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Die Virginier Erster Band – 2. Kapitel

William Makepeace Thackeray
Die Virginier
Erster Band
Wurzen, Verlags-Kontor, 1858
2. Kapitel
In welchem Harry für sein Abendessen bezahlen muss

Oberst Esmonds Enkel läutete geraume Zeit am Haus seiner Ahnen, ehe irgendjemand drinnen geneigt schien, sein Begehren zu beachten. Auf den Diener, der endlich aus der Tür trat, machte die Kunde, der Besucher sei ein Verwandter der Familie, anscheinend sehr wenig Eindruck. Die Familie war fort, und in ihrer Abwesenheit scherte sich John nicht um ihre Verwandten, sondern wollte nur schnell zu seinem Kartenspiel mit Thomas in der Fensternische zurück. Die Haushälterin war beschäftigt, alles für Mylord und Mylady vorzubereiten, die an diesem Abend zurück erwartet wurden. Nur durch dringende Bitten konnte Harry es erreichen, Myladys Wohngemach sehen zu dürfen und das Bilderzimmer, wo auch wirklich ein Porträt seines Großvaters mit Perücke und Brustharnisch hing, das Gegen­stück zu ihrem Gemälde in Virginia; und ein Bildnis seiner Großmutter als Lady Castlewood, in einem noch früheren Kostüm, aus der Zeit Karls II.; sie trug den Nacken bloß, und das schöne goldene Haar, das er schneeweiß gekannt hatte, wallte in Locken geringelt über die Schultern. Die verdrossene Haushälterin trieb ihn von der Betrachtung dieser Bilder fort. Die Familie sollte bald eintreffen: Mylady die Gräfin, Mylord und sein Bruder und die jungen Damen, und die Baronin, die das beste Schlafzimmer haben sollte.

Wer war die Baronin? Die Baronin Bernstein, die Tante der jungen Damen. Harry schrieb seinen Namen auf ein Blatt aus seinem eigenen Taschenbuch und legte es auf den Tisch in der Halle. Henry Esmond Warrington aus Castle­wood in Virginia, gestern in England angekommen — wohnt in den Drei Schlössern im Dorf. Die Lakaien erhoben sich vom Kartenspiel, um ihm die Tür zu öffnen und ihre Trinkgelder in Empfang zu nehmen. Gumbo verließ die Bank am Tor, wo er mit Lockwood geschwatzt hatte, dem alten Pförtner, der Harrys Guinee nahm und kaum den Wert der Gabe begriff. Während des Besuchs im Haus seiner Väter hatte Harry nur ein einziges selbstloses und freund­liches Gesicht gesehen, das der kleinen Polly. Er ging davon und gestand sich selbst, wie enttäuscht er war und welchen Dämpfer ihm diese Schlossbesichtigung versetzt hatte. Man hätte ihn eigentlich kennen müssen. Wäre einer von den Verwandten zu seinem Haus in Virginia gefahren — ob nun der Hausherr anwesend oder abwesend war, die Gäste hätte man willkommen geheißen; und er musste angesichts der Burg seiner Ahnen in die Dorfschenke gehen und sich Eier mit Speck bestellen! Nach dem Essen setzte er sich auf die Brücke und blickte zu dem alten Haus hinüber, hinter dem die Sonne unterging, während die Krähen krächzend zu ihren Nestern in den Ulmen heimkehrten. Seine jugendliche Fantasie malte sich so manchen der Vorfahren aus, von dem seine Mutter und sein Großvater ihm erzählt hatten. Er stellte sich Ritter und Jäger vor, wie sie die Furt durchquerten – Kavaliere aus König Karls Tagen; Mylord Castlewood, seiner Groß­mutter ersten Gemahl, wie er ausritt mit Hund und Falken. Als er sich diesen Träumereien hingab, überfiel ihn die Erin­nerung an seinen liebsten verlorenen Bruder und traf ihn mit einem so schneidenden Schmerz heftigster Sehnsucht und Zärtlichkeit, dass der junge Mann den Kopf hängen ließ und seinen Jammer um den teuren Freund und Gefähr­ten, mit dem er bis vor Kurzem alle Freuden und Kümmer­nisse geteilt hatte, wieder mit voller Schärfe fühlte. Wie er so dasaß, in Gedanken versunken, in die sich das regel­mäßige Hämmern des Hufschmieds aus der Nähe mischte, die Abendgeräusche, das Krähengeschwätz und die Vogel­rufe rundum, jagten zwei junge Männer zu Pferde über die Brücke. Einer von ihnen nannte Harry fluchend einen Trot­tel und rief ihm zu, er solle Platz machen; der andere, der wohl glaubte, er hätte den Fußgänger gestoßen und womög­lich über das Geländer gestürzt, ritt noch schneller, als er am anderen Ufer war, und rief Tom zu, auch rascher zu kommen. Und die beiden jungen Herren waren auf dem Wege zum Schloss schon den Hügel hinauf, ehe Harry sich von der Verblüffung und Wut über ihr Betragen erholt hatte. Dieser Avantgarde folgten in einigen Minuten zwei berittene Diener in Livree, die dem jungen Reisenden auf der Brücke den echt britischen Gruß Verdammt, wer seid Ihr? zuknurrten. Danach kam, wieder wenige Minuten später, eine sechsspännige Kutsche, ein gewichtiges Fahrzeug, das wahrhaftig alle Pferde brauchte, die es zogen; denn es enthielt drei Damen, zwei Kammermädchen und einen bewaffneten Mann auf einem Sitz hinter dem Wagen. Drei hübsche blasse Gesichter blickten auf Harry, als das Gefährt die Brücke passierte, und erwiderten den Gruß nicht, den er ihnen entbot, sobald er das Familienwappen erkannte. Der Gentleman hinter dem Wagen sah hochmütig auf ihn herab, Harry fühlte sich schrecklich einsam. Er wollte zu Kapitän Franks zurück. Die Rachel mit ihrer kleinen schaukelnden Kabine schien ein heiteres Plätzchen, verglichen mit dem Ort, an dem er sich nun befand. Die Leute in der Schenke kannten seinen Namen Warrington nicht. Sie erzählten ihm, in der Kutsche habe Mylady gesessen mit ihrer Stieftochter, Mylady Maria, und mit ihrer Tochter, Mylady Fanny; und der junge Herr im grauen Rock, das sei Mr. William gewesen, und der mit der Puderperücke auf dem Fuchs sei Mylord Castlewood. Der war es, der am lautesten geflucht und ihn Trottel genannt hatte, und der im grauen Rock hatte Harry fast in den Bach galoppiert.

