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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.14

Wo die Erde blutet – Teil 14

Es war zu spät dafür. Auch Little war eingeschlafen. Er hatte sich befreit. Er hatte all den undeutlichen Bildern, all den unklaren Empfindungen eine Form gegeben, er hatte sie in Worte gegossen, und nun war er erleichtert und befreit, als hätte ihn eine Übelkeit verlassen. Und so überließ er sich nun fröhlich dem Schlaf.

»Ich glaube, etwas Schlaf würde uns allen gut tun«, sagte Tony.

Von Steele kam nur ein schwer zu deutendes Knurren als Antwort, dem er schließlich »Einer muss aufpassen« zufügte.

»Wir können uns ablösen.«

»Schlafen Sie ruhig. Ich könnte es jetzt nicht, selbst wenn ich wollte.«

»Wann kommt das Boot?«

»Nach Einbruch der Dunkelheit. Wie ich schon sagte.«

Tony ließ sich durch die letzte Spitze nicht beeindrucken.

»Warum hilft der Bootsbesitzer uns?«

»Er glaubt, wir wären von der IRA. Er ist deren Sympathisant, denkt wir müssen türmen.

Bezahlen lässt er sich trotzdem. Sonst noch Fragen?«

Tony überhörte geflissentlich den rüden Ton, in dem Steele seinen letzten Satz sprach.

»Ja, habe ich«, erklärte er unverdrossen. »Wieso sind Sie in die Galerie gekommen? Sie konnten doch nicht wissen, dass wir in eine Falle laufen würden, ist es nicht so?«

»Wissen nicht, aber ahnen. Ich wurde wegen der Frau aufmerksam. Der Angestellten, die diese Geiselnahme vorgetäuscht hat. Sie gehört zu der Ufologensekte von Hal Hornsby. Das war Anlass genug, ihr ein wenig hinterherzuschnüffeln.«

»Hal Hornsby … Was treibt der Gute denn so?«

»Sammelt Anhänger und Geld und bereitet seine Leute auf die Ankunft der kosmischen Arche vor, mit der sie ins All abdüsen werden.«

»Besonders originell war Hornsby noch nie.«

»Aber gefährlich. Wie seine engsten Mitarbeiter.«

»Kennen Sie vielleicht MacMorley? Der beobachtet diese Sekte nämlich auch.«

Jetzt konnte sich sogar Steele ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Ja«, bestätigte er, »MacMorley habe ich auch kennengelernt. Wir sind sogar beide aus einem Hotel verwiesen worden, weil MacMorley in den Swimmingpool pinkelte.«

»Deswegen fliegt man doch nicht aus einem Hotel!«

»Wenn man es vom Dreimeterbrett tut schon.«

Tony konnte seine Bewunderung nicht verbergen. »MacMorley ist eben ein echter Sohn des Hochlandes. Von spießigen Konventionen lässt sich so einer nicht beeindrucken.«

Von Steele kam keine Antwort und so war auch dieses Gespräch beendet. Tony Tanner war fest entschlossen, nicht einzuschlafen. Als er hochschreckte, war es dunkel, und ihm wurde klar, dass er trotz aller Bemühungen doch eingeschlafen war.

 

Vom Wasser her erklang das Geräusch eines Motors, dann blinkerte ein kleiner Scheinwerfer.

Steele scheuchte seine Begleiter hoch. Es folgte ein schneller Lauf über die unebene Weide, beschwert von dem Gepäck, und ein Einschiffungsmanöver, bei dem jeder nasse Füße bekam.

Die Fahrt dauerte bis zum Abend des folgenden Tages. Zuerst fuhren sie nach Westen und dann folgten sie der Küste nach Norden. Tony Tanner hatte schon jeden Versuch aufgegeben, sich zu orientieren. Es war ihm egal, dass er bis zum Bauch durch eiskaltes Wasser zu einem steinigen Strand waten und dabei Dorkas mehrmals vor dem Ertrinken bewahren musste. Hauptsache, er war von dem ständigen Dröhnen der Bootsmotoren befreit und musste nicht mehr die harten Stöße verspüren, mit denen der Rumpf in einem donnernden Rhythmus auf die Wellen klatschte.

Ein Wagen stand bereit. Steele steuerte ihn stundenlang über kurvige Nebensträßchen und hielt dann neben einigen ländlichen Gebäuden.

In dieser Einöde ein Flugfeld zu finden, war Überraschung genug. Dass hier aber eine Gulfstream II wartete, überraschte jeden, außer Steele. Selbst Dorkas war so perplex, dass er erst dann in Panik ausbrach, als er schon in einem bequemen Doppelsessel Platz genom­men hatte und angeschnallt war. Steele, der anscheinend niemals schlief, verriegelte die Türen, klemmte sich in den Pilotensitz, ließ sich von irgendwoher über Funk das Wetter geben, ließ die Triebwerke an und startete schließlich.

Little machte es sich bequem und legte die Beine hoch. Er schlief tief und erholsam ein, und kein Luftloch und kein Rütteln der Maschine konnte ihn wecken.

Bis zu dem Moment, als Steele nach einigen Stunden Flug aus der Kabine kam und zu Dorkas wollte, der aber schon seit geraumer Zeit auf dem Klo saß. Little musste Dorkas umständlich überreden, aus der Sanitärkabine herauszukommen. Endlich ließ Dorkas sich bli­cken und sank ihn seinen Sitz. Dann fiel sein Blick auf Steele,

»Sie müssen doch am Lenkrad bleiben«, stotterte Dorkas und fuhr mit einer Hand vor sei­nen Mund. »Sonst stürzen wir ab.«

»Es gibt Autopiloten«, antwortete Steele. »Ich brauche jetzt den Namen unseres Zieles. Wir haben uns an den Pyrenäen vorbeigeschlichen und sind jetzt über dem Mittelmeer.«

Dorkas Finger kreiste über der Karte und tippte dann auf einen Punkt zwischen Verona, Treviso und dem Gardasee. Dann überlegte er und kramte einen schon ziemlich ramponierten Zettel aus der Tasche, den er Steele überreichte.

»Hier sind die exakten Koordinaten. Sie brauchen sich keine Sorgen wegen der Landung zu machen. Es gibt angeblich eine Landebahn auf dem Grundstück.«

»Angeblich«, sagte Steele. »Na, das kann ja heiter werden.« Steele liebte es, wenn es hei­ter wurde.

»Diese Maschine ist für Tiefflug nicht geeignet!«

Es war seitens Steele überhaupt nicht nötig gewesen, diese Bemerkung zu machen. Tony Tanner hatte es schon vorher gewusst.

Was er nicht wusste, war eine kurze, treffende Antwort auf die stets drängende Frage des menschlichen Seins: Wer bin ich? Woher komme ich? Wo zum Teufel bin ich? Und die Antwort in seinem Gehirn lautete lapidar: Teufel ist schon ganz gut.

Wieso saß er auf dem zweiten Sitz im Cockpit eines leichten Geschäftsreiseflugzeugs vom Typ Gulfstream? Erstens sowieso, und zweitens gehörte ein Kopilot auf diesen Platz. Stattdessen steuerte ein übermüdeter Jeremy Steele die Maschine ohne Unterstützung. Und er steuerte sie nicht nur, er hetzte sie im extremen Tiefflug über die wütenden Wellen eines anscheinend endlosen Meeres.

 

Inzwischen hatte Tony schon einen gewissen Instinkt entwickelt. Sah er, Sekunden, bevor die Maschine darüber hinweg huschte, eine wild aufgetürmte Welle, spannten sich seine Muskeln an. Er erwartete die Schläge, aber wenn sie dann in die Luftwirbel gerieten und sich die Maschine schüttelte, als würde sie mit Hämmern bearbeitet, wurde ihm trotzdem schlecht. Das Flugzeug rappelte und rüttelte, er glaubte, die überforderten Nieten brechen zu hören.

Während er sich noch den Schweiß aus den Augen wischte, hatte Steele die Maschine wieder unter Kontrolle und ließ die Blicke zwischen Instrumenten und Fenstern pendeln.

Was für ein Wahnsinn, dachte Tony Tanner. Wir haben uns bei keiner Luftüberwachung angemeldet. Wir sind über den Atlantik und über Nordspanien hinweggejagt. Wahrscheinlich ist die Luftwaffe schon auf der Suche nach uns. Und ich sitze hier, in einem Fluggerät, das zwar jeden Moment auseinanderbrechen wird, das dafür aber nirgendwo eine Registriernummer angebracht hat.

»Ich vermute, Tiefflug tut dem Flugzeug nicht gut«, äußerte sich Tony vorsichtig. Steele verzog keine Miene. »Ich schätze, diese Kiste altert in diesen Minuten mehr, als in zehn Jahren regulärem Reisedienst. Aber das sollte nicht Ihr Problem sein.«

»Solange ich noch drin sitzen sollte, wenn das Verfallsdatum überschritten ist, dann doch.«

Das Land jagte heran, als hinter ihnen die Sonne hervorbrach und die Küste in Sekunden in ein strahlend goldenes Licht tauchte. Die Turbinen heulten auf, als die Maschine aus der flachen Küstenzone heraus der Steigung eines Hügels folgte. Für Tony sah es aus, als würde der Rumpf die ersten Baumwipfel berühren. Unter seinem Fenster war nichts als eine gold­grüne Fläche, vorbeiwischend, ohne dass sein Auge einen Anhaltspunkt finden konnte. Der Anblick war nicht beruhigend. Im Gegenteil, sein Magen begann wieder zu rebellieren.

Tony Tanner wagte einen Blick in die Flugrichtung, und da wurde ihm erst recht übel. Das musste die typische Aussicht aus einem Kamikaze-Flugzeug sein, ungefähr eine Sekunde vor dem Aufschlag.

 

Baumwipfel. Blätter, Äste, die nur darauf warteten, ihn zu durchbohren. Durch das Heulen der Turbinen glaubte er, die Schläge gegen die Rumpfunterseite zu hören.

Dann füllte Himmelsblau die Fensterfläche. Die Maschine hüpfte über den Hügelkamm, verbrannte mit ihren Abgasen die obersten Zweige der höheren Bäume, und sank auf der anderen Seite in ein sich weit öffnendes Tal.

Steele änderte den Kurs, dabei machte er sich gleichzeitig am Funkgerät zu schaffen. Für einen Augenblick konnte Tony den Schatten ihres Flugzeugs erkennen, der in rasender Flucht über Felder, Obstwiesen, Weiden, Baumgruppen rannte und sprang. Etwas abseits tauchte ein Dorf auf. Deutlich sah Tony, wie die kleinen Gestalten am Boden die hellen Ovale ihrer Gesichter zum Himmel hoben, voller Erstaunen über dieses Flugzeug.

»Ich nehme an, diese Blinklampe bedeutet Ärger?«, fragte Tony vorsichtig und deutete auf ein rotes, pulsierendes Auge im Armaturenbrett.

»Wie man es nimmt«, antwortete Steele. »Für Sie ist es ein positives Zeichen. Es bedeu­tet nämlich, dass unser Flug in zehn Minuten zu Ende ist.«

Tony blies die erleichtert die Luft aus den Backen, blieb aber misstrauisch. »Dann hätten wir es geschafft.«

»In zehn Minuten geht der Treibstoff zu Ende«, erklärte Steele.

»Sie wollen mich dich jetzt nicht wieder mit zwei Kanistern zur Tankstelle schicken? Wann sollten wir am Ziel sein?«

»In acht Minuten. Nach meinen Berechnungen zumindest. Aber es gibt einen großen Unsicherheitsfaktor.«

»Wie groß?«, wagte Tony Tanner zu fragen.

»Mindestens eine Viertelstunde. Ich kann nur über den Daumen peilen, was diese Maschine schluckt, wenn ich sie durch die bodennahe Thermik dresche. Mal abgesehen davon, dass ich nicht mehr sicher bin, ob wir überhaupt auf dem richtigen Kurs sind. Mein Navigationsgerät verträgt diese Geschüttel nämlich überhaupt nicht.«

»Oh.« Tonys Oh war das kürzestmögliche Äquivalent eines Aufschreis verbunden mit tagelangen Bittgebeten in allen möglichen Sprachen, bei denen die Chance bestand, dass ein Schutzpatron sie verstehen könnte.

Steele drehte wieder einen Schalter am Funkgerät, betrachtete die Skala und begann dann, einen Drehknopf zu bewegen. Als sie erneut in eine Thermik gerieten, konzentrierte sich Steele auf das Steuern und wies Tony an, den Knopf langsam weiter zu drehen.

 

Plötzlich rauschte eine Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgerätes.

»Unbekannte Maschine, bitte melden.«

»Die Flugkontrolle«, rief Tony erschrocken. Was er meinte, war: Man hat uns erwischt.

»Unfug«, gab Steele grimmig zurück. »Wir sind unter allen Radarkontrollen durchgeflo­gen und in der Landschaft verschwunden. Nicht mal ein Super-Satellit einer dieser schwach­sinnigen CIA-Fernsehserien würde uns finden.«

»Und wer ruft uns jetzt an?«

Anstatt zu antworten, legte sich Steeles Finger auf einen Kippschalter und warf ihn herum.

