, den quälenden Schmerz aus ihrem Innersten zu vertreiben.

Vollständig gelang es Arin jedoch nicht, da ein hartnäckiger, sie irgendwie beschmutzender Widerhall in ihr zurückblieb. Den musste sie jedenfalls unbedingt aus sich herausbekommen. Nur wie sie das anstellen sollte, blieb der Kleinen momentan ein unlösbares Rätsel. Als ihr selbst nach längerer Zeit nichts Sinnvolles dazu einfiel, schluchzte sie laut und begann bitterlich zu weinen.

Gleichzeitig zog sie ihre Beine an den Körper heran, umschloss diese fest mit ihren Armen und bettete anschließend ihr Antlitz sanft auf die Knie. Unaufhaltsam floss daraufhin ein beständiger Strom aus reinigenden Tränen aus Arin heraus, der ungeachtet dieser unglaublichen Kälte nicht gefror.

Schon bald schwebte sie inmitten einer hauchdünnen Kugel aus rötlicher Traurigkeit, die andauernd dichter wurde. Diesmal beklagte sie ausschließlich sich selber. Ganz anders als vorhin bei Lesandor. Nach dieser Erkenntnis wurde ihr vergebliches Selbstmitleid sogleich verdrängt durch ein äußerst schlechtes Gewissen.

Ohne weiter an ihre eigene Last zu denken, erhob sie bestimmt ihren Kopf und beendete augenblicklich ihre Heulerei.

Folglich flüsterte sie beschämt und zugleich erschrocken: »Ich habe ihn im Stich gelassen!«

Die Kleine fühlte sich nun erst so richtig dreckig wegen ihrer schändlichen Feigheit und war absolut fassungslos angesichts dieses schlimmen Verrats an ihren gesamten Idealen. Zusätzlich plagten sie sofort ernste Sorgen. Was hatten die Ratsdiener ihm nach ihrer Flucht wohl angetan? Vielleicht wurde Thalen gerade in diesem Augenblick, von der grausamen Frau gefoltert oder gar getötet?

Rede dir keinesfalls solche Sachen ein, versuchte Arin verzweifelt ihre Ängste zurückzudrängen, die nicht gerade sonderlich hilfreich waren.

Also beschloss sie abrupt, dass Thalen ganz sicher weiterhin lebte. Nach allem, was sie bisher über die Menschen in Erfahrung gebracht hatte, blieb aber ein gewisser berechtigter Zweifel. Dessen ungeachtet war das Mädchen es ihm schuldig und wollte wenigstens den Versuch einer Rettung wagen. Ganz egal, wie aussichtslos es derzeit erscheinen mochte.

Deshalb musste sie unverzüglich zurück auf die Erde und sich dort tapfer ihrem Albtraum stellen.

»Ich werde dich befreien Lesandor! Das verspreche ich dir.«

Arin würde es auf jeden Fall schaffen, denn andere Optionen standen dem Mädchen sowieso nicht offen. Sie wurden ihr schlicht durch Ehre und Stolz verwehrt, die beide ausgeprägt in ihr vorhanden waren. Einem Freund, und mittlerweile betrachtete sie Thalen als solchen, würde Arin immer beistehen. Nicht einmal ihre enorme Furcht konnte sie davon abhalten.

Als Nächstes brauchte die Kleine bloß noch einen Plan und angestrengt dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Bedauerlicherweise waren alle ihre spontanen Ideen unrealisierbar. Außerdem wurden ihre Grübeleien inzwischen ständig von den Erinnerungen an Lesandors lächelndes Gesicht und dem wirklich aufschlussreichen Gespräch mit ihm unterbrochen, welches sie wenigstens für einen kurzen Moment von all ihren Sorgen und dem unbeschreiblichen, ebenso unbewältigten, Grauen abgelenkt hatte, das sie bereits seit sehr langer Zeit belastete. Arin vermisste seine angenehme, mitfühlende Art und wollte ihn unter keinen Umständen durch ihre Gedankenlosigkeit verlieren.

Ich habe ihn mit meinem dämlichen – irrsinnig überheblichen Hochmut gefährdet, urteilte sie betroffen, trotz seiner ausdrücklichen Warnung.

Darum unterließ das Mädchen weitere sinnlose Überlegungen.

»Na gut, dann lasse ich mir eben etwas einfallen, wenn ich dort angekommen bin!«

Mit einem kurzen Gedankenimpuls setzte die Kleine sich in Bewegung und zerriss den Ball aus rötlichem Kummer achtlos in seine Bestandteile.

***

Lesandors üble Kopfschmerzen legten sich langsam wieder und pochten mittlerweile viel erträglicher. Dies verdankte er hauptsächlich dem unerwarteten Abbruch seines Verhörs vor ungefähr zehn Minuten. Erleichtert lehnte er sich an die Wand und genoss die äußerst erholsame Pause.

Andererseits, nach dem ewig gleichförmigen und absolut reizlosen Geleier ihrer Fragerei, beunruhigte Thalen ihr anhaltendes Schweigen nun doch ein wenig mehr, als er sich zunächst selbst eingestehen wollte. Immerhin war seine geistige Abwehr schon längst zusammengebrochen und sie hatte bestimmt jedes für diese Ermittlung relevante Detail erfasst.

Was für ein Albtraum, dachte er verstimmt und voller Hass über diese psychische Schändung.

Im Grunde waren nun wohl all seine Erinnerungen auch die ihren und er vermutete, dass seine Akte bald für immer geschlossen werden würde. Lesandor kannte schließlich die Befugnisse der Psybegabten, da sie ja lange genug propagiert worden waren. Ihre Ratsdienerkaste fungierte zugleich als Ermittler, Richter und Henker.

Ausgeforscht hatte sie ihn eben, das Todesurteil war ihm sowieso sicher und wahrscheinlich bereitete sie sich gerade mental auf seine Hinrichtung vor. Eine

Prozedur, die scheinbar viel Zeit erforderte.

Auf was wartest du bloß, dachte er verzweifelt, bring es endlich hinter dich.