Der Wirt der Drei Schlösser hatte Harry eine Schlafkammer gewiesen, aber der hatte es bisher abgelehnt, seine Reisetasche auspacken zu lassen, denn er glaubte ganz sicher, dass die Leute aus dem großen Haus ihn zu sich einladen würden. Eine, zwei, drei Stunden verstrichen, und keine Einladung kam. Harry war genötigt, nach Schlafrock und Pantoffeln zu rufen und schließlich doch die Koffer öffnen zu lassen. Gerade vor dem Dunkelwerden, etwa zwei Stunden nach der Ankunft des ersten Wagens, hatte ein zweites Gefährt, vierspännig, die Brücke passiert, und eine stattliche Dame mit lebhaften Farben und einem sehr dunk­len Augenpaar hatte scharf nach Mr. Warrington geblickt. Das sei die Baronin Bernstein gewesen, Mylords Tante, sagte die Wirtin, und Harry erinnerte sich, dass die erste Lady Castlewood aus einer deutschen Familie stammte. Graf, Gräfin und Baronin, Vorreiter, Herren und Pferde waren hinter dem Schlosstor verschwunden, und Harry musste schließlich zu Bett gehen, in der trübsten Stimmung und mit dem grausamen Gefühl in seinem jungen Herzen, gering geachtet und verlassen zu sein. Er konnte nicht einschlafen und hörte zudem nach kurzer Zeit ein ungeheures Lärmen und Fluchen, Kichern und Kreischen vom Schanktisch der Wirtin her, das allein ihn schon wachgehalten hätte.