»Wir hören Sie«, sagte er knapp.

»Nennen Sie uns Ihre Zielkoordinaten, prego.«

Steele gab mit ruhiger Stimme die Koordinaten an, die er auf Dorkas` Zettel gefunden hatte. Die Ruhe war rein äußerlich. Die Maschine hatte nur noch für wenige Minuten Kerosin, dann blieb ihm nichts, als den Moment abzuwarten, in dem die Turbinen aussetzten, die Maschine hochzuziehen und zu schauen, ob sich irgendwo ein Platz sehen ließ, der eine Notlandung ermöglichen könnte. Falls ein solcher da war und die Maschine ihn erreichte, bevor sie aufschlug, würden sie mit mehreren Hundert Stundenkilometern über Gras, gegen Bäume, Felsen oder Gebäude rutschen, um dann vielleicht irgendwann doch noch zum Stehen zu kommen. Immerhin hatte sie den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass ihnen die Kiste nicht um die Ohren fliegen konnte, schließlich hatte der Antrieb ja den explosiven Treibstoff schon ausgeschlürft.

 

Der Gedanke an seine eigenes Ende war Jeremy Steele völlig egal. Es berührte ihn nicht. Er dachte an seinen eigenen Tod, als ginge es um das Verschwinden eines Schauspielers aus einer nebensächlichen TV-Serie. Aber etwas anderes peinigte ihn. Er wollte seine Aufgabe zu Ende führen. Der Krieger Steele konnte nicht mitten in der Schlacht das Schwert aus der Hand legen.

In gewisser Weise war Jeremy Steele in eine Falle geraten – dieselbe geistige Einstellung, die ihn gelehrt hatte, den Tod zu verachten, zwang ihn nun, den Tod zu fürchten, da er ein Hindernis auf dem Weg zum Ziel war.

»Conte«, fügte Steele den Koordinaten noch hinzu. Auch dieses Wort fand er auf dem Zettel.

»Seien Sie willkommen, wir haben Sie«, sagte die Stimme nach einem bangen Moment.

»Ändern Sie Ihren Kurs um zwei Grad Nord. In einer halben Minute werden Sie eine rote Leuchtkugel sehen, nehmen Sie dieses Zeichen als Anflugpunkt. Kurz vor der Landung sehen Sie vor sich einen Hügelkamm. In der Mitte stehen drei Eichen, an deren beiden Zypressen. Peilen Sie über die mittlere Eiche. Ein Lichtsignal sagt Ihnen, ob Ihr Anflug korrekt ist. Ich werde mir erlauben, Ihnen auch weiterhin mit meinem Rat beizustehen. Bitte kommen. Kein Wind. Volle Bremsen möglich, es ist eine gute Piste.«

»Verbindlichsten Dank«, antwortete Steele mit unerwarteter Höflichkeit. »Ich habe nur noch Treibstoff für eine Minute Flugzeit.«

»Das reicht. Achten Sie bitte auf die Leuchtkugel. Sie kommt … jetzt.«

»Da, ich sehe sie«, rief Tony und klopfte mit dem Finger gegen die Scheibe.

Steele legte die Maschine in die Kurve und nahm den neuen Kurs auf. Die ‘Gulfstream’ reagierte zäh und richtete sich nur unwillig auf. Knurrend drehte Steele am Trimmrad und peilte mit zusammengekniffenen Augen nach der Leuchtkugel.

Sie war schon wieder verschwunden. Weil diese verfluchte Kiste gerade in diesem Moment bocken musste, war sich Steele jetzt nicht sicher, ob sein Anflug korrekt war.

Neben ihm rutschte Tony Tanner auf seinem Sitz und wirkte wie ein Schüler im Ausflugsbus, der sich einer Touristensensation nähert. Der Kerl ging Steele auf die Nerven.

 

Im nächsten Moment musste Jeremy Steele schon wieder Abbitte tun, denn es war Tony, der den Hügelkamm mit den charakteristischen Bäumen zuerst entdeckte. Es blieb Steele gerade noch Zeit, um die Maschine in Position zu bringen, bevor er sich um die Landeroutine kümmern musste. Die Aufgabe hätte sonst der Kopilot übernommen, jetzt musste Steele alles selbst erledigen, und zwar schneller und exakter als jeder Zivilpilot.

»Achten Sie auf die Lichtsignale«, befahl Steele, nahm den Schub zurück und gab Klappen.

»Ein Licht korrekt, zwei tiefer, drei Lichter höher«, erklang die Stimme aus dem Lautsprecher.

Steeles Blicke flatterten hektisch über das Instrumentenbord, stießen durch das Fenster, kehrten zurück zu den vibrierenden Anzeigenadeln. Er spürte, dass er am Rande seiner Kapazität angelangt war. Die Situation war so, als würde er mit einem Lastwagen auf einem voll besetzten Kaufhausparkplatz ein Rennen fahren. Steele liebte es, verdammt, er liebte das wirklich.

Das Flugzeug schien in der Luft zu zerbrechen. Die Vibrationen wurden stärker, rüttelten an den Sitzen, ließen Gegenstände aus ihren Halterungen springen. Unter diesen Umständen war ein klarer, konzentrierter Blick nach draußen schier unmöglich.

Tony erwischte einen Haltegriff und klammerte sich daran fest. Vor seinen Blicken tanz­te alles, verwischte sich zu bunten Flecken. Ein gleißender Punkt durchstach dieses Chaos. Dann ein Zweiter.

»Zwei Lichter«, gellte Tonys Stimme. »Zwei … zwei Lichter. Tiefer. Wir sind zu hoch.«

Jetzt war es für Steele ein Rennen auf dem voll besetzten Kaufhausparkplatz – aber mit verbundenen Augen. Gegen alle seine Instinkte zwang er seine Muskeln zur Reaktion und drückte das Steuerhorn nach vorne. Schub zurück, mehr Klappen, Korrektur. Etwas Seitenruder links.

Unter ihnen schienen Baumwipfel nach hinten zu kippen.

Vor den Fenstern öffnete sich eine weite Senke, eingerahmt von dichtem Wald. Die Landebahn lag vor ihnen. Es war ein glitzernder, heller Streifen, der sich wie ein Riss durch das saftige Grün einer Weide zog.

»Ihr kommt gut rein«, verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher. »Am Ende der Landebahn wartet ein Fangnetz. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Ende und aus.«

Sekunden blieben Steele um die letzten Korrekturen durchzuführen. Die Landebahn stürz­te ihnen entgegen. Eben noch unglaublich schmal wuchs sie in unglaublichem Tempo.

Steele setzte die Maschine einen knappen halben Meter hinter dem Beginn der Landebahn auf. Die Aktion war ein wenig eitel, wie Steele selbst mit einer Mischung aus selbstkriti­schem Ärger und Ironie feststellte, sie gab vermutlich dem Fahrwerk endgültig den Rest und kostete diesen Satz Reifen. Vor allem gab es einen harten Stoß, der die Bandscheiben aller vier Insassen auf eine harte Bewährungsprobe stellte.

 

Mit zwei, drei blitzschnellen Handgriffen schaltete Steele auf Gegenschub. Die Triebwerke heulten noch einmal auf, verzögerten, dass Tony nach vorne geworfen wurde und in diesem kurzen Augenblick feststellte, dass Steeles Fahrweise auch hier erkennbar war, ­dann setzten die Triebwerke aus. Die Tanks waren leer.

Steeles bremste, musste die Bremsen lockern, als die Maschine auszubrechen drohte. Sie waren am Boden, aber dieser Boden glitt noch immer blitzartig an ihnen vorbei, als säßen sie in einem Rennwagen. Aber die Piste war perfekt. Für einen Moment glaubte selbst Steele, noch nicht aufgesetzt zu haben, so stoßfrei rollten sie dahin.

Eine erneute Vollbremsung. Das jammernde Rutschen der Bereifung klang durch die weite Senke. Ein Gestank von verbranntem Gummi zog in einer weißen Wolke über die lieb­liche Landschaft. Das Ende der Landebahn raste näher.

Jetzt konnte Tony das Gewebe des Fangnetzes erkennen, das die letzten Meter der Piste absperrte. Er drückte sich fest in den Sitz und wartete auf den Aufprall.

Auf einen Aufprall, der ausblieb. Stattdessen blockierte Steele die Bremsen, lockerte sie, stabilisierte die Maschine, machte die nächste Vollbremsung. Diese Piste war griffig wie scharfes Sandpapier.

Natürlich war es Eitelkeit. Auch hier. Aber ebenso wie Steele die Maschine knapp hinter dem Beginn des Landestreifens auf die Erde gebracht hatte, genauso brachte er die wilde Fahrt der Gulfstream einen halben Meter vor dem Fangnetz zu einem Ende. Oder um genau­er zu sein – es waren einige Meter, und den Rest der Strecke rollte die Maschine langsam vor­wärts, um mit einer letzten Bremsung vor den Nylonstricken des Netzes einzuknicken, als würde sie dem bereitstehenden, dennoch ungenutzten Hilfsmittel, eine höfliche, aber trotz­dem etwas spöttische Referenz erweisen.

Während Tony die Augen schloss und sich langsam über das Gefühl freute, wieder auf fes­tem Boden zu sein, arbeitete Steele sich mit unbewegtem Gesicht durch die Routinehandgriffe, die nach der Landung zu erledigen waren.

 

Mit einem Seufzer schnallte sich Tony Tanner ab und machte sich auf, um die Passagierkabine zu betreten. Er hatte eine dumpfe Ahnung, was ihn dort erwartete – verzerr­te Gesichter, Augen, in denen der Wahnsinn glitzerte … Zumindest jede Menge Erbrochenes.

Tony war nicht enttäuscht, als er in das vor Erregung rot gefärbte, aber ansonsten recht normal wirkende Gesicht von Dorkas blickte. Little hatte wenig Farbe im Gesicht, aber auch Tony wusste von sich, dass er im Augenblick mehr als die vornehme Blässe auf der Stirn trug.

»Schnallen Sie mich bitte los, Herr Tanner«, bettelte Dorkas. »Ich kann es kaum erwar­ten!«

Irgendwo unter den Dorkas’schen Fettwülsten fand sich der Öffnungsmechanismus für den Gurt. Dorkas fuhr hoch wie der sprichwörtliche Teufel aus der Kiste und wackelte hinter Tony her, der sich an der Tür zu schaffen machte und der dann, als er selbige Tür endlich offen hatte, sich nach draußen retten musste, weil ihn Dorkas sonst wie eine Lawine überrollt hätte.

Der Wissenschaftler wirkte wie Kind unter dem Weihnachtsbaum. Sein Paket mit dem Grand Albert und dem Hermes Trismegistos vor den Bauch gepresst, stapfte er wie ein Storch vor dem Flugzeug auf und ab und erweckte mit seinem Gebaren auch in dem Unkundigsten die Gewissheit, dass sie ihren Fuß auf heiligen Boden gesetzt hatten.

Tony half Little bei dem Ausladen der Gepäckstücke. Dann schaute er sich um.

Kein Mensch war zu sehen. Von der Maschine stieg der Geruch von verbranntem Gummi und heißem Metall auf. Jetzt erst bemerkte Tony, dass neben der Landebahn große Rollen aus grobem Stoff lagen. Er konnte sich deren Bedeutung nicht erklären, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass sie eine Art von Aufprallschutz darstellen mussten.

Auch Steele war aus dem Fluggerät geklettert und untersuchte die Landepiste, die so eben war wie ein Terrazzofußboden ohne jede Fuge, und trotzdem so scharf wie eine Sandfeile. Das hatte Steele so noch nie gesehen, und er nahm sich vor, dies interessehalber in Erfahrung zu bringen.

 

Das Knattern eines Traktors erklang. Der Lärm kam aus einer Baumgruppe, Jetzt konnte man schon die Abgasfahne hochsteigen sehen. Sie wirkte wie ein Rauchzeichen eines Indianerstammes, denn die pechschwarzen Wölkchen flatterten im Rhythmus des keuchenden Einzylindermotors davon.

Steele schob routinemäßig seine rechte Hand über den Griff seiner Waffe, entspannte sich dann aber sofort wieder.

Was da zwischen den Baumstämmen zum Vorschein kam und keuchend auf sie zurollte, war wie das Symbol des idyllischen Landlebens. Ein in allen Varianten der Farbe Grün gestri­chener Uralt-Traktor mit riesigem Schwungrad an der Seite und einem aufragenden Auspuffrohr, das eine Greenpeace-Aktion wert gewesen wäre, zog hinter sich einen vierräde­rigen Anhänger.

Auf diesem Anhänger wiederum lümmelten sich Männer, die derart italienisch aussahen, als hätte sie ein Touristikamt erschaffen.

Helle Strohhüte beschatteten dunkle, aber edel geschnittene Gesichter. Mit ihren schwar­zen Augen und den Schnurrbärten wirkten die Männer allesamt wie Statisten aus dem Film Rinaldo Rinaldini, der edle Räuber aus den Abruzzen oder so ähnlich.