Es geschah jedoch weiterhin nichts und er beugte sich vor, um die Talentierte, nun äußerst neugierig geworden, aus der Nähe zu betrachten. Sie zeigte danach trotzdem weiterhin keine Reaktionen und er riskierte sogar einen hastigen Blick unter ihre Kapuze, mit dem er sich vergewissern wollte, dass es sich nicht nur um eine im Grunde hirnlose, menschenähnliche Maschine handelte, die da vor ihm saß. Erfunden und gebaut von ihrem kranken, dem Wahnsinn verfallenen Terrorregime. Er konnte nichts erkennen, dennoch begann hier eindeutig etwas schief zu laufen.

Inzwischen verlor die Begabte nämlich langsam die Kontrolle über ihren Körper. Thalen fiel zuerst ein leichtes Zittern in ihren Beinen auf, das ruckartig den Rest erfasste und immer heftiger wurde. Eigentlich wartete er nur noch auf den beißenden, seine Luftröhre verätzenden Rauch, die stiebenden Funken …

Dann schnellte die verhüllte Beamtin plötzlich von ihrem Sitz hoch und erschrak Lesandor, der sofort zurückwich, zutiefst. Total überrascht beobachtete er daraufhin, wie sie ein paar unbeholfene, extrem unkoordinierte Schritte in seine Richtung machte.

Entweder haderte die Psybegabte dabei aus irgendwelchen rätselhaften Gründen verbissen mit sich selbst, oder sie würde gleich explodieren und ihn umgehend mit ihren herumwirbelnden, glühend heißen Einzelteilen erschlagen.

Aber sie ging nicht in die Luft und rang sich am Ende, nach diesem mühevollen inneren Kampf sichtbar deutlich unter riesigem psychischen Druck stehend, eine endgültige Entscheidung ab. Lesandor wünschte sich die Richtige herbei.

»Bitte, öffne dich mir ohne Widerstand. Ich muss dir etwas Wichtiges zeigen.«

Während Ralissan den letzten Satz aussprach, umschlossen ihre gepanzerten Hände sanft sein Haupt.

***

Arin verbarg ihr Innerstes, machte sich dunkel und unsichtbar für die mentalen Blicke der menschlichen Gedankenleser. Sie hoffte inständig, dass ihre improvisierte Tarnung ausreichen würde, zumindest eine Zeit lang unbehelligt zu bleiben. Nur der praktische Test ihrer Fähigkeiten musste jetzt unbedingt klappen.

Sollte es schief gehen, blieb dem Mädchen einfach nichts anderes übrig als eine neuerliche Flucht.

Wenigstens darin habe ich ja Erfahrung, dachte sie betreten.

Während sie weiterhin tapfer ihre Angst bekämpfte und schließlich sogar in den Griff bekam, schwebte Arin bereits hoch über Thain Marandeus, der gigantischen Hauptstadt des Planetaren Bundes. Wie bei ihrem ersten Besuch erschauerte sie bei dem Anblick dieses tristen, überaus lärmenden Molochs, der grau die Erde bedeckte wie eine unheilbare Krankheit.

Trotz ihres Ekels vor dieser Abnormität konnte sie sich nicht davon losreißen und verharrte eine Weile, schlicht paralysiert durch ihr fasziniertes Grausen.

»Was machst du hier eigentlich?«, fragte sich die Kleine plötzlich verwundert.

Sofort schüttelte sie aufgebracht ihren Kopf und eilte ohne weitere Verzögerung durch einige dunkle Wolken in die Nähe seiner Wohnung. Dort wollte sie herausfinden, wohin Lesandor nach ihrem Rückzug gebracht worden war. Falls er überhaupt noch lebte.

Natürlich tut er das, versicherte sie sich dann umgehend ein weiteres Mal und untersuchte aus sicherer Entfernung die wenigen Zimmer. Sie entdeckte jedoch nirgends Wachposten.

»Ha, mit meiner Rückkehr habt ihr wohl nicht gerechnet«, freute sie sich leise über ihr unerwartetes Glück.

Das Kind lächelte zufrieden. Nun konnte sie wenigstens ungehindert damit beginnen, die Spur ihres Freundes aufzunehmen. Sie wusste ja leider nichts von den winzigen elektronischen Aufpassern, die in der gesamten Umgebung verteilt, ihre Arbeit präzise verrichteten. Anders als gedacht, hatten ihre Jäger sogar darauf gewartet, dass Arin genau diesen Fehler begehen würde.

***

In einem der unzähligen Holoräume, welche die Ratsbehörde für Technische Überwachung bereithielt, besetzte Elwor Gilrathi seinen Arbeitsplatz, einen schlichten, sich momentan gemächlich drehenden Sessel im Zentrum des runden Zimmers.

Durch dessen Bewegung behielt er seinen Überblick über die zehn aus den Linsen von Spionagedrohnen stammenden und um ihn herum übertragenen, hell leuchtenden Projektionen. Bereits seit seinem Dienstbeginn vor wenigen Stunden konzentrierte sich der Ratsdiener übertrieben gründlich auf die Bilder aus den menschenleeren Zimmern.

Nicht, dass es in diesem Maß nötig gewesen wäre. Aber Gilrathi nahm die ihm übertragene Pflicht ausgesprochen ernst. Ganz so, wie es Marandeus und seine Vorgesetzten zu Recht von ihm erwarteten. Vor allem, wenn die Lage so prekär war wie seit der ersten Infiltration des gefährlichen Fremden.

Abrupt wurde seine eintönige Bewegung unterbrochen. Elwors Sitz richtete sich extrem schnell auf die vom Balkon übermittelte Einstellung aus, wo plötzlich die kleine Gestalt eines roten Mädchens dabei aufgenommen wurde, wie sie sich hinkniete, hastig den Boden abtastete und offenbar nach einer Spur des verhafteten Abweichlers suchte.

Verwundert beobachtete der Beamte sein Zielobjekt eine Weile dabei. Er konnte es einfach noch nicht begreifen, dass der ganze Aufwand nur für sie veranstaltet wurde. Nach den Berichten seines Behördenleiters, von dem ihm diese streng geheime Mission anvertraut worden war, überraschte es Gilrathi sogar, kein sechsarmiges, geflügeltes Monstrum zu erblicken, welches Flammen spie und allein durch seine bloße Anwesenheit die Seelen der gesamten Bevölkerung verdarb.