Dann war draußen Gumbos Stimme zu vernehmen, der sich widersetzte: »Ihr könnt nicht hineingehen, Sar – mein Herr schlaft, Sar!« Aber eine schrille Stimme, die Harry Warring­ton wiedererkannte, schimpfte Gumbo einen dummen wol­ligen Negerschädel, er wurde beiseitegeschoben, gleichzeitig ergoss sich ein Schwall von Flüchen ins Zimmer, und dahinter erschien ein junger Herr.

»Verzeihung, Vetter Warrington«, rief der jugendliche Gotteslästerer, »schlaft Ihr schon? Verzeihung, dass ich Euch auf der Brücke überritten habe. Wusste nicht – ’türlich hätte ich’s nicht tun sollen – dachte, es wäre ein Anwalt mit einer Klage – so schwarz gekleidet, versteht Ihr. Bei Gott! Glaubte, es wäre der Nathan, der mich erwischen wollte!« Und Mr. William lachte sinnlos, ersichtlich war er von geistigen Getränken angeregt.

»Ihr tut mir viel Ehre an, mich mit einem Gerichtsvollzieher zu verwechseln«, antwortete Harry mit großer Würde unter seiner hohen Nachtmütze hervor, während er sich im Bett aufsetzte.

»Bei Gott! Ich dachte, es wäre Nathan und wollte Euch schon – schwapp – in den Fluss schicken. Aber ich bitte Euch um Verzeihung. Seht Ihr, ich hatte in der Glocke in Hexton getrunken, und der Punsch ist sehr gut in der Glocke. Hallo, du Davis! Punsch her, hörst du?«

»Für heute Abend, Vetter, habe ich mein Teil getrunken, und ich sollte meinen, Ihr auch«, fuhr Harry fort, immer in der gleichen würdevollen Manier.

»Ihr wollt, dass ich gehe, Vetter Wie-heißt-Ihr-gleich, ich merke es«, sagte Mr. William mit Bedeutung. »Ihr wünscht, dass ich gehe, und sie wünschten, dass ich herkomme, und ich wollte überhaupt nicht kommen. Ich sagte, ich würde ihn lieber hängen sehen – genau das habe ich gesagt. Warum sollte ich mir die Mühe machen und ganz allein am Abend runterkommen und nach einem Burschen sehen, der mich gar nichts angeht? Genau, was ich sagte. Genau, was Castlewood sagte. Warum, zum Teufel, sollte er runtergehen, sagte Castlewood und ebenso Mylady, aber die Baronin wollte Euch haben, ’s ist alles ihr Werk, und wenn sie was wünscht, muss es getan werden, also müsst Ihr aufstehen und mitkommen.«

Mr. Esmond sprudelte diese Worte mit der angenehmsten Geschwindigkeit und Undeutlichkeit hervor, sodass sie sich überstürzten; und dabei schwankte er im Zimmer umher.

Aber der junge Virginier geriet in große Wut. »Ich will Euch was sagen, Vetter«, schrie er, »ich werde mich nicht rühren, nicht wegen der Gräfin, auch nicht wegen der Baro­nin und nicht wegen sämtlicher Vettern in Castlewood.« Und als der Wirt mit dem Punsch, den Mr. Esmond befohlen hatte, ins Zimmer trat, rief der junge Herr im Bett ihm wild zu, er solle diesen Dummkopf hinauswerfen.

»Dummkopf? Du kleiner Tabakhändler! Dummkopf! Du Tscherokese!«, kreischte Mr. William auf. »Spring aus dem Bett, und ich renne dir meinen Degen durch den Leib! Warum habe ich es nicht schon getan, als ich dich für einen Gerichtsdiener hielt – einen verdammten hinterhältigen Büttel?« Und er kreischte noch mehr Flüche und allerlei Unzusammenhängendes, bis der Wirt, der Kellner, der Hausknecht und all das Küchenvolk zusammenlief, um ihn fortzuschaffen. Wonach Harry Warrington im grimmen Zorn das Bettzelt schloss und zweifellos endlich fest einschlief.

Der Schankwirt benahm sich am nächsten Morgen, als er seinen jungen Gast traf, viel unterwürfiger, da er nun seinen vollen Namen und Stand erfahren hatte. In der ver­flossenen Nacht waren noch mehr Boten vom Schloss erschienen, um die beiden jungen Herren heimzuholen, und der arme Mister William war, scheint es, auf einem Schub­karren zurückgekehrt, aber dieser Methode des Transports auch nicht ungewohnt.