Der Traktor arbeitete sich mit lautem und leicht asthmatischem Kropp-Kropp-Kropp an dem Flugzeug vorbei. Die Passagiere des vierräderigen Anhängers standen auf, machten Front gegenüber den Passagieren des arg strapazierten Gulfstream, dann rissen sie sich die Strohhüte von den Köpfen und schrien ein dreifaches Hipphipphurra.

Tony jedenfalls vermutete, dass es ein Hipphipphurra sein sollte. Jedenfalls klang es wie eine freundliche Begrüßung, hatte Stil und Schwung und wirkte überhaupt ungeheuer italie­nisch.

Damit war allerdings auch das Interesse der Männer an den Neuankömmlingen völlig erloschen. Der Traktor fuhr noch ein Stück weiter, dann sprangen die Männer ab und began­nen zu arbeiten. Zuerst wurde der Anhänger abgekuppelt und eine lange Stange an der vorde­ren Kupplung der Zugmaschine befestigt.

Steele stieß einen bewundernden Pfiff aus.

»Also, wenn diese Leute in Turin werkeln würden, würde ich mir nur noch FIAT kaufen«, sagte er.

In der Tat geschahen in dem lieblichen Tal Dinge, die keiner erwartet hatte.

Zuerst einmal stellte sich heraus, dass die Rollen, die Tony für einen Aufprallschutz gehal­ten hatte, in Wirklichkeit Rasenteppiche waren.

 

Sie wurden jetzt wieder auseinander gerollt und bedeckten die auf so merkwürdige Weise perfekte Landepiste. Nach wenigen Minuten war diese Landebahn verschwunden und nichts erinnerte mehr daran, dass sich hier etwas anderes abspielte als das Grasen der Herde von rie­sigen schottischen Hochlandrindern, die jetzt aus dem Wald getrieben wurde.

Dorkas peilte ein wenig skeptisch zu den zotteligen Tieren mit den großen Hörnern hinü­ber. Seine Blicke verrieten aber nicht, ob er daran dachte, aufgespießt zu werden, oder ob er von einem dicken Steak träumte.

Der Traktor näherte sich inzwischen im Rückwärtsgang, mit durch das Gras schleifender Kupplungsstange dem Flugzeug.

Die Zugmaschine war sichtlich erleichtert, den Anhänger quitt geworden zu sein und äußerte nun ein erfreutes Koff-Koff-Koff.

Der Fahrer lenkte zum Vorderrad des Flugzeugs und befestigte die Zugstange.

Unterdessen wurde wieder Grasteppich zur Seite gerollt und eine schmale Rollbahn wurde sichtbar, die zu einem Hügel am Waldrand führte. Steele fiel auf, dass dies eine einfa­che Betonpiste war.

 

Inzwischen rechnete keiner mehr damit, dass der Hügel ein Hügel war. Tatsächlich wur­den auch hier Grassoden zur Seite geräumt, gaben Schienen frei, auf denen der gesamte Vorderteil des Hügels zur Seite gerollt wurde. Dahinter öffnete sich ein Hangar, in dem weit­aus größere Flugzeuge Platz finden konnten als dasjenige, das nun dorthin gezogen wurde. Tony Tanner sah darin für einen kurzen Moment ein hochbeiniges Gebilde, dessen Außenhülle so vollkommen glatt schien, dass von ihr ein Glanz auszugehen schien. Dann ver­deckte die hineinrollende Gulfstream den Blick.

Sobald die Maschine untergebracht war, reagierten die Arbeiter wie Ehemänner, die die Spuren einer wilden Fete verschwinden lassen, bevor die Ehefrau zurück nach Hause kommt.

Nach wenigen Minuten fragte sich Tony Tanner angesichts des buschbestandenen Hügels, ob er nicht vielleicht eine Vision gehabt hatte.

»Ziemlich genial«, meinte Steele. »Aber auf Infrarotbildern wird man den Rasenteppich trotzdem erkennen.«

»Ich bin fast sicher, dass diese Leute auch für diesen Effekt vorgesorgt haben«, antworte­te Tony.

Genau dieser Meinung war Jeremy Steele auch. Und das erweckte sein Misstrauen.

Wo war er hier? Diese Leute arbeiteten mit der Präzision einer militärischen Elitetruppe. Jeder wusste, was zu tun war. Kein Wort fiel, und dennoch arbeiteten die Männer Hand in Hand, ohne Zeit- oder Reibungsverluste. Jeder Fußballmanager hätte viel Geld dafür bezahlt, eine solche Mannschaft zu haben.

Aber genau das war es, was Steeles Misstrauen erweckte. Hinter all dieser scheinbaren Leichtigkeit steckte eine Organisation. Oder ein Organisator. Einer mit großen Mitteln. Und hierbei ging es nicht nur um Geld. Geld konnte jeder Idiot anhäufen.

Steele war selbst reich genug, um sich die völlige Verachtung des Mammons leisten zu können. Nein – allein um solche Männer zu finden und zu formen, bedurfte es ganz besonde­rer Genialität. Und die war mit Geld nicht zu erkaufen.

 

Der Traktor rappelte zurück zum Anhänger, der angekuppelt wurde.

»Bitte aufzusteigen«, sagte der Fahrer. Tony erkannte die Stimme. Es war derselbe Mann, der ihnen über Funk Anweisungen gegeben hatte.

Dann fiel Tony fast in Ohnmacht, denn aus der glatten Ladefläche dieses so banal ausse­henden landwirtschaftlichen Anhängers ließen sich Sessel hochklappen, und eine kleine aus­fahrbare Treppe sorgte dafür, dass auch ein Mensch vom Kaliber des hochrangigen Genies Dorkas unbeschadet zu einem Sitzplatz kam.

Das Gepäck wurde aufgeladen, und dann zuckelten sie über die Wiese und in den Wald.

Ein Mensch wie Little genoss den Frieden dieser Umgebung und lauschte dem Gesang der Vögelein.

Ein Mensch wie Tony Tanner bemerkte hinter dem scheinbaren Wildwuchs die ordnende Hand des Gärtners und stellte Vergleiche mit den Gartenanlagen berühmter Hotels an – zu deren Nachteil.

Ein Mensch wie Dorkas bemerkte, dass jede Pflanze und jeder Baum in diesem Gelände eine symbolische Bedeutung hatte, die sich im Zusammenklang zu einem magischen Text vereinigten, den er gerne entschlüsselt hätte.

Ein Mensch wie Steele stellte fest, dass der Weg nach militärischen Gesichtspunkten angelegt war, freie Schussbahn und Möglichkeiten zu Hinterhalten bot, als wäre er nach einem Armee-Handbuch geschaffen.

Aus dem Dämmerlicht des Waldes, aus der Kühle und dem Duft nach Blüten und Bäumen, kamen sie zurück ins Sonnenlicht.

 

Vor ihnen lag eine weite Rasenfläche, unterbrochen von einzeln stehenden alten Bäumen, üppig blühenden Büschen und einigen großen Felsen, um die sich Blumen drängten.

Dahinter erhob sich auf einer leichten Anhöhe, mächtig und erhaben und doch wie ein gewachsener Bestandteil der herrlichen Landschaft, ein Gebäude. Es bestand aus einem drei­stöckigen Mittelteil, der von einem Turm gekrönt wurde und zwei niedrigeren, weit ausladen­den Seitenflügeln, die wiederum in einstöckige kurze Querflügel ausliefen.

Im Betrachter erweckte die Architektur sofort die Assoziation einer liebevollen Umarmung, mit der dieses Gebäude seine Umgebung umfasste und beschützte.

Von Dorkas kamen kleine Quieker der Begeisterung, die Tony Tanner, wären sie von einer anderen Person gekommen, als orgiastisch bezeichnet hätte.

»Schule von Palladio«, rief Dorkas mit ungebremster Begeisterung. »Barocker Schwung, gezügelt durch die klassischen Maße. Wucht eines Michelangelo, Raffinesse eines Raffael, das Feuer der Gotik angefacht durch die lieblichen Weisen der Renaissance. Oh welche Architektur! Welche Pracht, die sich selbst in holder Bescheidenheit zu leugnen weiß. Zugleich eine Einfügung in die Landschaft, die jedem japanischen Tempel Ehre machen würde. Oh, dass ich das noch erleben darf.«

»Soll das heißen, dass Sie hier noch niemals waren«, fragte Steele, ehrlich verblüfft. Schon als er die Koordinaten auf dem Zettel gesehen hatte, war sich Steele darüber im Klaren gewesen, dass er bei seinen Nachforschungen schon oft in der Nähe dieses Geländes gewe­sen war. Tatsächlich schien er sich stets in konzentrischen Kreisen um diesen Mittelpunkt bewegt zu haben.

Hier waren die Kornkreise aufgetaucht, die Pinazzis Recherchen ausgelöst hatten. Hier hatte Steele sich mit einem Hubschrauber auseinanderzusetzen gehabt und hier in der Nähe hatte er Dorkas auf einer nächtlichen Straße ausgesetzt …

Dorkas schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, nein, bisher hatte ich nur telefonischen Kontakt. Es klingt ein wenig seltsam, aber selbst, als ich hier in Italien war, habe ich mit dem Conte nur telefoniert. Aber da ist er ja … ja, das muss er sein.«

Armseliger Sack, Michael Jackson, bedauernswerter Eierbär, Robbie Williams, dachte Tony Tanner in diesem Moment – nie werdet ihr von euren Fans mit solcher Begeisterung begrüßt werden!

Dabei war für ihn nur eine kleine Gestalt erkennbar, die aus der Säulenkolonade des Hauptgebäudes getreten war und nun am Absatz der beiden Treppen, die mit schwungvollem Bogen das Gebäude mit der Rasenfläche verbanden, ruhig und gelassen wartete.

Obwohl er sich dessen selbst ein wenig schämte, taxierte Tony Tanner den Mann mit einem sozusagen professionellen Blick, etwas so, als wäre es der Empfangschef eines Hotels.

Je näher sie kamen, desto größer wurde sein Respekt. Selbst die Entfernung konnte nicht überdecken, dass der Mann einen perfekt sitzenden, leichten Sommeranzug trug und dieses mit der gelassenen Eleganz von Personen, die gar nicht wissen, wie ein Jackett aus dem Kaufhaus kneifen kann.

So wie der Mann dort oben stand, erweckte er in Tony Tanner – und sicherlich auch in den anderen – einen zwiespältigen Eindruck.

Er war ein Hausherr, der sich bereit machte, seine Gäste willkommen zu heißen. Aber er wirkte seltsamerweise auch ein wenig wie ein Feldherr, der die Ankunft seiner Truppen beob­achtet oder wie ein Kirchenfürst, der bereit ist, die Menge der Gläubigen mit seinem Segen zu beschenken.

Zumindest, dachte Tony Tanner, hat er in Dorkas einen wahren Gläubigen gefunden.

Und er selbst – Tony Tanner? Tony prüfte sich für einen Moment. Dann stellte er fest, dass diese für ihn inzwischen so typische Gefühl des Was will ich eigentlich hier nicht da war. Und trotzdem wusste Tony nicht, was er hier wollte. Aber es war ihm egal. Denn diese Landschaft, dieses Gebäude strahlten etwas aus, das alle Fragen überflüssig machte.

Ein schneller Blick zu Steele zeigte Tony, dass es Steele ähnlich gehen musste.

Die Einschätzung war richtig. Mit Erstaunen bemerkte Steele, dass aller Verdacht von ihm abbröckelte wie trockener Schlamm. Plötzlich, im Angesicht dieses Gebäudes, verspürte eine Weichheit, von der sicher gewesen war, dass sie mit seinem alten Leben gestorben war. Steele schaute in Richtung Wald, dachte an seine Familie und spürte, wie köstliche Tränen seine Augen füllten.

 

Der Traktor hielt am Fuß der nächstgelegenen Treppe.

Nun geschahen Dinge, die Tony wundersam, ja geradezu exzeptionell erschienen.

Dorkas ließ sein Paket liegen. Dorkas ließ den Grand Albert liegen!

Mehr noch. Dorkas hüpfte wie ein junges Reh vom Wagen, kam leicht ins Stolpern, fing sich sofort wieder und flitzte dann wie ein geölter Blitz die Treppe hoch.

Obwohl ihm diese Aktion Eintritt in die Kategorie Extremsportler gewährte, war in die­sem dicklichen, keuchenden Körper noch genug Atem, um laut ein Endlich sehen wir uns Auge in Auge zu rufen.

Es klang für Tony ein wenig wie der übliche Satz im Western Endlich habe ich dich vor meinen Colt und dann Bumm. Aber er musste sich auch gestehen, dass er einen kleinen Stachel der Eifersucht in sich verspürte.

Der Mann trat einige Schritte auf den Ankommenden zu. Nein, Dorkas küsste ihm weder Füße noch Hände, aber es gab eine herzliche Umarmung, die wiederum derart á la italienne war und daher so weit entfernt von allen Sitten der britischen Inseln, denen sich Dorkas ansonsten verpflichtet fühlte, dass es Tony die Luft wegnahm.