»Das alles wegen eines Kindes?«

Nach diesem kurzzeitigen Zweifel erwachte endlich wieder seine ausgeprägte Loyalität dem Reich gegenüber und es wurde ihm sofort erschrocken bewusst, dass er sich keinesfalls durch Äußerlichkeiten täuschen lassen durfte. Weil das Böse schließlich in jeder beliebigen Form auftauchen konnte. Auch in der Gestalt einer Unschuldigen.

Hatte Marandeus in seinen Schriften nicht gerade vor dieser Gefahr gewarnt? Außerdem fand es Gilrathi mittlerweile unglaublich beschämend und äußerst anmaßend von sich, die Entscheidung des hochgepriesenen, von Gott persönlich erwählten Hohen Rates infrage gestellt zu haben.

Umgehend öffnete er seine erst vor Kurzem eingerichtete direkte Verbindung zu dem Holokommunikator des Vorsitzenden Deggard Holmbrok.

Nach dem Schichtende muss ich unbedingt diese unverantwortlichen Gedanken und meine Nachlässigkeit beichten, beschloss er reumütig.

»Ja!«, blaffte Gilrathi unterdessen eine mürrische und ausgesprochen verschlafen klingende Stimme an, die gut zu dem von ihm erdachten, Furcht erregenden Ungeheuer gepasst hätte. Wütend blickte ihn Holmbroks Abbildung in die Augen.

»Verzeihen Sie mir Hoher Rat Holmbrok. Ich wollte sie nicht wecken. Aber der gesuchte Eindringling ist in die überwachte Wohnung zurückgekehrt. Mir wurde befohlen, Ihnen dieses Ereignis sofort zu melden, Herr.«

»Keine Entschuldigung, es war meine persönliche Order. Was tut das Ding gerade?«

»Hm, die Kleine – äh, es befindet sich auf dem Weg zum Dach. Das Wesen hat, wie erwartet, die Fährte des Verhafteten aufgenommen.«

»Gut, verfolgen sie es weiter. In Kürze werde ich Sie kontaktieren. Halten Sie sich bereit.«

***

Deggard unterbrach unverzüglich das Gespräch. Diese Nachricht, die schlagartig seine Müdigkeit vertrieben hatte, erfreute ihn zwar ungemein und die gottgewollte Jagd würde ihn bald erfüllen. Doch musste zunächst sein Trumpf in diesem Spiel über die Begebenheit informiert werden. Wohin das Wesen unterwegs war, konnte Holmbrok sich ja bereits vorstellen.

»Das Ding ist also tatsächlich geistesarm genug, unser geheiligtes Thain Marandeus noch einmal mit seiner Anwesenheit zu besudeln. Bei Gottes gerechter Gnade, das wird es garantiert bitter bereuen«, versprach sich Deggard leise, während sein Komkontakt zum Hohen Rat Karden Skimrod aufgebaut wurde.

»Ah, du bist es Deggard. Ist es endlich soweit? Soll ich die Zwillinge vorbereiten?«

In Kardens ausgeruht klingender Stimme schwang eine kaum unterdrückte Erregung mit. Nun konnte er seine Schützlinge nach jahrelangem und äußerst hartem Training unter realen Kampfbedingungen einsetzen. Skimrod war diese Warterei enorm auf die Nerven gegangen.

Holmbrok verzieh ihm deshalb seine deplatzierte Freude. Wenn seine Mutanten genauso gut waren, wie sein Freund, langjähriger Kampfgefährte und Kollege immer betonte, würde es sowieso einen offiziellen Feiertag geben – im gesamten Reich. Deggard hoffte nur, dass sich die Beiden wirklich als nützlicher erweisen würden als seine fähigste Alpha, die er auch immer so gelobt hatte.

»Ja, Karden. Pack die Beiden schon mal in deinen Gleiter. Jetzt könnte alles recht schnell gehen. Ich werde dir die Koordinaten umgehend übermitteln.«

»Ich veranlasse sofort alle nötigen Maßnahmen. Wir werden bereit sein. Bis bald.«

Damit brach Skimrod die Verbindung ab, um seine Vorbereitungen durchzuführen, während Holmbrok sich entspannt und mit einem selbstsicheren Lächeln zurücklehnte. In Kürze würde die Angelegenheit entschieden sein.

Nur eine Tatsache enttäuschte ihn ein wenig. Von der erneut vereinten Suchmannschaft des Psychors, die seit der Flucht der Kreatur pausenlos ihre gesegnete Metropole überprüfte, um vor genau diesem Ereignis zu warnen, hatte der Hohe Rat weiterhin keinerlei Berichte erhalten. Obwohl die Psybegabten das Erscheinen dieses Fremdlings schon lange hätten entdeckt haben müssen.

»Es besitzt also ebenfalls psychisches Talent. Aber von Suchdrohnen und moderner Technik hat das Ding wohl nicht die geringste Ahnung«, brummte er befriedigt.

***

Nachdem Arin, ungesehen wie sie glaubte, auf dem Balkon gelandet war, entdeckte sie erschrocken etwas getrocknetes Blut auf dem rissigen Boden. Nur mühsam unterdrückte sie ihre tiefe Sorge und versuchte verzweifelt Lesandors vertrautes Wärmemuster unter den vielen in der Wohnung vorhandenen herauszufiltern.

Sie hoffte inständig, dass es überhaupt noch eines gab. Dessen ungeachtet fand sie schließlich total erleichtert seine langsam verblassende Spur, die dem Kind zumindest verriet, dass ihr Freund glücklicherweise am Leben gewesen war, als man ihn von hier verschleppt hatte. Sofort folgte sie den schwachen Leuchten, hinauf zum Dach des Gebäudes.

