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Nach Amerika! – Erster Band – 04.2

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855

Was aber, wie sich die Übrigen gedacht haben, Spott und Scherz hatte werden sollen, das erstarb im atemlosen Schweigen, nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme und Tönen, die zum innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit fortgerissen, dieses also begann:

Ich habe schon zu oft geschaut
in deiner Augen Glanz,
du Holde, auf meine Kraft zu fest vertraut,
viel mehr, als ich vertrauen sollte.

Doch nein, für dich Geliebte sind
des Lebens schönste, reinste Blüten,
von keinem Schmerz getrübt, bestimmt,
und was könnt’ ich dafür dir bieten?

Nichts – gar nichts, als ein treues Herz;
doch nimmer sollst du es erfahren –
Ich kann, wie früher, meinen Schmerz
in tiefer, innerer Brust bewahren.

Sei glücklich! – wenn auch ohne mich,
ich will dich lieben, aber schweigen
und mein Gebet nur soll für dich
empor, zum Thron des Höchsten steigen.

Wenn dann mein Herz im Grabe liegt,
und austräumt seine stillen Leiden,
dann soll der Geist zum Himmel nicht
entfliehn, und zu der Seel’gen Freuden.

Ein schön’res Los werd’ ihm zuteil,
umschwebend dich in trüben Tagen,
soll er, zu deinem Schutz und Heil,
selbst seiner Seligkeit entsagen.

Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluss des Liedes. Die Tränen standen ihm in den Augen. Während sein hässliches Gesicht durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die Schar nun um ihn her, die wirklich erst wieder Atem und Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen war.

»Bravo – bravo Loßenwerder – bravo da capo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja eine Stimme wie eine Nachtigall und stottert nicht die Probe dabei – wie am Schnürchen geht das!«

»Es ist erstaunlich!«, rief Kellmann, vor lauter Verwunderung über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.

»Nun aber auch trinken – hier Loßenwerder – hier«, riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden Trank füllend, »und dann noch ein Lied. Bei Gott, das zuckt und prickelt einem ordentlich durch die Adern und klingt wie Glockenton so rein und voll. Loßenwerder, wo habt Ihr das Singen gelernt?«

»Vo – vo – vo – vo – vo – von mi – mi – mir se – se – se – se – selb – bber«, stotterte der kleine Mann, kaum imstande, nun mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied aus der Kehle wirbelten.

»Und da hat bisher noch gar kein Mensch etwas davon erfahren«, rief Kellmann wieder, »behält die liebe Gottesgabe da ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht mit niemand, trinkt und singt mit niemand und hat eine Stimme in der Luftröhre sitzen, die einer, wer es darauf anzulegen verstände, in reines Gold verwandeln könnte.«

Von allen Seiten tranken sie nun dem kleinen Mann zu und überschütteten ihn mit Lob und Jubel. Dieser schwamm in einem wahren Meer von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden – niemand hatte sich bisher um ihn bekümmert, jeder ihn verspottet und verhöhnt. Zum ersten Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wusste sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihresgleichen anschauten.

Dem löste sich auch endlich seine Zunge oder wenigstens sein guter Wille, zu reden, so weit, dass er beginnen wollte, Geschichten zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr über die Lippen. Selbst das Singen versagte ihm zuletzt den Dienst. Die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu lallen und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme gesunken, als die Tür aufging und zwei Gerichtsdiener ins Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen Tisches, hatten das Haus schon verlassen.

»Hallo, was ist das?«, fragte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch – es wird doch nicht etwa eine Polizeistunde eingeführt in Heilingen?«

Aber auch der Wirt war die Diener der Gerechtigkeit, wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich zu erkundigen, was sie hierher geführt habe.

»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein«, sagte der Erste. »Er ist aus dem Dollingerʼschen Geschäft.«

»Dort sitzt er in der Ecke«, sagte der Wirth, vom Pechkranz nach Loßenwerder hinüberzeigend. »Hat er etwas verbrochen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte der Zweite ziemlich kurz, »wir sollen ihn abholen.«

»Wird schwer sein«, meinte der Wirt, »sie haben ihm heute Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Übergewicht. Wenn er aufsteht, kippt er wieder um.«

»Hm, da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen sein, Meier. Was meinst du, nehmen wir ihn mit?«

»Ich denke, das Beste wird sein, wir führen ihn nach Hause, und einer bleibt bei ihm, bis er morgen früh wieder zu Verstand kommt; jetzt ist doch nichts mit ihm anzufangen.«

»Aber um Gottes Willen, was ist denn vorgefallen?«, fragte Kellmann bestürzt. »Der arme Teufel hat doch nicht etwa irgendwas verbrochen?«

»Noch ist nichts Gewisses bekannt«, erwiderte der erste Polizeidiener, »nur bei Dollingers ist heute Nachmittag eingebrochen worden, und die Untersuchung muss nun erst ergeben, wer schuldig sei.«

»Bei Dollingers eingebrochen?«, riefen mehrere, »heute Abend?«

»Nein, heute am hellen Tag«, sagte der Mann.