Er wollte sein Gepäck mitnehmen, aber der Fahrer verwehrte es ihm mit freundlicher, aber bestimmter Geste. So trug Tony nur den Grand Albert unter dem Arm, als er die Treppe als Letzter hochstieg.

Die Umarmung, die der Mann Dorkas zuteilwerden ließ, hatte für Tony etwas seltsam zeremonielles. Wie eine Akkolade oder wie das auch immer hieß.

Dorkas, vor Eifer glühend, nahm Position neben dem Hausherrn.

»Herr Jake Little«, trompetete er. »Conte Hercule di Saloviva.«

»John Jake Boo Little«, stammelte Little verwirrt, wie unter einem Zwang. Das milde Lächeln des Conte nahm ihm alle Befangenheit.

»Ich weiß«, sagte der Conte, als hätte er ein ganz persönliches Geheimnis mit Little. »Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, dass Sie Ihren Weg zu mir gefunden haben.«

»Herr Jeremy Steele«, kündete Dorkas.

Der Conte ließ seinen Blick lange auf Steeles Gesicht ruhen. Zugleich fasste er die beiden kräftigen, sehnigen Hände seines Gegenübers, als würde er kondolieren.

»Ich danke Ihnen, dass Sie diesen weiten Weg auf sich genommen haben«, sagte der Conte. »Bald werden Sie verstehen.«

Was wird er zu mir sagen, fuhr es Tony Tanner durch den Kopf. Die letzten Stufen lagen vor ihm, es gab eine Unterbrechung in der Begrüßung, und nun musste er auch noch das Paket nach links wuchten, weil er sonst dem Gastgeber nicht die Hand geben konnte. Das war ja wieder so blöde und peinlich und gerade ihm musste das geschehen.

Tony lief rot an, merkte es, ärgerte sich gewaltig und wurde dadurch nur noch röter. Heimlich rieb er sich die Hand trocken.

»Herr Tony Tanner.«

Der Händedruck des Conte Hercule di Saloviva war erstaunlich fest, ohne übertrieben zu sein. Der Conte war deutlich kleiner als Tony und schaute ihn von unten mit prüfendem Blick an. Dieser freundliche und doch wie Skalpell sezierende Blick hüllte Tony ein wie eine Glaskugel. Er wollte sich daraus befreien, spürte, dass seine Kräfte nicht ausreichten, und gab nach. Er gab sich freiwillig dieser Prüfung hin.

Ein Lächeln lief über die scharfen Züge des Conte.

»Es ist mir eine Freude, dass Sie mich mit Ihrer Anwesenheit beehren, Herr Tanner«, sagte er.

Tony stotterte sich eine Antwort zusammen und spürte immer noch die fast väterliche Berührung seiner Schulter durch den Conte. Ritterschlag, fuhr es ihm durch den Kopf. Und dann, heb jetzt nicht ab, alter Knabe.

Das Schicksal war einmal mehr gnädig mit Tony Tanner und enthob ihn der Gefahr des Abhebens.

»Mal wieder ein wenig zu spät, der Herr«, sagte eine Stimme.

Tony machte einen Schritt, stolperte über einen der Koffer, die inzwischen oben auf der Treppe standen und landete längelang im feinen Kies, der den Boden bedeckte.

»Ich bin es zwar gewohnt, dass mir die Männer zu Füßen liegen. Aber bisher waren alle wesentlich eleganter.«

 

Tony schnappte nach Luft, merkte aber, dass er außer angeknackstem männlichem Stolz keine Beschädigungen an sich hatte. Er blickte zur Seite.

Lucille Chaudieu trug ein langes, weites Kleid und flache Sandaletten. Ihre Fußnägel waren rot lackiert und erweckten in Tony die spontane Frage, warum er sein Leben eigentlich nicht damit verbrachte, an diesen göttlichen Zehen zu nuckeln.

Es war schwer, sich von diesem Anblick loszureißen, aber die Hoffnung darauf, dass der Rest ebenso perfekt sein würde, verhalf Tony Tanner zu einem ächzenden Aufstieg in die Senkrechte.

»Ich liebe eben den unkonventionellen Auftritt«, erklärte er lahm.

Der Anblick von Lucille wirkte auf ihn wie KO-Tropfen. Das lange Kleid war ein langer Rock, der ihr bis zu den Hüften reichte. Darüber trug sie ein besticktes Oberteil im indischen Stil, das den Bauchnabel freiließ. Tony wurde regelrecht wütend. Dieses Miststück schaffte es doch immer wieder, zugleich den Sex-Appeal dreier Nobelbordelle mit der ablehnenden Eleganz der Dame von Welt zu verbinden.

Und ein Tony Tanner macht als Erstes einen Bauchplatscher im Kies. Klasse, Tony, gut gemacht.

Lucille ging zum Conte, um sich die anderen vorstellen zu lassen.

Vorher schaute sie Tony über die Schulter an.

»Jetzt weiß ich also, dass Laurel und Hardy unkonventionell sind. Bisher hatte ich sie für Tölpel gehalten.«

Der Conte bat seine Gäste zu einem abendlichen Mal auf die Veranda. Vorher blieb noch Zeit, sich ausgiebig in den Zimmern einzurichten – Premium-Komfort, erkannte Tony, der Hotel-Kenner – sich in einer riesigen Wanne zu aalen und sich alsdann mit einem der zwölf zur Verfügung stehenden Duftwässer zu verwöhnen.

Tony war ein neuer Mensch, als er leichten Schrittes die Treppe zur Veranda hinunter­ schritt. Der Conte hatte 1A-Personal, was bedeutete, dass alle Kofferknitter aus den Klamotten verschwunden waren, Tony seinen Lieblingsblazer trug, die Krawatte perfekt saß und er somit fähig und willens war, es mit Lucille Chaudieu, der Besitzerin göttlicher Gazellenbeine, eines perfekten Busens und eines Henkerhumors aufzunehmen.

Natürlich war Tony Tanner wieder der Letzte. Frohe Stimmen schallten ihm entgegen. Tony konnte es nicht glauben. Little und Dorkas erzählten im Duett eine lustige Geschichte von ihrer Frankreichreise.

 

Der Conte begrüßte Tony mit einem Lächeln und winkte ihn zu dem Platz an seiner Rechten. So saß Tony Dorkas gegenüber, hatte links Little neben sich und musste sich die schöne Lucille quer über den Tisch beschauen.

Der Conte erhob sich. Ein Windhauch ließ die Blätter der Bäume leise rauschen und bewegte die hellen Vorhänge der hohen Verandatüren.

»Dies ist ein großer Augenblick«, sagte der Conte Hercule die Saloviva feierlich. »Ein Augenblick, den ich erhofft und herbeigefleht habe, für den ich gearbeitet und gelitten habe. Meine lieben Freunde. Hiermit begrüße ich Sie alle als Mitglieder der Fraternidad de los Padres blancos!«

 

Tony Tanners Tagebuch

 

Liebes Tagebuch,

warum schreibst du dich nicht einfach selbst? Was mich angeht, habe ich nämlich keiner­lei Lust dazu. Ich betreibe hier also ein Pflichtprogramm, nur angetrieben von der eisenhar­ten Disziplin, die ich mir seit Jahren auferlege. Das klingt ganz gut, wenn ich jetzt noch ein­mal lese. Ist zwar übertrieben, aber das braucht ja keiner zu wissen.

Aber ich habe wirklich keine große Lust, mich hier schreibenderweise zu betätigen. Was wiederum bedeutet, dass ich im Augenblick nichts abzujammern habe. Der Zustand ist im Leben des Tony Tanner derart ungewohnt, dass er mich in echte Selbstzweifel stürzen könn­te. Vielleicht bin ich ja schon zu schwach zum klagen? Oder zu alt, sodass ich nicht mal merke, wie mir alles stinkt? Aber das kann auch nicht sein. Der Service in diesem Haus ist nämlich derart perfekt, dass der gute Conte di Saloviva angedackelt käme und sagen würde:

»Mein wertgeschätzter Freund (so ähnlich redet er mich immer an), es ist mir eine zugleich schmerzliche wie unaufschiebbare Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Ihnen alles auf die Nerven geht. So was nennt man Gastfreundschaft.«

Aber mal abgesehen von diesen eher theoretischen Überlegungen, die mir mal wieder geholfen haben, sieben Zeilen zu füllen, gibt es wirklich nichts zu meckern. Es ist alles beängstigend perfekt.

 

Ich brauche nur den Kopf zu heben, und schon beginnt der Reise-Profi in meinem Inneren zu jubeln. Mein Zimmer ist kein Zimmer, sondern so etwas wie eine lichtdurchflutete, fröhli­che Halle von geschätzten sechzig Quadratmetern. Meine Wände schillern, denn sie sind mit einer warmen, gelbroten Seide bezogen. Hoch über mir wölbt sich eine weiße Decke aus Stuck.

Moment mal, ich versuche jetzt, diesen Raum zu beschreiben, ohne den Kopf zu wenden. Gute Übung, glaube ich. Also, ich sitze in diesem Augenblick an einem Schreibtisch, das kann ich ja gerade noch sehen. Der Schreibtisch hat Chefausmaße – polierte Wurzelholzplatte, darauf eine Schreibunterlage aus Leder, der man sofort ansieht, dass sie aus dem gewaltberei­ten Arsch irgendeines Miura-Kampfstieres gemacht worden ist. Na ja, vielleicht ist es auch Wasserbüffel-Leder, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich es nicht so genau weiß. Es ist jedenfalls enorm dick, fühlt sich klasse an, hat eine vornehme dunkelbraune Färbung und ist voller Narben, sodass ich mir manchmal denke, dieser Miura-Kampfstier muss ent­weder eine Bettdecke aus NATO-Draht gehabt haben, oder er hat schon viele Corridas über­lebt und wurde von den frustrierten Matadoren nur mit Akupunktur-Stichen versehen, die seine Männlichkeit steigerten. Daraufhin ließ man ihn nicht mehr auf die gefährdeten Matadore los, weil die sonst in den Streik getreten wären, worauf mein Stier dreißig glückli­che Jahre die knackigen Hintern junger Kühe jagte, bevor er nach einem finalen Samenausstoß in eine frenetisch muhende Jungkuh in den Rindviechhimmel abflatterte und seinen irdischen Leib zum Zwecke der Umgestaltung in Schreibunterlagen zurückließ. Der Gedanke gefällt mir. Warum wurde ich nicht als Stier geboren? Aber ich schweife ab – ver­mutlich.

 

Also – wir waren bei der Riesenplatte. Ich muss aufstehen und mich auf die Zehenspitzen stellen und dann weit vorbeugen, dann kann ich mit den Fingerspitzen die gegenüberliegen­de Kante berühren. Nach links und rechts habe ich noch eine Armlänge Platz. Ausstattung: Schreibunterlage – hatten wir schon. Davor eine Schale mit Bleistiften, alle angespitzt und in verschiedenen Härtegraden. Links so ein, wie nennt man die Dinger?, so was Wiegeartiges mit Löschpapier. Rechts ein Tintenfass und eine Ablage für einen Federhalter. Mit dem schrei­be ich gerade. Das Teil ist vermutlich ein Vermögen wert, es ist aus irgendeinem dieser Kunststoffe, die deshalb Kunststoffe heißen, weil man sie nur mit viel Kunst herstellen kann. Darum wird man sie auch niemals in einem Auto oder so finden. Über diesem Kunststoff liegt eine Hülle aus ziseliertem Gold mit verschlungenen Arabesken. Das Ding wiegt so viel wie eine Hantel, liegt in der Hand wie angewachsen und ist so dekadent wie die ‘Queen Elizabeth II’. Und ebenso wundervoll. Darum lasse ich überhaupt dieses Gesülze ab, nur um diesen Federhalter in der Hand zu haben und dieses lautlose Gleiten über das Papier zu genießen. So ein Schreibgerät ist eigentlich dazu da, um die Weltformel aufzuzeichnen. Oder zumindest einen Tausend-Seiten-Roman, der die Menschheit bereichert und mit dem man noch in drei­hundert Jahren die Schüler quält.