Oben war Thalen in einen dieser Gleiter, von denen Milliarden die dunklen Straßenschluchten der Stadt verstopften, verfrachtet und fortgebracht worden. Das Mädchen konnte sogar deutlich die starke Hitze der Turbinen dieser Maschine wahrnehmen und außerdem deren exakte Flugbahn im Auge behalten, da die Ratsdiener erfreulicherweise einen eigenen Bewegungskorridor besaßen. Wie Arin voller Erleichterung feststellte, als sie schnellstens die Verfolgung aufnahm. Wenige Augenblicke später erreichte sie ihr Ziel, das sie aus beträchtlicher Entfernung beobachtete.

Der gigantische schwarze Komplex tief unter ihr, der pure Gewalt ausstrahlte, jagte dem Mädchen einen Schauer über den Rücken. Wie sollte sie Lesandor da drinnen denn jemals finden? Aber sie riss sich gleich wieder zusammen und bezwang nochmals ihre lähmende Angst. Irgendwo in dieser Festung wurde ihr Freund gefangen gehalten und die Kleine dachte nicht daran aufzugeben.

Sie musste ihn retten, auch wenn ihre Suche lange dauern würde. Denn das Kind war es ihm einfach schuldig. Also dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie wohl am besten in das monströse Bauwerk eindringen sollte. Unerwartet drängte sich ihr eine andere Frage auf: Was geschah danach?

Selbst wenn es Arin gelang ihn zu befreien, auf der Erde gab es garantiert nirgendwo einen Platz, der ihm ausreichend Schutz bot. Sein Leben bestünde ausschließlich aus tödlicher Gefahr und ständiger Flucht.

»Was habe ich dir bloß angetan, Lesandor?«, flüsterte die Kleine plötzlich erschüttert.

Sie war nun wirklich außerordentlich bestürzt über die weitreichenden Folgen ihrer Kontaktaufnahme. Doch dieser schreckliche Gedanke hielt sie ebenfalls nicht mehr länger von ihrer Aufgabe ab. Vielleicht wusste ja Thalen eine Möglichkeit, dieser beinahe aussichtslosen Lage zu entkommen.

Zumindest machte sie sich mit diesem Gedanken etwas Mut. Gleich darauf sauste das Mädchen tapfer hinab zum düsteren Kerker.

***

Lesandor stöhnte kurz auf, als Ralissan eine Verbindung mit seinem Geist herstellte und einige ausgewählte Erinnerungen in sein Bewusstsein strömen ließ. Zuerst war es ausgesprochen unangenehm. Aber nachdem er den Widerstand dagegen einstellte und es einfach geschehen ließ, verschwanden die negativen, fast schon peinigenden Empfindungen augenblicklich.

Dann betrachtete Thalen, mittlerweile doch ziemlich neugierig geworden, die ersten auftauchenden Bilder, die in ihm abliefen wie Holoprojektionen. Zuerst erschien ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, der erbärmlich weinte und laut die dicht stehenden Passanten um ihn herum beschimpfte. Gleichzeitig wurde er recht rüde von seinen Eltern fortgeschleift.

Zum Ausgang der Ephestorianischen Abteilung, des Zoos im Sektor Innenstadt. Plötzlich erkannte Lesandor, dass er es selbst war, der da Rotz und Wasser heulte. Am Tag ihres unvergesslichen Familienausflugs, von dem er Arin erst vor Kurzem erzählt hatte und der ihm bei den gelegentlichen Besuchen seiner Sippschaft sogar bis heute vorgehalten wurde.

Lesandor benötigte einen Moment, bevor er diesen bizarren Perspektivenwechsel verdauen konnte. Sich aus den Augen eines anderen zu betrachten war zwar außergewöhnlich interessant aber auch reichlich verwirrend.

Parallel dazu bekam er Ralissans damalige Gefühle übertragen. Ihre unendliche Dankbarkeit und unfassbare Erleichterung, als Thalen ihren Verstand mit seiner lautstark ausgestoßenen Tirade vor der Selbstzerstörung bewahrte. Nur wenige Sekunden, bevor sie in ewig währenden Wahnsinn verfiel.

Seit diesem Ereignis war er von ihr als eine heldenhafte Lichtgestalt wahrgenommen worden. Einer unter Millionen, der diese empörende Ungerechtigkeit überhaupt wahrgenommen und sie dadurch endlich von ihrer gedanklichen Verschmelzung mit dem gefangenen Pärchen erlöst hatte.

Abrupt wechselte die Szene. Ein Büroraum erschien, in dem er – sie einsam und unsäglich traurig stand, weil ihr Vater gerade gegangen war. Er hatte sie arglos und vor allem ganz alleine in dieser fremden, unglaublich einschüchternden Umgebung zurückgelassen. Im Rektorat der neu geschaffenen Lehranstalt ihrer Regierung, die für diese gerade eben entdeckten Begabten zuständig war.

»Willkommen, Ralissan. Wir werden bestimmt gut zusammenarbeiten«, sagte der lächelnde Mann mit den kalten, toten Augen zu ihm – ihr, als eine wahre Flut von Sinneseindrücken sein Gehirn erfüllte und das Nervensystem fast überlastete.

Bereits der Beginn ihres Leidensweges strahlte kummervolle Verlassenheit, irrsinnige Verzweiflung und einen so tief empfundenen Schmerz aus, wie Thalen ihn niemals zuvor erlebt hatte. Nicht einmal bei sich selbst. All das überflutete ihn schlagartig und er wunderte sich, wie sie es bloß aushielt, ohne daran zu zerbrechen.

Wieder änderte sich die Umgebung blitzschnell mit samt den Akteuren. Ralissan verblieb als einzige Konstante. Sie war jetzt im ersten Jahr ihrer Ausbildung, in dem sie eine Vielzahl unangenehmer psychologischer Tests und eine Menge belastender physischer Versuche über sich ergehen lassen musste.

Außerdem erduldete sie tapfer ihre andauernde Indoktrination, deren widerwärtiger Tenor ihn innerlich verkrampfte und zugleich gallebittere Übelkeit verursachte. Thalen begleitete die Alpha weiter durch ihre junge, von der Behörde vorsätzlich verdorbene Existenz, die offenbar ausschließlich aus mühevoller Qual bestanden hatte.