»Er besinnt sich niemals auf nichts am nächsten Tag. Er hat ein freundliches Gemüt, der Mr. William«, schwor der Wirt, »und die Männer kriegen von ihm ’ne Krone oder ’ne halbe, wenn sie ihm erzählen, dass er sie nachts, als er betrunken war, verprügelt hat. Er is ’n Satan, wenn er beschwipst is, der Mr. William, aber wenn er nüch­tern ist, der allerfreundlichste junge Herr.«

Da den Verfassern von Biografien der vorliegenden Art nichts verborgen ist, können wir ebenso gut hier berichten, was sich innerhalb der Mauern von Schloss Castlewood zu­getragen hatte, während Harry draußen auf ein Zeichen des Erkennens von seinen Verwandten wartete. Bei ihrer An­kunft fand die Familie die Karte, auf die der junge Mann seinen Namen geschrieben hatte, und sein Auftauchen ver­ursachte einen kleinen häuslichen Kronrat. Mylord Castle­wood vermutete, das müsse der junge Herr sein, den sie auf der Brücke bemerkt, und da sie ihn nicht ersäuft hätten, müssten sie ihn wohl einladen. »Lassen wir einen Mann mit schicklichem Bescheid hinuntergehen, mag ein Diener einen Brief hinbringen.« Lady Fanny aber hielt es für höflicher, wenn einer der Brüder zu dem Verwandten ginge, beson­ders in Anbetracht der urwüchsigen Begrüßung, mit der sie ihn bedacht hatten. Lord Castlewood hatte nicht das Geringste dagegen, dass sein Bruder William ginge – ja, William sollte gehen. Darauf erwiderte Mr. William, dass er gehängt sein wolle, wenn er ginge. (Er gebrauchte noch stärkere Ausdrücke.) Lady Maria meinte, der junge Herr, den sie auf der Brücke bemerkt hätten, wäre ein recht hübscher Bursche. »Castlewood ist furchtbar langweilig, und keiner meiner Brüder tut etwas, um es amüsanter zu machen. Er mag vulgär sein – sicher ist er vulgär – aber wir wollen uns den Amerikaner doch ansehen.« Das war Lady Marias Meinung. Lady Castlewood jedoch war weder für Einladen noch für Abweisen, sondern für Aufschub. »Wartet, bis Eure Tante kommt, Kinder; vielleicht sieht die Baronin den jun­gen Mann nicht gern, wenigstens wollen wir sie doch be­fragen, ehe wir ihn auffordern.« Und so blieb es noch in der Schwebe, ob dem armen Harry Warrington von seinen näch­sten Verwandten Gastfreundschaft geboten werden sollte. Endlich erschien die Equipage der Baronin Bernstein, und welcher Zweifel auch immer über den Empfang des Fremden aus Virginia walten mochte, hinsichtlich ihrer reichen und mächtigen Verwandten herrschte in dieser edlen Familie kein Mangel an Begeisterung. Das Staatszimmer war schon für sie vorbereitet. Der Koch war am Tag zuvor eingetroffen mit besonderen Instruktionen für ein Abendessen, wie es Ihro Gnaden schätzte. Die Tafel funkelte von altem Silber und war in dem eichengetäfelten Speisezimmer mit den Familienporträts an den Wänden gedeckt. Da hingen der selige Viscount Francis und sein Vater, und die anmutigen Bilder seiner Mutter und seiner Schwester. Da hing sein Vorgänger, von van Dyck gemalt, und dessen Gemahlin. Da war Oberst Esmond, ihr Verwandter in Virginia, für dessen Enkelsohn die Damen und Herren der Familie Esmond einen so sehr gemäßigten Grad von Sympathie zeigten.