 

Was sonst noch? Eine Lampe natürlich – ein Designerteil mit einem riesigen, blank polier­ten Fuß, einem elegant geschwungenen Hals, an dem die Leuchte hängt. Natürlich ist das nicht einfach eine Leuchte, sondern man kann drei verschiedene Lichtstärken wählen. Was haben wir noch? Eine silberne Schere liegt auch noch da. Wahrscheinlich sind in einer der Schubladen noch weitere Wunder verborgen, aber ich habe bisher nicht nachgeforscht. Wenn ich so weiter mache, verpasse ich vor lauter Beschreibungen noch das Abendessen. Damit wäre ich bei den letzten beiden Dingen, die den Schreibtisch zieren, als da wären eine Uhr im gleichen Stil wie die Lampe, nur dass sie die Zeit anzeigt und nicht leuchtet, während die Lampe leuchtet, in drei verschiedenen Einstellungen, aber nicht die Zeit anzeigt, sonst wäre sie ja eine Uhr und könnte nicht leuchten. Schluss jetzt! Also, es gibt noch ein dreibändiges Lexikon. Falls ich keine Lust haben sollte, aufzustehen und durch das Riesenzimmer bis zum Regal zu wandern, in dem sich die Encyclopaedia Britannica findet. Allerdings hat der Conte in diesem Fall nicht nachgedacht, denn ich muss ja sowieso aufstehen, auch um an die drei Bände auf der rechten Seite des Schreibtischs zu kommen. Ich könnte natürlich auch rollen, denn der Schreibtischstuhl hat Rollen und man kommt auf dem Parkettboden schon auf rich­tiges Tempo – ich habe das in einer schwachen Minute ausprobiert, bin allerdings dann gegen den dicken Teppich gekommen und umgefallen. Das tat allerdings nicht weh, denn der Teppich hat einen Flor, dass man bis zu den Knöcheln einsinkt. Ein tolles Gefühl, darum laufe ich im Zimmer – ich hätte jetzt fast geschrieben zu Hause immer mit nackten Füßen herum.

 

Na ja, ich muss jetzt weiterkommen. Also: Schreibtisch steht vor Wand, darüber ein Ölge­mälde, das eine toskanische Landschaft zeigt, Gemälde stammt aus dem 18. Jahrhundert, und Sothebys würde sich die Finger danach lecken, den Schinken zu verscherbeln. Links und rechts von mir Fenster bzw. Türen. Beide gehen hinaus in eine Loggia, auf der ein Tisch und drei Stühle aus Weidengeflecht, versehen mit dicken Polstern stehen. So, ab jetzt wird es schwierig, ich mache einen Rundgang durchs Zimmer, ohne zu gucken. Also, die Fensterwand hatte ich, erwähnenswert noch die Vorhänge mit bläulich-weißer Grundfarbe. Aber nicht die­ses Schwimmbadblau, das irgendwie kalt wirkt, sondern ein leichtes Blau, das an einen mor­gendlichen Sommerhimmel erinnert, Tony, du kriegst einen Sonderpunkt für Poesie. Gegenüber der Fensterwand ist die Wand mit der Eingangstür, weiß lackiert, aber nicht fett übergepinselt, sondern geschliffen, glatt wie ein Spiegel, mit vergoldeten Aufleistungen, die eigentlich protzig und fett sind, die aber so leicht wirken wie ein verspielter Federstrich. Noch ein Sonderpunkt.

 

Eigentlich ist die Tür eher ein Tor, denn sie hat zwei Flügel, bronzene Klinken in Brusthöhe, sie stellen Löwen dar. Links der Tür ist viel Platz, dann kommt das Regal mit dem Lexikon, dann die Querwand mit der Tür zum Badezimmer, dann ein Riesenschrank für meine Klamotten und dann wieder Platz bis zur Fensterwand. In der Zimmermitte eine Sitzgruppe mit einem Sofa und einigen Sesseln, in denen man sich herrlich flegeln kann. Rechts der Tür viel Platz, noch ein Riesenschrank, ein Spiegel, in dem sich ein Mammut wie­derfinden könnte, und dann das Bett, das für Orgien gebaut zu sein scheint, jedenfalls hat es mehr Quadratmeter als eine Londoner Sozialwohnung. Das wär’s, Rundgang erfolgreich beendet. Ach ja, das Bett ist ein – wie würde Pillbury sagen – fluffiger Hauch aus kühler Seide.

Was ich nicht habe, sind ein Fernseher, ein Radio, eine Zeitung oder einen Rechner. Nichts dergleichen. Aber ich habe so was auch nicht vermisst. Dafür gibt es in dem Bücherregal eine gelungene Auswahl von Schmökern, die man unter Weltliteratur abheften könnte. Ich habe in den letzten Tagen Conrad gelesen, und dann Billy Budd von Melville.

Wenn ich die Sache hier mal ganz professionell betrachte, also als wäre das ein Hotel, dann muss ich sagen, es ist oberste Premiumklasse und kann gar nicht Sterne genug haben. Ich weiß nicht, wo der Conte das Personal, größtenteils wirklich hübsche junge Mädchen, her­bekommt, aber diese Leute könnten in den besten Hotels der Welt arbeiten und würden Supernoten bekommen. Manchmal sieht man jemanden am Ende eines Ganges entlang huschen, aber immer ist der Service so, wie er sein sollte: perfekt und unauffällig. Jedenfalls waren meine Schuhe in den letzten Jahren nie besser geputzt, und meine Anzüge sind so was von flusenfrei, dass es schon fast arrogant wirkt.

 

Was einen aber in dieser Hütte umhaut, ist der Platz. Dieses Zimmer ist über drei Meter hoch, man könnte mit einem Ultraleichtflieger darin umher sausen. Wo man hintritt, ist Platz. Ich könnte eine verdammte Hochsprungstange quer vor der Brust tragen und käme immer noch durch die Tür, naja, das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber wenn ich an meine Londoner Bude denke, wenn ich da mit einem Wäschekorb unterm Arm durch eine Scheißtür wollte, dann waren blaue Flecken garantiert. Aber hier geht man einige Schritte und kommt zu einem Sessel. Man kann den Sessel mit einem Fahrrad umfahren, wenn man will. Wenn man will, dann kann man auch den Tisch näher heranziehen, oh Mann, das habe ich vergessen, es gibt noch einen kleinen Teetisch, den man aber nicht rollen kann, weil er Panzerketten brauchte, um durch den Teppichflor zu walzen. Wenn ich dagegen an so man­ches Wohnzimmer denke, wo man sich mit eingezogenem Bauch am Tisch vorbeiarbeitet, um sich dann mit drei Leuten auf ein Sofa zu quetschen und sich zu fragen, warum der Nebenmann/frau bloß so einen Elefantenhintern haben muss.

Egal, das ganze Gebäude ist so. Überall viel Platz, ohne dass etwas protzig oder übertrie­ben wirkt. Und nach zwei Tagen kann man sich gar nicht vorstellen, dass es irgendwo ande­re Treppenhäuser geben könnte, als dieses hier, wo man zu viert untereinandergehakt hochstei­gen kann.

Da ich beim Thema Haken bin … soll ich oder soll ich nicht?

Nun ja, dieses Tagebuch dient ja angeblich der strengen Selbstprüfung und so. Also soll ich nicht nur, ich muss sogar.

Also: ICH HABE ES MIT LUCILLE CHAUDIEU …!!!

 

War es meine Idee? Ich hielt es sogar für unangebracht. Aber was sollte ich machen? Diese Frau war so scharf wie ein Rasiermesser und so heiß wie ein Vulkan im Hochsommer, und außerdem habe ich ja auch eine soziale Ader.

Also, es war so. Wir saßen unten alle zusammen beim Essen auf der Veranda, umschwirrt von federgleichen Mädchen in wehender Seide, die uns bedienten, und der Conte hielt mal wieder einen dieser total abgefahrenen Vorträge, die mir klargemacht haben, dass der Gute Drehbuchschreiber für Akte X sein muss. In dem Drehbuch komme ich aber auch vor, und Dorkas, Little, Steele, ja selbst Lucille, spielen nicht unbedingt nur Nebenrollen.

Ich höre natürlich begeistert zu, aber auf einmal spüre ich einen Blick. Ich linse also zur Seite und schau an, da sitzt Lucille, was mich nicht wundert, denn sie saß schon vorher da. Sie trägt ein langes rotes Seidenkleid, so in der Art, wie sie es in Bombay anhatte. Ich denk mir nichts und schaue wieder zum Conte, da höre ich sie ganz leise seufzen. Also schaue ich wieder zu ihr, ob sie vielleicht gerade einen akuten Anfall von Haarausfall hat oder so was. Aber sie schaut mich immer noch an, und zwar so, dass selbst ein schüchterner Jüngling wie ich merken musste, dass sie ihn meinte. Ich meine, sie hatte einen Arm auf dem Tisch, in meine Richtung, und mit der anderen Hand stützte sie ihr Kinn und sie warf mir einen schmachtenden Blick nach dem anderen zu. Eine viktorianische Jungfrau könnte nicht seelen­voller schauen. Ich will mal so sagen, wenn sie ein Kerl wäre und ich Pillbury, dann würde ich sagen, der Kerl hat Samenüberschuss.

 

Jedenfalls ging mir dieser Blick aus ihren brauen Augen durch und durch. Und weil sie mich bekanntermaßen für einen Trottel hält, lächelt sie auch noch und streicht sich mir der freien Hand die Haare hinter das Ohr. Mir lief es heiß den Rücken herunter, zum Glück hatte ich die Krawatte nicht allzu eng gebunden, sonst wäre ich erstickt.

Gut, sage ich mir, immer locker bleiben, und dem Conte zugehört. Aber immer wenn ich zu ihr schaute, war da schon ihr Blick. Sie leckte mich förmlich ab mit ihren Blicken. Gut, spätestens, als ich ihren Fuß an meinem Hosenbein fühlte, hatte ich keinen Grund mehr, an meinen Beobachtungen zu zweifeln. Aber ich sagte mir, Tony pass auf, das könnte eine Prüfung seitens des Conte sein. Also lass ich den Coolen raushängen – und außerdem war ich an dem Tag ziemlich müde und hatte ein Glas zu viel von dem köstlichen Rotwein genossen. Es fiel mir also leicht, tugendhaft zu bleiben. Ich änderte also meine Sitzposition und brach­te meine Stachelbeerbeine außer Reichweite von Lucilles köstlichen Gazellen-Extremitäten. Nach einer Weile schaute ich mich dann doch unauffällig um – die Frau war völlig fertig! Wirklich, sie hatte Tränen in den Augen und schniefte herum und Dorkas merkte auch schon was, obwohl der immer von seinem Conte redet und wie ein Süchtiger an den Lippen des großen Mannes hängt.

Aber da war der Conte schon fertig und es gab noch ein wenig Geplauder und dann gähn­te Little schon und entschuldigte sich und auch Dorkas wankte ab und schwabbelte auf sein Zimmer. Lucille ging ebenfalls, sagte freundlich Gute Nacht zu allen, außer zu mir und rausch­te hinweg.

 

Gut, sag ich mir, du hast bei ihr verschissen, was soll’s. Ist ja eh nur ‘ne Frau, das heißt, davon gibt es auf der Welt mehr als von Männern, womit eindeutig der Wert belegt wäre. Irgendwie tat es mir aber denn doch Leid. Ich meine, sie ist ja gar nicht mal unhübsch. Aber auf so eine Attacke war ich nun wirklich nicht gefasst. Nun ja, ich sitze also noch eine Weile, denke an dieses und an jenes, aber immer an Lucille und an meinen Nachtschlaf. Nach einer Weile war ich überzeugt, dass ich alles perfekt gemacht hatte.

Ich gehe also in mein großes, einsames Zimmer. Dazu muss ich über einen Gang, nach rechts durch einen weiteren Gang bis zur Vorhalle und dann eine Treppe rauf, wobei ich mich entscheiden kann, ob ich den linken oder den rechten Treppenflügel nehme. Ich weiß genau, wo die anderen untergebracht sind, jedenfalls liegt Lucilles Zimmer im Erdgeschoss. Ich gehe also in mein Zimmer, nichts ist verschlossen, warum auch, mache das Licht an – drei Kronleuchter an der Decke – Flash! Ich will ins Bad abdrehen, da kriege ich den totalen Schock. Jemand fährt aus dem Sessel hoch. Bevor ich schnalle, dass es Lucille ist, ist sie schon ganz dicht bei mir. So wie sie aussah, dachte ich im Moment, sie will mich erwürgen oder mir eine runterhauen oder so. Jedenfalls war nichts mehr mit eleganter Dame. Sie rauscht also heran, die Haare flogen regelrecht, dann drängt sie sich an mich und sagt, nein sie flüs­tert, aber wie sie flüstert: Warum stößt du misch zurück, du grausamer, böser Wischt?

Dann schnappt sie sich meine Hand und presst sie auf ihren Busen. Ich weiß gar nicht mehr, welcher es war, egal, beide sind perfekt. Was soll ich sagen, ich bin kein Experte, aber ich glaube auch Robbie Williams oder wer auch immer behauptet, es mit tausend Schlunzen getrieben zu haben, hat nie was Besseres in die Hand gedrückt bekommen. Es hatte was von einer Frucht. So eine Art von weicher Melone, aber eben nicht zu weich und darauf dieser harte Nippel, dass es mir fast die Handfläche zerfetzte.

Mit der einen Hand presste sie also meine Hand gegen ihren Busen, mit der anderen fass­te sie mich am Nacken. Sie wollte mich küssen, das hatte ich inzwischen kapiert, aber wie sie den Mund öffnete, hatte ich fast Angst, dass sie mich verschlingen wollte, so viel Temperament steckte dahinter. Irgendwie zuckte ich zurück und daraufhin fing sie wieder an zu flennen.