Es folgte weiterhin nichts anderes. Das Nächste, was er erlitt, war nämlich, wie sie zuerst trainiert wurde, Menschen zu erkunden. Lesandor – Ralissan entriss Hunderten unfreiwilligen Probanden ihre verborgenen Gedanken und geheimsten Emotionen. Im Lauf der Jahre wurde sie immer gründlicher, vollständiger, schneller.

Zusätzlich musste Nolder lernen, wie sie ihre eigenen Gefühle unterdrücken und auf Kommando abschalten konnte. Genauso wie ihr Ego. Selbst darin gelangte sie zur Meisterschaft. Ebenso wie im dritten großen Teil ihrer Lehre, den brutalen Nahkampfübungen in voller Montur. Um gleich als effektiver Vollstrecker agieren zu können.

Die unendliche Anzahl an Verboten, Befehlen und Pflichten schoss daraufhin durch seinen Kopf. Der junge Mann konnte sie eigentlich gar nicht mehr richtig auseinanderhalten oder überhaupt noch verstehen. Die Hauptdirektive blieb jedoch hängen: Gehorche und diene deinen Vorgesetzten – Gott.

Diese ersten, außerordentlich harten Jahre ihrer Formung waren unterlegt mit blankem Hass, reiner Verachtung und purem Abscheu. Während Lesandor beinahe nichts mehr aufnehmen konnte – inzwischen ganz und gar abgefüllt war – kam der abschließende, für sie unangenehmste Teil.

Ihre unabwendbare Berufung in das Psychor wurde vollzogen und sie bekam die echte Schutzausrüstung mitsamt der dunkelblauen Robe überreicht. Mit einem frommen Gebet auf den Lippen legte sie diese Utensilien an. Für den Rest ihres Lebens sollte sie damit vor der Gesellschaft und allen ihren weltlichen, ungemein zersetzenden Einflüssen geschützt werden.

Zum Abschluss gewährte Nolder ihm einen Blick in die letzten Jahre, in denen sie rein auf ihren Dienst als Alphabegabte reduziert war, der unzähligen Menschen die Freiheit gekostet hatte. Manchen sogar das Leben. Diese Ermittlungen, Festnahmen und Exekutionen waren für Ralissan die absolut unverzeihlichsten Taten.

Und ihre gesamte Beamtenkarriere hatte wohl daraus bestanden. So kam es Lesandor zumindest vor. Unerwartet brach die Verbindung ab. Folglich verharrte er, kurzzeitig orientierungslos, in einer äußerst angespannten Position und verarbeitete angestrengt dieses Geschehen. Unterdessen lösten sich ihre Hände langsam, ganz sachte von seinen Wangen.

Danach sank sie abgehackt, völlig unkontrolliert vor ihm auf die Knie. Fahrig zog sie sich die Kapuze herunter und öffnete ungeschickt ihren Helm, den sie achtlos auf den Boden warf. Sie entblößte somit verbotenerweise zum ersten Mal seit ihrer Weihe zur Psybegabten ihr schönes, überaus bleiches Gesicht, dessen große, hellblaue Augen weit offen standen und sich zögerlich mit klaren Tränen füllten, die unaufhaltsam ihre hohen Wangenknochen herab liefen. Thalen betrachtete indes ratlos ihr trauriges Antlitz. Ihm stachen dabei sofort ihre zitternden, strahlend roten Lippen ins Auge. Sein Hass erlosch umgehend. Zumal er jetzt den Menschen erkannte, dem generell nichts mehr von dieser maschinenhaften Überlegenheit übrig geblieben war, mit der sich Talentierte normalerweise präsentierten. Im Grunde eine willkommene Neuigkeit. Allerdings verspürte Lesandor nicht einmal den leisesten Hauch eines Triumphs, sondern schlichte Anteilnahme an ihrem grausamen Schicksal.

Ohne weiter darüber nachzudenken, glitt er von seiner Sitzfläche. Was mit seinen gebundenen Händen gar nicht so leicht war. Anschließend kauerte er sich ungeschickt vor sie hin und betrachtete ihre zarte, so verletzlich wirkende Miene. Seltsamerweise überkam Thalen ein irrationaler Impuls, der ihn dazu verleitete, sie sanft auf den blonden Kopf zu küssen.

Er legte hinterher vorsichtig sein eigenes Haupt auf ihre rechte Schulter. Dort spürte er ihre Wärme und roch ihren sauberen, überaus angenehmen Duft.

Was haben sie dir all die Jahre bloß angetan, schauderte ihn und er flüsterte in ihr Ohr: »Weine. Schreie. Du hast alles Recht dieser Welt dazu.«

Und sie tat es.

***

Der Zentralcomputer schaltete sich automatisch ein, als bereits seit zehn Minuten keine verbalen Äußerungen mehr registriert wurden. Den ständig aufgezeichneten Vorgang analysierend, kam der Rechner zu dem Schluss, dass ein außerplanmäßiger Abbruch des Verhörs stattgefunden hatte.

Sogleich führte die Maschine ihr internes Sicherheitsprogramm aus. Sekundenbruchteile später informierte eine kühle Stimme das Wachpersonal dieses Sektors der Station.

»Psybegabte Stufe Alpha, Ralissan Nolder, Zelle 1024B, hat vor 001038 Befragung eingestellt. Emotionale Störzustände werden aufgezeichnet.«

Während sich der Warnhinweis wiederholte, sprang ein gut gedrillter Beamter sofort auf. Er sah überrascht seinen Kameraden an, der gerade genüsslich einen braunen Nahrungsriegel verspeiste.

