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Das Christkindchen

Georg Keil
Märchen und Geschichten eines Großvaters

Das Christkindchen

In einer elenden Kammer ganz oben unter dem Dach lag in einem ärmlichen Bettchen auf Stroh ein krankes Kind. Es war mit einem alten, zerrissenen Mantel zugedeckt. Den hatte es bis an die Nase herangezogen, denn es war so kalt.

Das Kind war ein Mädchen, noch nicht älter als fünf Jahre.

Viele Wochen lang hatte es das Fieber gehabt, und es war so schwach, dass es sich nicht auf den Beinchen erhalten konnte. So musste es den ganzen Tag auf dem harten Lager liegen, und das war recht hart!

Seine Mutter war eine arme Frau. Sie verdiente sich kümmerlich ihr Brot mit Waschen, Scheuern und sonstiger Handarbeit. Das war so wenig, was sie verdiente, dass es kaum zum Brot für sich und ihr Kind hinreichte. Das kranke Kind bekam weder Arznei noch sonst etwas zu seiner Erquickung.

Den ganzen Tag lang war die Mutter außer Haus. Sie musste sehr früh ausgehen nach ihrer Arbeit und kam erst spät am Abend zurück. So war das kleine Mädchen den ganzen Tag allein in der kalten Kammer und hatte keinen anderen Zeitvertreib, als dass es auf das Rascheln der Mäuse im Stroh seines Bettchens hörte oder einem Mäuschen zusah, wenn es über die Diele lief, nach einem Krümchen Brot suchte und doch keines fand. Das war aber ein trauriges Leben!

Heute war der heilige Weihnachtsabend und ach so kalt.

Das arme, kranke Kind fror unter dem zerrissenen Mantel und seine Zähnchen klapperten vor Kälte. Es war schon lange Abend, und die Mutter kam noch nicht. Sie hatte ja heute mehr zu arbeiten wie gewöhnlich, wegen des Festes. Deshalb war sie noch nicht nach Hause gekommen. So lag das arme Kind einsam und hungrig in der kalten, dunkeln Kammer und dachte: Ach! Wenn doch die Mutter nur käme und dir ein Stückchen Brot brächte!

Aber die Mutter kam noch nicht!

Da fing es draußen auf der Gasse an hell zu werden und alle Glocken auf den Türmen läuteten, und die Leute auf derGasse lachten und sangen; es war ja Weihnachtsabend, wo alle Menschen fröhlich sind! Mit einem Mal wurden die Fenster des großen Hauses gegenüber hell, sodass der helle Schein zu dem einzigen kleinen Fenster der Bodenkammer hereinfiel und das Fensterchen mit seinen geflickten Scheiben an die Wand malte, gerade über dem Bettchen des kranken Kindes.

Ach, jetzt kommt das Christkindchen zu den guten Kindern der reichen Leute und bringt ihnen Pfeffernüsschen, Äpfel und Nüsse; das muss so herrlich sein!

So dachte das Kind, und die Mutter hatte ihm am Morgen gesagt: »Bleibe recht ruhig in deinem Bettchen liegen, so kommt das liebe Christkindchen am Ende wohl auch zu dir! Aber du darfst gar nicht weinen, denn mit den Kindern, die da weinen, will das Christkindchen nichts zu tun haben!«

Das arme Kind fror immer mehr, aber es weinte nicht. Sein Hunger wurde immer stärker, aber es weinte nicht. Es wurde ihm ganz schauerlich und bange in der einsamen Kammer, aber es weinte nicht. Es wartete still und dachte: Du liebes Christkindchen, du hast wohl keine Zeit und kannst nicht zu mir kommen, weil du mit den guten reichen Kindern so viel zu tun hast! Aber schicke mir doch die Mutter, dass sie mir ein Stückchen Brot bringt, ich hungere ja so sehr.

Aber die Mutter kam noch immer nicht!

Knarr! Knarr! erscholl es draußen auf der kleinen Treppe. Die Tür sprang auf, da glänzte und flammte die ganze Kammer wie lauter Feuer. Das kranke Kind musste seine Augen schließen, so blendete es der feurige Schein, und es verkroch sich unter den alten Mantel.