»Oh Tony, kannst du nischt spüren dieses mein ‘erz, das nür für disch schlägt? Nimm misch, sonst werde isch sterben vor Kümmer und Gram!«, rief das arme Mädel. In dem Moment war ich schon so weit, ihr ihre große Klappe zu verzeihen, zumal sie mir ja selbige zwecks Beküssung angeboten hatte. Aber ich sagte mir, Tony, nun mal nicht überrollen lassen und zu ihr sage ich ganz kühl:

»Lucille, wir sollten nichts überstürzen, du bist ja ein fesches Mädel und kannst auch schon ganz gut Auto fahren, aber wir kennen uns ja kaum und ich bin …«

So weit war ich gekommen, und wollte noch sagen, ich wäre kein Mann für eine Nacht, da schmeißt sie sich regelrecht an mich. Echt, es war eine Art von Ringergriff, sie klammer­te, dass mir die Luft wegblieb und dann merkte ich noch, dass sie an ihrem Rock Seitenschlitze hatte, sonst hätte sie es nicht geschafft, ein Bein um mich zu legen. Na ja, irgendwie kam ich mit der Hand an dieses Bein und musste feststellen, dass die Haut recht glatt war und sich allgemein ganz so anfühlte, als passte es zur kühlen, sanften Seide in mei­nem Riesenbettchen. Sie legte ihr Gesicht an meinen Hals und dann flüsterte sie. Ich konnte ihre Lippen spüren, und es war mir sogar egal, dass ihr Lippenstift meinen Kragen vollsauen würde, denn dafür gibt’s ja den Hotelservice. Also ließ ich sie flüstern, und ihre Haare kitzel­ten fürchterlich, aber waren auch weich und dufteten ausgezeichnet. Da ich es nicht schaffte, in dieser Situation die Standardhaltung des englischen Gentleman einzunehmen, also beide Hände in den Taschen zu vergraben, musste ich wohl oder übel eine Hand um die heulende Lucille legen. Sie fühlte sich nicht schlecht an für eine Frau, ich erwischte ihr Schulterblatt und musste aus statischen Gründen dann weiter nach unten mit der Hand, bis ich zum Po kam, der irgendwie sehr fest war und sehr gut gerundet, also irgendwie für meine Hand geschaffen zu sein schien. Mit der anderen Hand war ich also an ihrem Bein – Untergriff unter den Schenkel, das hatte was von einem Tango.

»Oh Liebling«, flüstert Lucille also los, »isch spüre, dass wir füreinander gemacht sind. Isch abe nür auf disch gewartet. Isch brenne, stoße misch nischt zurück oder isch werde sterben.« Und dabei krallte sie sich derart in mein Jackett, dass ich ihre Fingernägel spürte, wobei ich natürlich darauf hinweisen muss, dass ich ein sehr leichtes Leinenjackett trug, das heißt, Leinen mit dreißig Prozent Seide, darauf lege ich Wert!

Die Situation gewann eine gewisse, nicht zu leugnende Eindeutigkeit, aber ich hatte trotz­dem noch Lust auf einen guten Nachtschlaf ohne Beziehungsgymnastik. Also lasse ich ihr Bein los und schiebe sie allgemein ein wenig auf Distanz.

 

Hätte ich nicht machen sollen. Denn sie lässt mich tatsächlich los, geht einen Schritt zurück und dann packt sie ihren Ausschnitt. Will sagen, den sehr hoch schließenden Kragen ihres Kleides und dann fetzt, fetzt, reißt sie das Kleid entzwei. Das Mädel muss trainiert haben, jedenfalls war das Kleid wutsch entzwei und ihr Busen lag blank. Was soll ich sagen – diese Pyramidenform der Venus von Milo, busenformmäßig, aber um einiges mehr an Masse und jedes Gramm ein Gedicht. Gut, sie hatte eine Haut, wie geschaffen für Kosmetikreklame und sie legte sich auch nicht in die Sonne und hatte diese bescheuerten weißen Bikinistellen. Insofern war ich ganz einverstanden.

Und dann heulte sie wieder los, na ja, eher bittendes Flüstern, ziemlich überzeugend und dabei streckte sie ihre Arme nach mir aus. Ihr Kleid rutschte noch ein Stück weiter nach unten und blieb ein wenig unter dem Bauchnabel hängen. Ich stellte mir einer gewissen Befriedigung fest, dass sie keine bescheuerten Tätowierungen hatte und auch kein Alteisen im Bauchnabel. Nein, das Ganze wirkte nicht unerfreulich, alles sehr glatt und mit einer Außenwölbung und schlanker Taille und vielleicht ein wenig zu viel Hüften, im Vergleich zu Francine hat Lucille eine eindeutig stärkere Kurve im Hüftbereich, was jetzt aber nicht unbe­dingt was Negatives meinen soll.

»Nimm misch«, keuchte sie und streckte ihre Arme aus, ich hatte es schon erwähnt. »Du kannst alles vor mir ‘aben, du kannst alles mit mir machen, nur nimm misch, schlage misch, quäle misch, aber berühre misch, isch müss disch fühlen, sonst sterbe isch an Kümmer.«

Irgendwie war das Angebot ja relativ großzügig, aber da hinten war ein frisch bezogenes Bett und ich hatte immer noch keinen Bock, es mit jemandem zu teilen und irgendwie so die schnelle Nummer im Stehen war auch nicht das Ding, weil das Mädel ja offensichtlich mehr wollte.

Jedenfalls, spontaner Jubel kommt bei mir nicht auf. Sie merkt es, Tränen fließen über ihre Wangen, sie senkt den Kopf, streift das Kleid von den Hüften und steht im Naturzustand vor mir. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich einfach Mitleid mir ihr hatte. Ja, sie tat mir schlichtweg leid, so wie sie da stand – völlig nackt und nicht mal unansehnlich, den Kopf gesenkt, beide Hände an den Wangen und sie wurde von Schluchzen geschüttelt. Wenn man es nicht gesehen hat, soll man gar nicht glauben, was bei so einer Frau in Bewegung gerät, wenn sie gerade flennt, weil sie von einem Gentleman den Beischlaf verweigert bekom­men hat.

Vom Busen konnte ich nichts sehen, da hingen ja die Haare drüber, aber ihr Bauch beweg­te sich, flehentlich schnaufend, es war schon eindrucksvoll.

Ich denke mir, dass es an der Zeit ist, sich wie ein Mann zu benehmen. Also sage ich, Lucille, sage ich, ich bestelle jetzt einen Tee und dann reden wir darüber, ich verstehe ja, dass du in mich verknallt bist, aber sieh mal, es ist schon spät und ich wollte mir schon seit zehn Minuten die Zähne putzen.

Leider mache ich den Fehler und trete zu nahe an sie heran, während ich dieses schöne Beispiel für das Benehmen eines Gentleman abliefere. Kaum bin ich in Reichweite, da krallt sie schon wieder. Ich habe also wieder ihre Arme im Nacken und sie drängt sich an mich, und als ich sagen will, dass sie sich doch besser setzen soll, also meinen Mund öffne, da hat sie ihre Lippen schon auf den meinen. Küssen kann das Mädel, das muss ihr der Neid lassen. So ungefähr wie eine Nymphomanin nach zwanzig Jahren Einzelhaft. Sie machte das richtig fachgerecht, mit weit offenen Lippen und dann kam schon ihre Zunge und fuhrwerkte bei mir herum, und um meine Mandeln zu schützen, musste ich auch meine Zunge in Bewegung set­zen. Spätestens da war mir klar, dass ich Lucille an diesem Abend nicht mehr so leicht los werden würde, zumal sie ihre handwerklichen Fähigkeiten zeigte und zugleich ihre Lippen wie eine Krake auf meine presste und mir andererseits in wuppsdich die Klamotten vom Leib riss. Die Knöpfe platzten weg, als wäre hier eine Splitterbombe im Einsatz. Dabei schnaufte und stöhnte sie, dass es der Soundtrack zu einem mittelheftigen Porno hätte sein können. Wirklich, ich kam mir in gewisser Weise vor wie eine Felswand, an der sich gerade eine Gruppe von Kletterern abarbeitet.

Ich legte ihr sozusagen aus mitmenschlicher Solidarität die Hand auf den Rücken, und da jauchzte sie derart und fing an zu zittern, dass ich dachte, Tony, jetzt kannst du mal ne Pause machen und ins Bad gehen, um dir endlich die Zähne putzen. War aber nichts, denn sie mach­te weiter, und wenn sie mich nicht an allen Stellen abknutschte, die außer meiner Mama nur der Storch gesehen hatte, brachte sie meine Frisur fürchterlich durcheinander, flüsterte das schon bekannte Zeug in Variationen und versuchte mich zwischendurch mit ihrer Zunge zu ersticken.

 

Gut, ich wusste inzwischen, dass ich ziemlich bescheuert aussah, so wie ich mit meinen Socken und meinen Schuhen und ansonsten na ja, dastand. Irgendwie musste ich das Mädel ruhigstellen, damit ich mir wenigstens diese Restteile meiner Kleidung ausziehen konnte. Also schnappe ich mir Lucille und trage sie zum Bett, im Watschelgang, denn ich hatte ja noch meine Beinkleider an, das heißt nicht an, sondern sie hingen eben unten herum. Ich bin sicher, Lucille hätte mit ihren handwerklichen Fähigkeiten auch das Problem gelöst, aber es war mir irgendwie peinlich, sie so arbeiten zu lassen. Also brachte ich sie zum Bett und unter­wegs, es war ja ein langer Weg und ich musste watscheln, erzählte sie mir noch ganze Liebesromane und ich kann an dieser Stelle nur erwähnen, dass nicht von Wüste und Trockenheit die Rede war, sondern eher vom Gegenteil und sie brauchte mich nur zu sehen, um in diesem besagten Zustand zu kommen und warum ich es denn nicht schon seit Jahrzehnten gemerkt hätte und immer hat das arme Ding heulen müssen, wenn ich nicht da war, ich kam mir richtig schlecht vor, wenn ich mir die kleine Lucille vorstellte, wie sie in der Schule saß und heulte, weil Tony Tanner nicht bei ihr war. Das muss doch auf die Dauer Falten geben oder Tränendrüsenkrebs oder so was. Irgendwie praktizierte ich die Dame also auf das Bett und konnte mich meiner Restkleidung entledigen. Sie hörte unterdessen endlich auf Süßholz zu raspeln, es war mir inzwischen schon peinlich und streichelte sich mit geschlossenen Augen an nicht näher zu benennenden Stellen und schnurrte dabei wie eine Katze. Aber es war ja mein Bett und das wollte ich nicht kampflos aufgeben, also legte ich mich selbst darauf und legte weiterhin meine Hand auf ihre Hüfte, aber nur weil es sich anbot und diese Hüfte eine recht griffige Form hatte. Daraufhin grapschte sie wieder nach mir, zog mich an sich, presste wieder einmal ihre weichen Lippen auf die meinen welchen und schlang dann beide Beine um mich. Nun ja, das Zähneputzen konnte ich also vergessen, aber Lucille gab sich Mühe, mir den Verzicht leicht zu machen … liebes, liebes Tagebuch …

Ich geb’s ja zu. Alles gelogen.

ICH HABE ES NICHT MIT LUCILLE CHAUDIEU GETRIEBEN!

Geht auch gar nicht, denn sie ignoriert mich. Um genau zu sein, wir ignorieren uns gegen­seitig. Um noch genauer zu sein, brauchte ich sie gar nicht zu ignorieren, denn sie ignoriert mich schon selbst derart, dass es für mich mitreicht. Ich ignoriere sie aber trotzdem, schon aus dem mir eigenen Gefühl für männliche Würde heraus.

Wir sehen uns nur am Abend, wenn der Conte sozusagen zur Vollversammlung bittet. Dann gibt es einen kurzen Gruß in meine Richtung, aber keinen Blick. Stattdessen flirtete sie sogar mit Dorkas, der dabei ständig eine rote Bombe bekommt, aber mit seiner Art gar keine schlechte Figur bei solchen Tändeleien abgibt. Und wenn nicht Dorkas, dann Little. Steele macht solche Spielchen nicht mit, aber ich bin mir fast sicher, dass sie sich Steele geschnappt hat, sie ist dieses typische Luder, das einen Kerl flachlegen muss, wenn der nicht sofort selbst den Wunsch verspürt, das Luder flach zu legen. Und in dieser Hinsicht ist Steele wirklich klasse. Sie könnte vor ihm nackt auf dem Tisch tanzen und er würde sie nur fragen, ob ihr nicht kalt ist. Guter alter Steele! Trotzdem haben es die beiden getrieben, ich merke das schon an der Art, wie sie sich ignorieren, aber eben nicht so, wie sie mich ignoriert.

 

Themenwechsel!

Themenwechsel!