»Verdammt! Ich glaube, eine dieser Psybegabten hat einen Zusammenbruch gehabt. Wir sollten unbedingt los und die Lage klären.«

Sein Kollege schluckte ruhig den letzten Bissen herunter, trank hastig einen Schluck Wasser direkt aus der Plastikflasche und antwortete: »Natürlich, wir dürfen auf gar keinen Fall noch mehr Zeit verlieren!«

***

»Die Überwachungsdrohnen waren zu langsam und wurden abgehängt. Aber die Kleine – äh, es hat sich meinen Berechnungen zufolge auf den Weg zum Zentralgefängnis gemacht. Wahrscheinlich wird das Wesen – hm, in circa zwei Minuten dort eintreffen. Oder bereits da sein.«

Nachdem er Deggard diese unerfreulichen Neuigkeiten mitgeteilt hatte, zuckte Ratsdiener Gilrathi bedauernd mit den Schultern. Eine äußerst hilflose Geste, die seine nervöse Unsicherheit ausdrückte. Eigentlich erwartete er nun eine aufgebrachte, äußerst unerquickliche Reaktion.

Doch Holmbrok schwieg einfach nur einen kurzen Augenblick und starrte nachdenklich durch Elwor hindurch. Unerwartet unterbrach der Hohe Rat dann die Verbindung. Fast im gleichen Moment öffnete er hastig eine neue, denn sein Ratskollege Skimrod musste unverzüglich benachrichtigt werden.

Nach wenigen Sekunden erschien die Holoprojektion des zerknitterten, ausgesprochen runzligen Gesichts seines engsten Vertrauten, dessen Mund sich sofort zu einem strahlenden Lächeln verzog, das jedoch nicht seine eisigen Augen erreichte.

»Seid ihr bereit, Karden?«

»Selbstverständlich, mein Freund. Wir befinden uns bereits in der Luft. Wohin sollen wir fliegen?«

»Das Ding will, wie vermutet, den menschlichen Verräter befreien und wird in Kürze dort eintreffen. Du kennst den Weg.«

»Danke. Ich melde mich sofort, wenn alles gelaufen ist. Bis bald, Deggard.«

Nachdem die Beiden ihr Gespräch beendet hatten, kam noch die Leitung der Haftanstalt an die Reihe, die auf keinen Fall unvorbereitet von dem Eindringling überrascht werden durfte. Das Abbild des Kommandeurs der Strafbehörde salutiere schneidig, als der Hohe Rat ihn kontaktierte.

»Das gesuchte Ding ist unterwegs und könnte jeden Moment eintreffen. Die Kommandos Blau, Gelb und Rot sollen sich sofort auf ihren Einsatz vorbereiten. Beeilung, Mann!«

***

Ralissan beruhigte sich erstaunlich schnell. Behutsam löste sie sich daraufhin von Lesandor, wischte ihre letzten Tränen von den Wangen und stand auf. Ohne ein weiteres Wort trat sie danach hinter ihn.

Noch ist es nicht zu spät deine Pflicht zu erfüllen, ermahnte sie der gewissenhafte, mittlerweile äußerst unzufriedene Teil ihrer selbst, als sie auf seinen verletzten Hinterkopf blickte.

Wenn sie sogleich das Todesurteil vollstreckte, würde ihr Versagen bestimmt großzügig übergangen werden. Da war die Alpha sich ziemlich sicher.

Trotzdem könnte ich mir selbst niemals mehr vergeben, entschied sie sich nun endgültig dagegen und verbannte die fordernde Stimme aus ihrem Verstand.

Anschließend befreite sie ihn von seinen unbehaglichen Fesseln. Innerlich mit sich im Reinen genoss Nolder ihre Entscheidung, während sie zugleich die Stille unterbrach.

»Es tut mir wirklich sehr leid.«

Obwohl sie eigentlich wusste, dass dieser Satz nicht ausreichen konnte, um alles wieder gut zu machen, was sie ihm bereits angetan hatte, musste es einfach aus ihr heraus. Aber Thalen achtete gar nicht weiter auf ihre Worte. Stattdessen umarmte er die Alpha unerwartet heftig mit seinen endlich erneut einsetzbaren Armen und drückte sie so fest an sich, dass ihr fast die Luft wegblieb.

»Ich danke dir! Ich hatte nämlich schon befürchtet, dass du mich auf der Stelle – oje, das ich hier sterben würde. Keine sehr angenehme Vorstellung, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst.«

Irgendwie konnte Lesandor es gar nicht richtig begreifen, dass ausgerechnet sein Richter und Henker sich unerwartet als Freund zu erkennen gegeben hatte. Sogar als einer aus seiner Kindheit, der ihm bisher völlig unbekannt gewesen war.

Nach einer Weile ließ er Ralissan widerwillig los, streckte stöhnend seinen steifen Körper und massierte umgehend etwas Gefühl in seine tauben Hände. Wohlig seufzend erfreute er sich an dieser lindernden Prozedur und sah derweil Nolder fragend an.

»Was machen wir jetzt?«, erkundigten sich plötzlich beide gleichzeitig und lachten kurz gemeinsam über diesen Zufall.

Die Psybegabte antwortete zuerst: »Das alles kam relativ überraschend und ich entschloss mich sehr spontan dafür dir beizustehen. Deshalb habe ich mir auch gar keine Gedanken über eine mögliche Flucht gemacht. Ich ahnte ja nicht einmal, dass es überhaupt so weit kommen könnte.«

»Wie sieht es hinter der Tür aus? Wo genau befinden wir uns gerade?«

»Im 23. Untergeschoss des Zentralgefängnisses, Block 12. Wenn wir den Gang hinter der Tür rechts entlang gehen, kommen wir zu den Aufzügen, die uns direkt in die Haupthalle bringen. Von dort aus ist es nicht mehr weit in den Sektor Innenstadt. Das Problem ist im Wesentlichen, dass der Zentralcomputer meinen Verrat gewiss aufgezeichnet und weitergeleitet hat.«

Bei Marandeus, ich bin inzwischen tatsächlich eine Ausgestoßene, fiel ihr übergangslos auf.

Diese ungewohnte, dennoch außerordentlich befreiende Situation erfüllte sie mit einem guten Gefühl tiefster Zufriedenheit. Genau auf diese schicksalhafte Begegnung hatte sie scheinbar unterbewusst immerzu gewartet.