»Alle Wetter, das muss dann gewesen sein, während sie zum Roten Drachen gefahren waren«, sagte Kellmann rasch, »sie kamen an uns vorbei mit dem jungen Henkel.«

»In der Zeit war es«, bestätigte der Polizeidiener, »denn wie sie nach Hause kamen, wurde es entdeckt … hier da, Loßenwerder … Sie da … wachen Sie auf.«

»Ja, wenn Sie den anstoßen wollen, bis er munter wird«, sagte einer der jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.«

»Sie … Loßenwerder … hören Sie?«

»Ja – ja«, stammelte der von dem ungewohnten Wein, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken hatte, Betäubte. »Me – me – me – mehr We – we – wein; ich za – za – za – zahle a – a – a – a – a – alles!«

»So?«, sagte der Polizeidiener ruhig, »nun, für heute möchte es doch wohl genug sein. Komm, fass ihn da drüben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier. Wo ist sein Hut?«

»Hier, armer Teufel, das wird ein böses Erwachen werden.«

»Wie man sich bettet, so schläft man«, sagte der zweite Polizeidiener. Den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total missglückenden Versuch machte, wieder zu singen, führten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indessen die Gäste noch das Für und Wider der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Übles gehört hatten, bei einer anderen Flasche besprachen.

Und es war ein böses Erwachen für den Mann; von dem Weindunst betäubt schlief er wie ein Toter bis zum lichten Tag. Als er die Augen aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, den er einen Moment bestürzt anstarrte und dann die Augen wieder schloss, wie vor einem unangenehmen Traumbild.

»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?«, sagte der Mann aber, froh, endlich einmal zu einem Resultat zu kommen, »das hat lange gedauert. Kommen Sie, stehen Sie auf und ziehen Sie sich an.«

Die Stimme war kein Traum. Der kleine Mann richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? Wie war er hierhergekommen? Er drückte sich mit beiden Händen die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über den ganzen Körper. Er wusste nicht mehr, was gestern alles geschehen war. Die unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jähem Strom zurücktrieb.

Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem Diebstahl, das Gefühl, dass der Verdacht auf ihm laste, und die nächste Stunde – während ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitierte und man nichts weiter als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter dreifachem Schloss, ein Päckchen mit 200 Talern in fünfundzwanzig Taler Kassenanweisungen, sowie noch einige Goldstücke fand, wie seine Abführung dann nach dem Dollingerʼschen Haus, da Herr Dollinger gebeten hatte, den Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen, lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte.

In dem Dollingerʼschen Haus angekommen, wurde er gleich in Herrn Dollingers Zimmer hinaufgeführt. Der alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sofas, das rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, über das hin er aufmerksam den Gefangenen betrachtete.

Loßenwerder war bleich wie ein Toter. Jeder Blutstropfen hatte sein Antlitz verlassen. Bei dem Versuch, den er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.

»Loßenwerder«, sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend. »Ein böser Mensch ist gestern, während unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das du mir gestern Mittag gebracht und das ich, wie du weißt, in den Sekretär dort schloss. Warst du während unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?«

»He – he – he – he – he – he – he – rr Do – Do – Do – Do…«

»Schon gut, Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird dir schwer; beschränke dich auf ein einfaches Ja und Nein.«

»Ja – a –!«

»In dem Zimmer meiner Töchter?«

»J – a – a – a, aber – i – i – i – i – ich wo – wo – wollte …«

»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?«, sagte Herr Henkel nun ruhig.

Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so weiß wie vorher werden. Er nickte nur, zur Betätigung des eben Gesagten, mit dem Kopf.

»Loßenwerder«, sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und dicht zu dem kleinen Mann hintretend, wobei er die Hand auf dessen Schulter legte, »Loßenwerder, noch gestern würde ich eben so leicht geglaubt haben, dass eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher sprechenden Tatsachen in meinem Glauben an dich wankend gemacht haben.«

»He – he – he – he – he – herr Do – Do – Do – Do – – Dollinger …«

»Ich will dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen«, sagte da der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze Wort zu ersparen gedachte. »Gestern, während unserer Abwesenheit, ist der Sekretär meiner Töchter aufgebrochen und das dir bekannte Geld entwendet worden. Drüben über der Straße hat dich ein Mädchen gesehen, wie du heimlich aus dem Haus geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der Stalljunge, dich gesehen zu haben, wie du das Haus durch die nach dem Hof zu führende Tür verlassen wolltest, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, zurückgefahren und dann auch nicht über den Hof gekommen wärst. Das Stubenmädchen, die keine Ahnung davon haben konnte, dass Geld in dem Sekretär lag, ist bereit, den schwersten Eid abzulegen, dass sie, wenige Minuten später, nachdem man dich hatte aus dem Haus schleichen sehen, die Vorsaaltür nicht mehr aus den Augen gelassen habe und gewiss wäre, dass niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört hatte. Heimlich bist du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, die man an dir nicht gewöhnt ist, sowie die bei dir gefundene Summe lassen allerdings das Schlimmste fürchten. Loßenwerder, ich brauche dir nicht zu sagen, wie weh, wie weh mir das gerade von dir tut, und ich wollte die doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es nicht geschehen wäre. Mache aber jetzt deinen Fehler, wenigstens so weit, das noch in seinen Kräften steht, wieder gut. Gestehe, was du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo du es verborgen hast, und ich selber will dann auch alles tun, was in meinen Kräften steht, deine Strafe zu erleichtern. Ein anderer Weltteil mag dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit geben, deinen Fehltritt zu bereuen und das wieder zu werden, für was ich dich, selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe.«

Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipale gestanden. Nur das Zittern seiner Glieder verriet, dass er lebte. Nun aber brach er in die Knie. Zum ersten Mal vielleicht, mit dem vollen Bewusstsein der gegen ihn erhobenen Anklage oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und in den totenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen das Richtige lesen, umfasste er die Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden musste, ihn nicht unglücklich zu machen, nicht so Schreckliches von ihm zu denken.

»Ein aufrichtiges Geständnis, Loßenwerder«, entgegnete darauf Herr Dollinger, »ist das Einzige, was deine Schuld jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Übeltäter.

»A – a – a – a – a – aber ich bi – bi – bin ni – ni – ni – nicht schu – schu – schu – schuldig«, stotterte der Unglückliche, »ich we – we – we – we – weiß vo – vo – vo – von ni – ni – ni – nichts.«

»Du weißt von nichts, Loßenwerder?«, sagte Herr Dollinger leise mit dem Kopf schüttelnd. »Und woher ist das Geld, das man bei dir gefunden hat, woher die Fünfundzwanzig-Taler-Note, die du locker in der Tasche getragen hast, und die dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?«

»Ge – spa – pa – pa – pa – partes Geld, – e – e – e – e – e – ehrlich ge – ge – gespartes G – g – g – geld!«, stammelte der arme Teufel.

Herr Henkel stand nun auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er ein paar Worte ins Ohr flüsterte und dann, während dieser leise und traurig nickte, das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung fühlte, dass man ihn fortführen, in ein Gefängnis bringen werde, ergriff wieder und nun aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn um Gottes, um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, nun in der Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, dass er ihm nur das nicht antun, dass er ihn in kein Gefängnis möge führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich darin nichts tun zu können, denn wenn er nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.

»Habe ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen«, stotterte der Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Leben lang.«

Herr Dollinger zuckte die Achseln.

Die Tür öffnete sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte: »Wenn es gefällig wäre.«

Loßenwerder zuckte zusammen, als ob er einen Schlag bekommen habe, und wandte sich noch einmal, wie hilfesuchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, dass er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die Sache in die Hand genommen habe. Sein Gesicht in den Händen bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus.

Gerade als er durch die Tür schritt, begegnete ihm, noch auf der Schwelle, Frau Dollinger. Rasch beiseitetretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen Blick zu und ging an ihm vorüber.

Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch dort musste er vorbei. Das war zu viel und wie unschlüssig blieb er stehen und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht suche.

»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten«, sagte aber, ihm ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener, »es ist alles ein Übergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.«

Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig betrachtete.

»Etwas über zweihundert Taler hat man schon bei ihm gefunden«, flüsterte der junge Henkel ihr leise zu. »Ich hoffe, dass Vater Dollinger das andere auch noch wieder bekommen soll.«

»Ach. Loßenwerder, warum habt Ihr das getan?«, sagte Clara, leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorüberging.

»U – u – u – und Si – si – si – si – sie g – g – g – glau – ben d – d – das a – a – a – a – auch?«, rief Loßenwerder. Die großen hellen Tränen standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, als er meinte, verantworten zu dürfen, nahm ihn leise an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder folgte ihm wie in einem Traum.

Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt von dort entfernt und stand an der anderen Seite einer kleinen steinernen Brücke, die über den, mitten durch die Stadt und häufig überbrückten kleinen Fluss führte. Als sie hinunter auf die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen los, kein Aufsehen zu erregen, und flüsterte ihm zu, nur ruhig neben ihm her zu gehen. Loßenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf sich geheftet. Sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges bewusst, der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab und ging mit krampfhaft zusammengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, die neugierig die Ankommenden betrachteten. Loßenwerders Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben spottend rief: »Hoho, hoho, Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!«

Die anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein. Der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu auseinander stoben. Loßenwerder aber fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen die Stirn. »Hat gestohlen!«, schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem wilden Schrei. Ehe sein Wächter es verhindern konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten Sprung, über die niedere Balustrade hin in den unten vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfasste ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Körpers war aber zu groß, als dass er es mit einer Hand hätte aufhalten können, ja er musste sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren. Der Unglückliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche er im nächsten Augenblick verschwand.

Der Fluss war indessen hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehrere Leute, die unterhalb der Brücke ins Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den niedertreibenden Körper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefasst. Von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt. Die Wunde blutete stark. Die Männer trugen den Bewusstlosen zuerst auf die Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen Arztes, in die Charité.

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