Sofortiger Themenwechsel. Lucille ist mir sowieso so was von so was von egal, dass ich gar keine Worte dafür finden kann. Stichwort finden. Ich habe hier tatsächlich einen Freund gefunden. Freund ist ein großes Wort, aber dieser Kerl ist einfach so, dass man ihn ins Herz schließen muss und weil er mich auch ins Herz geschlossen hat, kann ich dieses große Wort wohl nutzen. Die Sache mit Lucille ist übrigens gar nicht so schlimm. Ich meine, ich komme ganz gut damit zurecht. Zumal es hier genügend Ablenkung gibt.

Es reicht, darüber nachzudenken, was der Conte abendlich ablässt. Pillbury würde sagen echt krass, voll fett abgefahren oder vielleicht auch, jedenfalls in Ansätzen, affenscharf.

Akte X, ich sagte es schon, nur mystischer.

Der Conte sagte schon am ersten Abend, willkommen im Klub. Oder in der, wie er es nennt, Fraternidad. Lucille war so beeindruckt, dass sie gar nicht daran dachte, auf eman­zipatorisch politische Korrektheit zu pochen, von wegen Bruderschaft und Schwesternschaft und so.

Die ganze Rede lief darauf hinaus, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die zu die­ser Bruderschaft gehören, es aber nicht wissen. Die Bruderschaft sieht sich aber nun derart in die Ecke gedrängt, dass sie immer wieder versucht, solche Leute, die der Conte als Schläfer bezeichnete, zu wecken. Das Problem ist, dass es zu den Prinzipien der Bruderschaft gehört, keinen Zwang anzuwenden. Wenn einer nicht will, will er nicht und das war es dann. Die Tatsache, dass wir uns hier getroffen haben, sei also ein Zusammenspiel aus freier Entscheidung, so einer Art von genetischer Prägung und einem Ränkespiel, bei dem die Bruderschaft versucht, diese oder jene Weiche zu stellen, aber nur die grobe Richtung vorge­ben kann.

 

Diese Bruderschaft ist ursprünglich so eine Art von Abspaltung. Wenn ich das jetzt schrei­be, dann kräuselt sich mir förmlich die Goldfeder, so abgefahren klingt das. Wenn der Conte es sagt, dann gewinnen diese Worte eine ganze andere Bedeutung, ich meine, sie sind plötz­lich ganz wirklich, man weiß sofort, das ist es und kein Zweifel ist möglich. Der Mann flößt mir Ehrfurcht ein, und was er sagt, klingt wie das Evangelium oder etwas Hohes und Heiliges, und wir sind mittendrin und es geht uns direkt an.

Und so verstehe ich es: Ausgangspunkt ist eine Hochzivilisation weit vor dem Beginn der bekannten Menschwerdung. In der Sage von Atlantis finden sich noch Reste des Wissens um eine untergegangene Zivilisation.

Wir haben also diese wundervolle Kultur, geführt von einer Priesterkaste. Diese Priester beginnen aber, und das ist der Beginn der Spaltung, ihre Kräfte zum Zwecke der Beherrschung und der Manipulation zu missbrauchen. Der Conte sagt, sie haben den rechten Weg verlassen. Es kommt zu Unruhen, zu einer Spaltung der Priesterschaft, schließlich zu einer globalen Katastrophe, bei der die Kultur verschwindet, weil die Kräfte der Priester viel größer sind, als man glaubt, und mit dem Stock auf einen Felsen hauen, damit Wasser spru­delt, war gegen die Fähigkeiten der alten Priester nur eine Clownübung.

Die alte Priesterschaft überlebt dank ihrer Kenntnisse, ist aber sozusagen hilflos, bis sich aus dem Chaos wieder die ersten Menschen entwickeln. Die Priester haben ihre Kenntnisse weitergegeben und versuchen, den Kurs der Menschheit wieder auf die Hochkultur zu lenken. Das ist aber nur eine Gruppe der Priesterschaft. Die andere entwickelte sich zu dem, was der Conte die Titanen nennt.

 

Sie sind längst nicht mehr menschlich, leben irgendwo im Verborgenen, haben aber ihre Helfer. Das Ziel der Titanen ist genauso, wie es jeder ordentliche Bösewicht hat, sie wollen die Weltherrschaft. Das wollten sie zwar schon seit anno Tobak, aber jetzt haben sie mit den technischen Möglichkeiten, die sich in den letzten dreißig Jahren entwickelt haben, plötzlich eine Chance zur Realisierung dieses Zieles. Bisher haben sie nur gewartet und ein wenig an den Entwicklungen gedreht. Aber der ganz große Wurf ist erst jetzt möglich und der Conte ist überzeugt, dass er kurz bevorsteht. Der Conte selbst sieht sich als Teil der Weißen Bruderschaft, die schlicht gesagt, die letzten Jahrtausende verpennt hat. Sie haben sozusagen im Haus gesessen und fromme Lieder gesungen, während draußen gezündelt wurde. Das mit dem verpennt stammt nicht vom Conte, der hatte vom Versagen gesprochen. Tatsache war also, dass sich die Titanen gemeinsam in eine Richtung bewegten, während sich der andere Teil der Priesterschaft um die eigene Befreiung von den Banden des Körpers oder was auch immer kümmerte, jedenfalls im Laufe der Geschichte auseinanderlief. Bis sich Leute wie der Conte an das alte Wissen erinnerten.

Wie das mit einem Mal geschehen konnte? Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Knoten im Angesicht des Zweiten Weltkrieges geplatzt. Wie es sich im Ersten Weltkrieg bereits andeutete, galten im Völkerstreit jetzt nicht mehr Ehre und Tapferkeit, eine gute Fecht­- und Reitausbildung in einem heroisierten Kampf auf offenen Schlachtfeldern und Mann gegen Mann. Jetzt brachen Zeiten an, in denen sich der Feldherr im Bunker versteckte, wo in den Flügelbomben keine Piloten mehr sitzen sollten – und auch meine Landsleute hatten keine Scham, ganze Städte zu enthausen, wie sie ihren Feuersturm nannten.

Die Menschheit im völligen Wahnsinn, im völligen Verlust jeden Anstands, in der voll­ständigen Verachtung ihrer selbst. Man muss jetzt nicht unbedingt von Glück reden, dass es Menschen gab, denen das aufgefallen ist. Schon kam die Erkenntnis, dass andere Kräfte am Werk sein müssen, die das Böse wollen, und Vernichtung und Krieg gehören zu den Instrumenten. Das Böse wird nicht besiegt, indem der Krieg gewonnen wird, sondern der Krieg wird gewonnen, um dem Bösen ein neues Feld zu bereiten. In vielen Menschen schlief das, was sich heute als Fraternidad gegen das Böse zusammenschließt. Jetzt erwacht es.

 

Das klingt jetzt missverständlich. Der Conte sagte, dass es zu den Gesetzen des Universums gehöre, dass jeder Kraft eine Gegenkraft antwortet. Wenn also die Titanen an Kraft gewinnen, dann eröffnet sich auch für den andern Teil der Priesterschaft die Möglichkeit, an Kraft zu gewinnen. Im Falle der Fraternidad bedeutete das, dass sich die Leute erst einmal bewusst wurden, dass diese Bruderschaft einst existierte, dass sie immer noch existiert und dass sie selbst zu ihr gehören. Das geschah durch Studium alter Bücher – als der Conte das sagte, rutschte Dorkas derart auf seinem Sitz herum, dass ich nur darauf wartete, dass er mit den Fingern schnippen und Ich weiß was, ich weiß was!! rufen würde – durch mündliche Überlieferung, einfach dadurch, dass zwei oder drei Leute zusam­men kamen und darüber redeten. Die Bruderschaft entstand, weil sie sich ihrer selbst erinner­te. (Der Satz könnte jetzt auch von Conte di Saloviva stammen). Ihre Aufgabe ist schlicht gesagt, den Titanen die Tour zu vermasseln. (Der Satz klingt nach Tony Tanner). Das Problem ist, dass die Titanen der Bruderschaft immer einen Schritt voraus sind, vor allem, weil die Bruderschaft nicht genau einschätzen kann, auf welche Weise die Titanen ihre Herrschaft wie­der aufrichten wollen. Dorkas hat mir früher in dieser Hinsicht schon einiges deutlich gemacht, obwohl er selbst auch noch nicht den Begriff der Titanen kannte und was damit zusammenhängt. Little allerdings behauptet, er hätte sie gesehen, weigert sich aber, darüber zu reden.

Ich habe einen Schreibkrampf.

Ich denke nach. Seit ich Dorkas kennengelernt habe, stecke ich in der Geschichte drin. Ehrlicherweise, liebes Tagebuch, so, wie ich zwischen Francine und Lucille festhänge, so hänge ich zwischen meinem alten und meinem neuen Leben fest. Ich weiß im Moment wirk­lich nicht, wohin ich mich entscheiden soll, und ob meine Lebenssehnsüchte in der Ruhe oder im Abenteuer bestehen. Könnte ich beides haben?

 

Die Tage auf Collesalvetti fügten sich für Tony Tanner mit müheloser Selbstverständlichkeit zu einem ganz eigenen Rhythmus aneinander. Es bestand keine Notwendigkeit, an der Richtigkeit dieser Aufteilung zu zweifeln oder zu fragen. Es war gut, so wie es war.

Seltsamerweise – oder vielleicht war es ja gerade nicht seltsam, sondern nur natürlich ­ging jeder seiner eigenen Wege. Dorkas hockte fast den gesamten Tag mit dem Conte di Saloviva zusammen, Little hatte auch einen Gesprächspartner gefunden, mit dem er sich stun­denlang unterhalten konnte, Steele rannte wie ein Gehetzter über das Gelände oder stemmte tonnenweise Eisengewichte oder verzog sich in den Fechtsaal, wo ihn ein vom Conte bestell­ter Waffenmeister zu Übungen erwartete. Lucille fehlte fast vollständig auf der Bildfläche und tauchte nur hier und da als entfernte Gestalt jenseits der großen Rasenflächen auf, nur um kurz danach wieder hinter einer Baumgruppe verschwunden zu sein.

Am ersten Morgen ihres Aufenthaltes hatten sie sich noch zu einem gemeinsamen Frühstück getroffen. Tony war als Letzter gekommen, weil er sechs Anläufe gebraucht hatte, um den Krawattenknoten in der von ihm gewünschten Qualität zu binden.

Er hasste es, als Letzter zu einer solchen Gesellschaft zu erscheinen. Schon dadurch fühl­te er sich als Außenseiter. Jetzt fand er allerdings drei Außenseiter vor, die allesamt mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt waren. Tonys Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, ver­liefen nach wenigen Sätzen in dem unkonzentrierten Desinteresse, das im Grunde ihre einzi­ge derzeitige Gemeinsamkeit zu sein schien.

Einzig das abendliche Mahl wurde zu einer Gelegenheit, bei der sich alle erneut zusam­menfanden. Aber auch hier waren es Einzelpersonen, die den Worten des Conte di Saloviva lauschten.

Diese Worte gaben Tony Tanner genug Stoff zum Nachdenken, sodass es ihm ganz recht war, das Frühstück in den nächsten Tagen allein auf dem Balkon einzunehmen.

Die Bedienung schaffte es immer wieder, genau im Moment das richtige Frühstück auf den Tisch zu zaubern. Kurz nachdem Tony frisch gewaschen und gebürstet, von weltmänni­schem Duft umweht und vom Bewusstsein durchdrungen, dass er alle Fährnisse, Herausforderungen und Verlockungen des vor ihm liegenden Tages bestehen könne, aus dem Bad trat und in der weichen Polsterung eines Korbsessels versunken war, tauchte die Bedienung auf und servierte. Es handelte sich um einen dunkelhäutigen jungen Mann, dessen schlanke Figur noch durch die uniformartige Kleidung, die er trug, unterstrichen wurde. Er hätte bestens in den 1. Klasse-Speisesaal eines der alten Luxusliner gepasst. Schweigend, aber mit freundlichem Lächeln trat er auf den Balkon, legte Besteck auf, brachte ein Wägelchen mit den Speisen heran – irgendwo musste er noch einen Helfer (oder eine Helferin, was Tony vermutete) haben – wartete dann noch einen Moment, die weißen Handschuhe leicht an die Hosennähte gelegt, bis Tony ihm mit einem Kopfnicken seine Zufriedenheit signalisiert hatte, und verschwand dann mit einem Lächeln, als würde ihm das Servieren des Frühstücks von Tony Tanner zu einem der glücklichsten Menschen der Welt machen.

 

Tony beendete das Frühstück, rückte den Sessel ein wenig zur Seite und griff nach seinem Buch, nachdem er sich vergewissert hatte, dass in der Teekanne noch ein genügender Vorrat vorhanden war. Wenn er den Hals reckte, konnte er über die Balkonbrüstung hinaus auf die grüne Rasenfläche schauen. Wie nach Fahrplan tauchte jetzt Jeremiah Steele auf und rannte ­joggen konnte man diesen Galopp nicht mehr nennen – quer über das Gelände. Tony hatte vor einigen Tagen nachgefragt, ob er Steele bei so einem Lauf begleiten könne und Steele hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Allerdings musste Tony nach kurzer Zeit feststellen, dass er das Tempo des anderen nicht mithalten konnte. Steele hatte weder einen besonders eleganten Laufstil noch wirkte er ent­spannt. Im Gegenteil, er schnaufte nach kurzer Zeit wie eine Maschine. Aber wie eine Maschine, die noch tausend Stunden weiterlaufen kann, bevor sie geschmiert werden muss. Steele hatte die Schwierigkeiten Tonys bemerkt, hatte etwas davon gesagt, dass er jetzt einen Zwischenspurt einlegen müsse, und war dann blitzschnell losgezogen und hinter einem der sanften Hügel verschwunden, was Tony die Gelegenheit gab, ohne besonders gekränkte Eitelkeit wieder zum Gebäude zurückzuhumpeln.