»Außerdem ist der gesamte Komplex in Alarmbereitschaft, weil mit einer möglichen Befreiung gerechnet wird.«

»Wegen Arin?«

»Ja. Hoher Rat Holmbrok geht davon aus, dass sie es versuchen wird.«

»Das kann doch nicht wahr sein. Wie sollte sie das bloß hinkriegen? Wir sprechen schließlich über ein kleines Mädchen.«

»Mit großen psychischen Potenzial.«

»Nein, vergiss es. Sie ist in Sicherheit und wird es hoffentlich bleiben. Machen wir uns lieber Gedanken darüber, wie wir alleine hier rauskommen.«

Ein schier unmögliches Wagnis, wenn hier alle Wachen gleichfalls auf ein für sie vorstellbares Auftauchen seiner kleinen Freundin aufpassten.

Welche Möglichkeiten stehen uns also offen?, dachte Thalen verzweifelt.

»Leider keine, befürchte ich. Vermutlich werden wir hier sterben oder gefangen genommen«, schätzte Ralissan ihre Chancen realistisch ein.

»Nein, es muss einen Weg geben und wir beide werden ihn schon finden. Ach, übrigens – dringe bitte nicht mehr in meinen Verstand ein. Das menschliche Hirn mit all seinen Inhalten ist ursprünglich etwas sehr privates gewesen. So seltsam dir das vielleicht vorkommen mag, ich möchte das grundsätzlich nicht mehr!«

Die Begabte wollte ihm gerade etwas entgegnen, als sich die Zellentür zwei Wächtern öffnete, die sofort ihre Waffen durchluden.

»Alphabegabte Nolder, was ist hier los? Warum hat der Gefangene keine Fesseln mehr?«, schrie einer der kriegerischen Ratsdiener.

Ralissan hob beruhigend ihre Hände.

»Hier gibt es keine Probleme. Alles ist in bester Ordnung.«

Ob sie ihr das abnahmen, erfuhren Nolder und Lesandor nicht mehr, denn die Soldaten verschwanden im nächsten Augenblick. Sie stürzten schlicht durch eine unerwartet unter ihnen entstandene kreisrunde Öffnung. Thalen und die Alpha hörten hinterher verblüfft, wie ihre Körper auf dem Boden der darunter liegenden Ebene aufschlugen.

Gleich darauf schoss eine kleine Gestalt aus diesem Loch empor und stoppte abrupt über dessen Zentrum, wo sie für einen kurzen Moment schweben blieb.

»Lesandor, endlich. Ich dachte schon, ich würde dich hier niemals finden!«, rief das Kind voller unfassbarer Begeisterung.

Prompt fielen sich die Beiden erleichtert in die Arme und lachten laut ihr Glück hinaus. Dann drehten sie sich vor unbeschreiblicher Freude mit fest geschlossenen Augen um Lesandors Achse.

»Weißt du, Arin, du bist schon ganz schön verrückt«, prustete er los, »und dafür danke ich dir – von ganzen Herzen!«

»Ich konnte dich keinesfalls im Stich lassen! Wir hatten uns im Grunde nicht mal richtig verabschiedet«, scherzte das Mädchen freudestrahlend.

Unterdessen wurde ihr eine tonnenschwere Last von den schmalen Schultern genommen. Er lebte und dies war für sie das Allerwichtigste. Arin öffnete langsam ihre Lider und sah zuerst zufrieden in sein Gesicht, nachher zufällig kurz über seine Schulter. Schlagartig verwandelte sich ihre Miene. Sie wurde augenblicklich ungemein kühl und wirkte plötzlich extrem angespannt.

»Oh – du …«

Ralissan räusperte sich schüchtern, brachte jedoch keinen Ton hervor. Wie sollte sie ihr das alles nur erklären und um Verzeihung bitten? Sie fand ohnehin nicht die passende Entschuldigung. Aus diesem Grund stand sie schlicht verlegen rum und dachte weiter angestrengt über ihre Optionen nach. Unterdessen unterbrach Lesandor die peinliche Stille.

»Arin, dies ist Ralissan, glaube ich. Ja, Ralissan Nolder. Sie hat beschlossen uns zu helfen. Ralissan, das ist Arin – ähm, ausschließlich Arin. Wir sollten lieber abhauen. Alles Weitere können wir sicherlich später klären.«

***

Der Gleiter des Hohen Rates Skimrod landete im Hangar des Zentralgefängnisses.

»Nun gehörst du uns!«

Kurz, bevor die Triebwerke abgeschaltet wurden, teilten ihm die Zwillinge jedoch telepathisch mit, dass sie niemanden mehr vorfinden würden und auch im Psyraum keine auffälligen Muster entdeckt werden konnten, die auf den gesuchten Eindringling hinwiesen.

Einen kurzen Augenblick saß Karden einfach nur fassungslos in seinem Sessel. Erst dann breitete sich tiefe Enttäuschung in ihm aus, die ungestüm in Form eines unglaublich heftigen Tobsuchtsanfalls aus ihm hervorbrach. Untermalt mit schrillem Gezeter, das durch die engen Gänge der Maschine hallte, tobte er daraufhin durch den kleinen Raum. Dabei trat und schlug er wie irre um sich. Gleichzeitig zerrte er an seinen kostbaren Gewändern, raufte sich das schüttere Haar. Nach wenigen Minuten, in denen er sich total verausgabt und an den Rand eines Herzinfarkts manövriert hatte, beendete der Hohe Rat diese enthemmte Zurschaustellung purer, überaus verzweifelter Frustration.

Abermals atmete er tief ein und brachte dabei seine zerzauste Frisur in Form. Danach richtete Karden ebenfalls umsichtig seine Kleidung, bevor er, wieder ganz ehrwürdiges Ratsmitglied, eine Holoverbindung zu seinem Piloten öffnete.

»Wie ist die Lage?«

»Herr, das gesuchte Wesen hat den Inhaftierten befreit und sie sind entkommen. Kommandoführer Blau hat gerade mitgeteilt, dass sie ein Loch im Boden entdeckt haben, und einige mehr in der darunter liegenden Ebene.«

»Konnte er schon feststellen, wohin sie geflohen sind?«

»Nein, Herr. Aber sie folgen der Spur und werden uns bei Erfolg sofort informieren.«

»Gut, starten Sie umgehend.«

Karden wollte den Kontakt schon unterbrechen, als das Hologramm des Beamten vor ihm sich leise räusperte. Skimrods gerade bezwungene Spannung wuchs abermals an.

