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Die Waldmühle – Kapitel 3

Die Waldmühle
Ein Märchen aus Robert Reinicks Märchen- Lieder- und Geschichtenbuch, 1873
Kapitel 3

m anderen Morgen, es war ein Sonntag, erwachte der Soldat erst, als die Sonne seinen roten Schnurrbart schon über und über vergoldete.

Das Erste, was er zu Gesicht bekam, war die schwarze Henne. Im Bett, das neben dem seinen stand, saß sie auf dem Kopfkissen. Sie schlug mit den Flügeln und sah eifrig zum Fenster hin. Kurios! Da stand draußen der zottige alte Esel und beschnupperte die Scheiben. Er grinste mit dem garstigen Maul der Henne entgegen, als ob er ihr einen guten Morgen böte.

Das stille Mienenspiel der beiden Tiere machte dem lustigen Bruder eine Zeit lang vielen Spaß.

Wie nun die Henne ihre Flügel immer höher und höher erhob, sah er unter ihrem Leib etwas glitzern.

»Her damit!«, rief er und zog es ihr unter den Federn hervor.

Es war das geliebte Schlüsselbund, dem er eine so wohlschmeckende Mahlzeit verdankte. Die Henne erschrak und geriet wie gestern in Wut. Wie sie aber eins auf den Schnabel bekam, floh sie hinter den Ofen und der Eselskopf verschwand vom Fenster.

Alle diese Begebenheiten hätten jedem anderen Staunen, wo nicht gar Gruseln erregt und allerlei tiefsinnige Betrachtungen hervorgerufen. Hans Quäckenberger aber kannte weder Furcht noch Grübeleien. Im Nu war er aus dem Bett und machte bald mit dampfender Pfeife – es war eine von den langen in der Schlafkammer – die Runde durchs Haus.

In Stube und Küche fand er alles wie am Tage zuvor. Als er auf die Kammer zuging, wo er gestern die Taube gesehen hatte, hielt er plötzlich inne. Bald trieb es ihn hinein, bald hielt es ihn zurück. Das kam von einem Traum her, den er vergangene Nacht gehabt hatte. Seltsame Dinge waren ihm darin vorgekommen.

Er hatte sie zwar schon wieder vergessen, doch war ihm davon ein Gefühl zurückgeblieben, das er bisher noch nicht gekannt hatte.

Nun hörte er deutlich, wie jemand da drinnen auf dem Klavier ganz leise die Töne eines Morgenliedes anschlug. Das konnte doch nur ein Mensch tun. Wer mochte das wohl sein? Er legte das Ohr an die Tür und horchte.

Die Weise, die da angeschlagen wurde, war ihm bekannt. Es war die eines schönen Morgenliedes, das seine liebe Frau Mutter daheim immer zu singen pflegte. Zwischen den Tönen des Klaviers vernahm er dann eben so leise die Stimme des Täubchens. »Kukeruh! Kukeruh!« Weiter kam nichts heraus. Aber dieses Kukeruh klang fromm und lieblich. Ihm fiel wieder der Traum der verflossenen Nacht ein, und ihm wurde so feierlich zumute, als stünde er in der Kirche.

Endlich trieb ihn denn die Neugier an, durch die Türspalte hinein zu schauen.

Auch jetzt war kein Mensch da zu sehen. Aber die Taube saß auf dem Klavier. Mit ausgebreiteten Flügeln fuhr sie weich und leise über die Tasten hin, dass sie so schön erklangen. Den Kopf zum Fenster gekehrt, ließ sie ihr einfaches Stimmlein in den lichten Morgenschein ertönen, und von draußen stimmten alle Waldvögel in vollen Chören mit ein.

Das war ein rechter Sonntagmorgen!

Hans stand an der Türspalte und regte sich nicht. Erst ganz allmählich fing er an, wie in tiefe Gedanken versunken, an seinem Schnurrbart zu drehen; erst mit der einen Hand, dann mit allen beiden.

»Dummes Zeug! Dummer Schnack!«, brummte er vor sich hin und machte linksumkehrt; aber ganz leise. Nun ging er auf den Zehen zu seinem Tornister und holte einen Brief daraus hervor. Damit setzte er sich in den ledernen Großvaterstuhl und las so andächtig darin, als wäre es ein Gebetbuch. Den Brief hatte seine liebe Mutter ihm kürzlich von Zuhause geschrieben. Die lange Pfeife steckte ihm dabei noch immer im Mund, aber die brannte schon lange nicht mehr, ohne dass er es selbst gemerkt hätte. Das kam selten in seinem Leben vor.