Später lauschte es ein bisschen unter dem Mantel hervor. Da saß das Christkindchen in einem schneeweißen Gewand neben seinem Bettchen. Da stand ein prächtiger Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern. An seinen schönen grünen Zweigen hingen viele, viele prächtige Äpfel mit roten Bäckchen, goldene Herzen, silberne Nüsse, bunte Schlangen und Sterne. Ganz oben auf der Spitze saß ein schöner Engel mit großen goldenen Flügeln. Auf dem Tisch daneben lagen die allerherrlichsten Sachen, Hemdchen und Strümpfe, ein warmes Röckchen, eine Puppe mit ordentlichen Kleidern, Weihnachtskuchen, Pfeffernüsschen und gar viele Dinge mehr.

»Bist du denn so allein, du armes Kind?«, fragte das Christkindchen und fasste seine erstarrten Hände. »Ei, wie du frierst und zitterst! Sieh doch, das hat dir das Christkindchen gebracht, und das gehört alles dir! Nun sei recht froh!«

Aber das kranke Kind war stumm vor Erstaunen und konnte kein Wörtchen sprechen. Es musste seine Augen wieder schließen, denn der Glanz tat ihnen so weh.

Als es nach einer Weile die Augen wieder öffnete, da war das Christkindchen verschwunden; aber der Baum brannte und glänzte fort und fort, und die schönen Sachen lagen noch alle auf dem Tisch.

Über die Straße schlich nun die arme Mutter, Kummer im Herzen und Tränen in den Augen. Sie hatte ja nichts, womit sie ihr krankes Kind erfreuen konnte, an dem Tag, wo alle Kinder sich freuen, nichts als eine kleine weiße Semmel statt des sonst schwarzen Brotes. Die reichen Leute, für die sie gearbeitet hatte, hatten in ihrer Freude über die Weihnachtsbescherung für ihre Kinder vergessen, der armen Frau ihren verdienten Lohn zu geben; denn die reichen Leute denken, wenn sie selbst Freude haben, oftmals nicht an die Armen, und sie wissen oft gar nicht einmal, was Armut ist.

Die Mutter kam die Treppe herauf und öffnete die Kammertür. Ach, du mein Himmel! Wie erstaunte die, als sie den brennenden Baum und die reiche Bescherung erblickte! Sie konnte gar nicht sprechen vor Erstaunen und wusste nicht, was sie davon denken sollte!

»Ach Mutter!«, sagte das kranke Kind, »das Christkindchen ist dagewesen und hat mit mir gesprochen, hat mich gestreichelt, den schönen Christbaum hat es gebracht, und das alles soll mein sein! Ich habe auch gar nicht geweint!«

Und die Kummertränen der Mutter verwandelten sich in Freudentränen. Sie faltete die Hände zum Dankgebet. Auch das kranke Kind faltete seine Händchen wie die Mutter und betete mit, so gut es eben konnte.

Auch die Mutter war nicht vergessen bei der Bescherung.

Zehn blanke Taler lagen auf dem Tisch für sie, und vor der Kammertür war ein Haufen Holz aufgeschichtet, damit das Kind nicht mehr so frieren sollte.

Elise, die Tochter eines reichen Kaufmannes, der erst seit Kurzem in demselben Hause wohnte, war aber der Engel, den das kranke Kind für das Christkindchen gehalten hatte.

Elises Mutter hatte von der Armut und Rechtschaffenheit der Frau und von ihrem kranken Kind gehört und ihrem Töchterchen Elise davon erzählt. Diese bat um die Erlaubnis, dem Kind eine Weihnachtsfreude machen zu dürfen, und hatte in den letzten Wochen nur für das arme Kind gearbeitet, genäht, gestrickt und den Weihnachtsbaum angeputzt. Ihre Mutter hatte noch mancherlei hinzugefügt zu den Geschenken, auch die zehn blanken Thaler und das Holz für die arme Frau. Heute, am Weihnachtsabend, hatte Elise den Baum und die übrigen Geschenke mithilfe eines Dieners hinaufgetragen in die dunkle Bodenkammer. Das Kind war aber so geblendet vom Glanz der vielen Lichter, dass es von dem allen nichts gesehen hatte.

Und nun bekam Elise selbst ihre reiche Bescherung, und die war so prächtig, und ihre Freude darüber war so groß!

Aber die Freude, welche sie empfunden hatte, als sie für das kranke Kind nähte, strickte, den Christbaum anputzte und ihn in die kleine finstere Kammer stellte, die war doch noch größer als die Freude, welche sie über ihre eigenen Geschenke empfand. Sie war auch mehr wert!