»Da ist noch etwas Bizarres geschehen, Herr. Alphabegabte Nolder, die das Verhör leitete, hat sich vom Licht unseres Gottes Marandeus abgewandt und ist desertiert. Die Aufzeichnungen darüber werden gerade an Hohen Rat Holmbrok übertragen.«

***

Rasend schnell schossen die drei Flüchtlinge währenddessen durch weite Gänge, enge Röhren und jede Menge kreisrunder Löcher, von denen Lesandor und Ralissan freilich so gut wie nichts mitbekamen, da nur wirre, unkenntliche Schatten an ihnen vorbeihuschten.

Bereits wenige Lidschläge nach ihrem Aufbruch endete ihr rasender Flug und sie hielten in einem heruntergekommenen, mit Müll vollgestopften Hinterhof eines verlassenen Gebäudes. Hier setzte Arin ihre Passagiere behutsam ab.

»Fantastisch, einfach unglaublich!«, jubelte Thalen sofort.

Dabei breitete er hocherfreut und überschäumend vor Begeisterung seine Arme aus. In dieser Siegerpose verharrte er jedoch bloß für kurze Zeit.

Wir sind diesem Albtraum wirklich entkommen, begriff er erst jetzt so richtig.

Eben waren sie noch Gefangene ohne irgendeine Alternative gewesen und nun standen hier unverhofft freie Menschen, die sich zwar weiterhin in einer ausweglosen Lage befanden, aber wenigstens nicht mehr in der Zelle.

»Wir sollten möglichst bald aufbrechen. Wo sind wir hier eigentlich, Arin?«

Sie sah ihn überrascht an.

»Wir befinden uns in der Nähe deiner Wohnung, wenn dir diese Information weiterhilft.«

»Hm, eigentlich nicht«, antwortete er und dachte plötzlich mit Bedauern an einige seiner persönlichen Dinge, die nun leider für immer verloren waren.

Doch trauerte er diesen Verlusten nur einen kurzen Moment hinterher. Weil im Grunde ja nichts Unersetzbares dabei gewesen war. Und das wichtigste Gut – sein Leben, hatte Arin immerhin gerettet.

***

Ratsdiener Elwor Gilrathi hatte inzwischen diese äußerst interessante Wohnungsüberwachung beenden dürfen. Nun saß er an seinem Arbeitsplatz und formulierte gerade konzentriert den Abschlussbericht. Plötzlich öffnete sich die Tür zu seinem Büro. Vier Elitesoldaten der Ratsgarde marschierten umgehend herein.

Dicht hinter ihnen folgte der Hohe Rat Holmbrok höchstpersönlich! Ein wirklich unerwarteter Besuch, der Elwor bei Gott nicht sonderlich gefiel.

»Oh, Herr, welch außergewöhnliche Ehre!«

»Genug davon«, donnerte Holmbrok, ohne sich lange mit irgendwelchen lästigen Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.

Sofort spürte der Beamte dessen immensen Zorn fast auf seiner Haut brennen und eingeschüchtert betete er inständig, jemand anderes möge der Grund dafür sein. Denn er konnte ja schließlich auch nichts dafür, dass es dem Mädchen – diesem Ding – geglückt war, seinen Spionagedrohnen zu entkommen.

»Wie viele Überwachungseinheiten befinden sich in einem einstündigen Entfernungsradius zum Sektor Innenstadt?«

»Äh, ich schätze so an die Fünfzigtausend könnten es in gewünschter Zeit schaffen, Herr«, entgegnete der Ratsdiener zaghaft, nachdem er kurz mit dem Zentralrechner kommuniziert hatte.

Sofort präzisierte er seine Angaben.

»Doch dreißigtausend davon erfüllen gerade äußerst wichtige Missionen, die wir gegenwärtig keinesfalls unterbrechen dürfen. Meine Kollegen wären gar nicht angetan davon, Herr.«

Deggard Holmbrok überlegte einen kurzen Augenblick und befürchtete, dass es seine ebenfalls nicht im Mindesten sein würden, wenn sie von seinem Befehl erfuhren.

»Gut, bereiten sie alle vor. Ich will die Maschinen mit dem mittlerweile bekannten Suchmuster in einer Stunde im gesamten Sektor Innenstadt verteilt haben. Besonders viele in der Nähe des alten Raumhafens … Zusätzliche dreitausend in den dortigen Untergrundsystemen.«

Gilrathi schluckte erschrocken.

»Aber das ist nicht durchführbar, Herr …«

Deggard achtete gar nicht auf seinen Einwand.

»Sie haben ihre Anweisungen. Also beginnen Sie lieber mit Ihrer Arbeit.«

***

Sie mussten hier weg, und zwar schnell. Deshalb bestimmte Lesandor einfach, wo es hingehen sollte.

»Bring uns doch zum alten Raumhafen, Arin. Du erinnerst dich sicherlich noch an diesen riesigen Komplex, der gut von meinem Balkon aus zu sehen war. Ich kenne dort ein ungemein brauchbares Versteck, in dem wir hoffentlich sicher sind.«

Gleich nach diesen Sätzen fiel ihm ein, dass sein regulärer Schichtbeginn hier bereits vor ein paar Stunden angefangen hatte. Aber das war ja mittlerweile auch schon egal, denn er würde ganz bestimmt nie wieder ein normales Arbeiterleben der Klasse C beginnen können.

Tja, damit musst du nun wohl endgültig abschließen, kam es ihm nicht gerade sehr bedauernd in den Sinn und er feixte zufrieden.

Nach dieser überaus freudigen Einsicht erklärte er Arin ausführlich, wo genau sie landen sollte.

»Und schmelze bitte nirgends Löcher rein wie in gewisse Balkondecken und so. Wir müssen unbedingt jede Aufmerksamkeit vermeiden«, fügte er am Ende hinzu und lächelte ihr dabei frech ins Gesicht.

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2008 by Lorens Karaca