Seitdem verzichtete Tony auf besondere körperliche Anstrengungen und verließ sich darauf, dass sich seine Kondition auch noch morgen oder übermorgen stärken lassen würde.

 

Aus seinem Bücherregal hatte Tony einen opulenten, kiloschweren Bildband über die Geschichte des Reisens im 19. und frühen 20. Jahrhundert geholt und blätterte ihn langsam durch. Die alten Fotografien begeisterten ihn. Diese Menschen hatten noch Stil. Vielleicht waren sie dadurch keine besseren Menschen, sicherlich nicht, aber sie besaßen den Rückhalt fester Gewissheiten und unbestreitbarer Überzeugungen, in denen sie ihre Persönlichkeit ent­falten konnten. Tony ließ das Buch sinken. Es lag schwer auf seinen Knien. Feste Gewissheiten – die beiden Worte hallten in ihm nach.

Ganz spontan verband er den Begriff Gewissheit mit Conte Hercule di Saloviva. Der Mann war wirklich überzeugt von dem, was er sagte, so unglaublich sich seine Worte auch in den Ohren eines Normalmenschen ausnehmen mussten. Der Conte besaß eine leise, rück­sichtsvolle, sanfte Hingabe an seine Sache, die auf Tony wie eine Art von Pulverschneelawine wirkte.

Tonys Augen wanderten zurück zu dem Buch auf seinen Knien. Die doppelseitige Abbildung zeigte eine Teegesellschaft auf der Terrasse eines indischen Hotels. Die Damen trugen große weiße Hüte, helle Blusen, dunklere weite Röcke. Die Herren kleideten sich in Uniform der Kolonialtruppen oder in uniformartige Tropenkleidung, nur eine oder zwei Personen hatten europäische Sommeranzüge gewählt, die ebenso zu einer Regatta auf Cowes gepasst hätte oder auf die Zuschauertribünen eines Polospiels. Es war seltsam, sich die Gesichter anzuschauen und dabei zu wissen, dass keine der abgebildeten Personen jetzt noch mehr war als eine Handvoll Staub. Da hatten sie gesessen, hatten für den Fotografen eine Weile stillgehalten, hatten stumm in das Objektiv geschaut, die Teetasse in der Hand, den Daumen in die Westentasche geschoben …

Jetzt war er, Tony Tanner, auf seltsame Weise zu einem Mitglied ihrer Gemeinschaft geworden, sah in ihre Gesichter, saß mit ihnen auf der schattigen Terrasse eines indischen Hotels. Über die Zeiten hinweg schien es eine Verbindung zu geben, die von einem Spötter verlacht werden mochte, die Tony aber deutlich spürte.

Und er spürte etwas anderes. Es war sicher kein Zufall, dass sich gerade dieses Buch in seinem Zimmer befunden hatte. Auf irgendeine Weise musste der Conte Tonys Interessen und Vorlieben geahnt haben, um ihm auf diese Weise eine Lektion näher zu bringen. Eine Lektion, die da lautete: Du bist ein Glied einer Kette, die aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht, auch wenn du weder deine Vorgänger noch deine Nachfolger kennst und dir nicht einmal vor­stellen kannst, wer sie sind, so sind sie doch da und beide, deine Vorgänger und deine Nachfolger sind von dir abhängig, denn du bist das Glied der Kette, das Vergangenheit und Zukunft verbindet, an deiner Stärke liegt es, die Kette zu erhalten, du bis derjenige, der die Kette ausmacht.

 

Tony schlug das Buch zu und legte es auf einen anderen Sessel. Für Sekunden hatte er selbst Gewissheit gehabt, nun löste sie sich wieder auf in einen grauen Nebel des Zweifelns.

Es war eben nicht einfach, wenn man sich sozusagen als Zwangsrekrutierter einer Bruderschaft wiederfand, die aus einem Trivialroman, einem sehr trivialen Trivialroman zudem, zu stammen schien. Der Conte gab dem gespenstischen Konstrukt der Fraternidad durch sein Auftreten, durch seine Worte so etwas wie eine Gestalt. Dorkas hatte mit dem Gedanken keine Probleme, im Gegenteil. Er schien die beste Phase seines gesamten Lebens durchzumachen. Steele nahm alles mit stoischer Gelassenheit hin, einer Art von toleranter Skepsis. Wie Little oder Lucille die Sache sahen, konnte Tony nicht abschätzen. Er konnte ja nicht einmal selbst abschätzen, wie er selbst die Sache sah.

Der Conte jedenfalls hatte seine Fußangeln geschickt ausgelegt, sagte sich Tony, als er wieder zu dem Bildband griff und sich eine letzte Tasse Tee gönnte. Das Reisen, das Unterwegs-Sein, ja das war die Sucht Tony Tanners. Eine Eisenbahnfahrkarte oder ein Flugschein bedeuteten für ihn das Äquivalent eines fliegenden Teppichs oder vielleicht auch einer Opiumpfeife in einer chinesischen Lasterhöhle – er konnte unterwegs sein, nicht mehr hier und noch nicht dort, immer auf der Strecke, immer in Bewegung … immer auf der Flucht? Oder auf der Jagd nach etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war?

Was der Conte von ihm verlangte, war nichts anderes, als stehen zu bleiben und Verantwortung zu übernehmen. Nicht mehr das leichte Gepäck des ungebundenen Junggesellen und Muttersöhnchens, dem seine Francine das Nest wärmt, wenn er mal wieder zum Hemdenwechsel und zur Abgabe des Spesenzettels einfliegt. Nein – die tausend Schrankkoffer der Verantwortung. Tausend Jahre und tausend Gesichter, die aus Fotos auf ihn starren und in denen geschrieben steht, du gehörst zu uns, du kannst nicht so tun, als wärst du nur für dich ganz allein verantwortlich.

 

Scheiße, sagte Tony Tanner. Er sagte es laut, und der raue Ton seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Steckt euch eure blöde Bruderschaft sonst wohin … sucht euch einen anderen Idioten. Dorkas hat mich genügend genervt. Wenn ich mich schon Zeit meines Lebens gewei­gert habe, bei der Nationalhymne patriotische Gefühle zu entwickeln, dann lasse ich mich auch nicht von so einem schwiemeligen Geschwätz über Fraternidads einwickeln. Tschö und danke für den Tee, ich verschwinde nach England und werde mit Francine ein halbes Dutzend Kinder machen.

Und das ging nicht, denn in der Heimat musste Gras über gewisse Dinge wachsen, Dinge, wegen denen er zwangsbeurlaubt war – wenn auch bei vollen Bezügen. Andere lebten sein Leben, erwirkten seine Anträge, regelten seine Obliegenheiten, sein Vater, sein Chef, die alten Seilschaften der alten Männer, und Tony wusste nicht, auf welcher Seite sie mitspielten.

Tony erhob sich und ging aus seinem Zimmer.

 

So übersichtlich und klar sich der Palast des Conte bei ihrer Ankunft gezeigt hatte, so labyrinthisch war er bei näherem Hinsehen. Dutzende von Anbauten ergänzten den ursprüng­lichen Grundriss, wucherten und wuchsen, wurden durch eigene Anbauten ergänzt und erweiterten sich in den Felsen, an das Gebäude lehnte oder tief in den Untergrund.

Es gab keine verbotenen Räume. Tony hatte überall Zutritt. Die einzige Beschränkung lag in dem Gefühl, zu stören. So verzichtete Tony jetzt auch darauf, sich zu Little zu setzen. Der flegelte sich auf einer der zahlreichen Terrassen in einem Sessel, hatte, typisch Yankee, die Schuhe auf dem Tisch platziert und befand sich in angeregtester Unterhaltung mit einem älte­ren Mann. Tony hatte diesen Mann schon einige Male gesehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben oder ihn nur einschätzen zu können. Es war ein hagerer, mittelgroßer Mensch mit lan­gem, zotteligem Haar und einem schwarzen Bartdschungel, aus dem nur eine Riesennase und zwei funkelnde schwarze Augen hervorstachen. Vom Typ her fühlte sich Tony beim Anblick dieses Mannes an alte Bilder von Rasputin erinnert. Allerdings hatte der Mann wenig Klerikales an sich, im Gegenteil. Seine Gestik war ausgreifend und lebhaft, als würde er mit einem neapolitanischen Fischer um den Fang feilschen.

 

Little jedenfalls war in seiner Gegenwart sichtlich gelöst. Es war in der Tat ein Jake Little, den Tony noch nie vorher gesehen hatte, einer, der unvermutet viel von kalifornischem Sonnenscheinoptimismus und Tatendrang und Forschergeist versprühte.

Tony war klar, dass er die beiden nur stören würde. So streckte er nur kurz den Kopf durch die Tür, ließ ein Mindestmaß an freundlichem Wischiwaschi hören, winkte grüßend – oder entschuldigend – mit der Hand, und war schon wieder fort.

Sein Weg führte ihn tiefer in das Gebäude. Immer wieder hatte er sich gefragt, wie viele Menschen hier leben mochten. Es mussten Dutzende sein, vielleicht war Collesalvetti sogar eine kleine Stadt. Aber der Conte zeigte keine Absichten, seine neuen Gäste mit den alten Bewohnern bekannt zu machen, und diese alten Bewohner wiederum kümmerten sich nicht besonders um die Neuankömmlinge.

 

Das Gemurmel vieler Stimmen ließ Tony aufhorchen. Er orientierte sich einen Augenblick lang, dann war er sicher, dass das Geräusch von einer unauffälligen Tür am Ende eines schma­len Ganges herrührte. Neugierig geworden, näherte er sich.

Der Gang war zwar immer noch breit und hoch, unterschied sich aber von anderen Fluren durch seine bescheidener Ausmaße und zeigte Tony, dass er nun den Hauptteil des Gebäudes verließ.

Die Wände waren hier weiß und schmucklos, nur der Fußboden zeigte ein farbiges Mosaik. Staunend blieb Tony stehen. Unter seinen Füßen breitete sich das Abbild eines Meeres aus, in dem ein nackter Gott mit Dreizack ein unförmiges Ungeheuer angriff. Das Mosaik war kunstvoll gefertigt, aber Tony fand selbst keinen Anlass für den gewaltigen Eindruck, den es auf ihn machte.

Vorsichtig, als könnte er einsinken, ging er zur Tür. Auch hier erstaunte ihn eine Verzierung, die er vorher noch nicht erkannt hatte. Auf dem schmucklosen Holz erhob sich das goldene Abbild eines Drachens, der mit weit gespreizten Flügeln dem Betrachter entge­genschaute. Seine rechte Klaue war auf ein Buch gestützt. Tony fragte sich, ob der Drache dieses Buch eifersüchtig bewachte oder ob der Künstler an einen Drachen gedacht hatte, die ihre Weisheit an einige ausgewählte Sterbliche weitergeben.

Jetzt ist Schluss mit Esoterik, dachte Tony, und drückte die Türklinke herunter.

Erwartungsgemäß war die Tür nicht verschlossen. Wahrscheinlich waren die Badezimmertüren die Einzigen in diesem ganzen Riesengebäude, die regelmäßig verrammelt wurden.

Mit mehr Kraftaufwand als erwartet musste Tony die Tür aufschieben.

Er blieb unter der Schwelle stehen, und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefasst hatte.

Tony befand sich auf einer Galerie, die in halber Höhe einen Saal von gewaltigen Ausmaßen umlief.

Als Tony sich über die Brüstung beugte, schwindelte ihm fast. Zehn oder fünfzehn Meter unter ihm war der Boden. Wenn er den Kopf hob, konnte er im etwa gleichen Abstand die Widerlager einer Kuppel, die den Saal überspannte und ihm durch die Glasflächen, die zwi­schen ihren Rippenbögen hingen, Licht spendete. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, war es Tony klar, dass die Abstände vom Boden zur Galerie, von Galerie bis zu den Widerlagern und von dort bis zum höchsten Punkt der Kuppel in demselben Verhältnis stan­den und untereinander ein völlig harmonisches Ganzes bildeten. Von der Kuppel hing ein Pendel bis zum Boden des Saales herab.

Tony folgte ihm mit den Blicken.

Dort unten standen Dorkas und der Conte. Anscheinend verstärkte die Architektur des Saales jedes Geräusch derart, dass ihre leisen Stimmen wie lautes Gemurmel erschienen waren.

Fortsetzung folgt …