Das Festmahl, das ihrer Tante, der Baronin, vorgesetzt wurde, war ausgezeichnet, und Ihre Gnaden genoss es auch. Das Abendessen dauerte fast zwei Stunden, während welcher Zeit die ganze Sippe Castlewood dem Gast die höchste Auf­merksamkeit erwies. Die Gräfin drängte ihr all die guten Gerichte auf, von denen sie auch reichlich verzehrte; kaum sah der Butler ihr Glas leer, schon füllte er es wieder mit Champagner; die jungen Leute und ihre Mutter hielten das Tischgespräch in Gang; nicht, dass sie selbst so viel plauder­ten, sie lauschten vielmehr geziemend ihrer Verwandten. Die Baronin war voller Geist und Laune. Sie schien jeder­mann in Europa zu kennen und über diese Jedermanns die boshaftesten Geschichten. Die Gräfin von Castlewood, für gewöhnlich eine betont sittsame, strenge Frau und hart­näckige Verfechterin von Anstand und Sitte, lächelte über die schlimmsten dieser Anekdoten; die Töchter sahen ein­ander an und lachten bei dem mütterlichen Signal auch; die Söhne kicherten und lachten schallend vor Vergnügen über die Verlegenheit ihrer Schwestern. Sie tranken ebenfalls reichlich von dem Wein, den der Butler herumreichte, und weder sie noch der Gast verschmähten den dampfenden Punsch, der nach dem Essen auf den Tisch kam. So manche Nacht, sagte die Baronin, hätte sie an diesem Tisch zur Seite ihres Vaters getrunken. »Dort war sein Platz«, sie deutete dahin, wo nun die Gräfin saß. Sie sah nichts mehr von dem alten Silber. Das war alles eingeschmolzen, um seine Spiel­schulden zu bezahlen. Sie hoffte nur, dass »Ihr, junge Herren, nicht etwa spielt?«

»Niemals, auf mein Wort«, versicherte Castlewood.

»Niemals, auf Ehre«, echote Will und zwinkerte seinem Bruder zu.

Die Baronin freute sich sehr zu hören, dass sie solche braven Jungen wären. Ihr Gesicht rötete sich vom Punsch; sie wurde geschwätzig, man könnte auch sagen, gewöhnlich, aber es waren damals andere Zeiten, und jene Kritiker geneigt, besonders nachsichtig zu urteilen.

Sie schwatzte zu den Jungen über ihren Vater, ihren Groß­vater, über den und jenen aus der Sippe. »Der einzige wirk­liche Mann in der Familie war der«, sagte sie und wies – mit einem immer noch schön gerundeten und weißen Arm – auf das Bildnis des militärischen Herrn in rotem Rock und Kürass mit großer schwarzer Perücke.

»Der Virginier? Was ist denn an dem Besonderes? Ich dachte immer, er taugte nur dazu, Tabak und meine Großmutter zu pflegen«, sagte lachend Mylord.

Sie schlug mit der Hand so kräftig auf den Tisch, dass die Gläser tanzten. »Ich sage, er war der Beste von euch allen. Von den männlichen Esmonds hatte keiner außer ihm mehr Verstand als eine Gans. Er passte nicht in unsere schlechte, eigensüchtige alte Gesellschaft, und er tat recht daran, fort­zugehen und fern von ihr zu leben. Wo wäre euer Vater geblieben, ihr jungen Leute, ohne ihn?«

»War er besonders freundlich zu unserem Papa?«, fragte Lady Maria.

»Das sind alte Geschichten, liebe Maria!«, rief die Gräfin. »Es war gewiss sehr gütig von meinem teuren Grafen, ihm den großen Besitz in Virginia zu schenken.«

»Der junge Mann, der heute hier war, ist seit seines Bruders Tod der Erbe. Mr. Draper hat es mir erzählt. Verdammte Pest! Ich verstehe nicht, warum mein Vater ein solches Be­sitztum aufgab.«

»Wer ist heute hier gewesen?«, fragte die Baronin höchst erregt.

»Harry Esmond Warrington aus Virginia«, antwortete Mylord, »ein Bursche, den Will beinahe in den Fluss tunkte, und den einzuladen ich Mylady die Gräfin gedrängt habe.«

»Ihr wollt damit sagen, dass einer der Jungen aus Virginia in Castlewood gewesen und nicht aufgefordert worden ist, hierzubleiben?«

»Es gibt nur noch einen, mein teuerstes Wesen«, warf der Graf ein. »Der andere, wisst ihr, ist gerade …« »Schändlich, schändlich!«

»Oh, es ist nicht angenehm, gebe ich zu …«

»Ihr sagt, dass ein Enkel von Henry Esmond, dem Herrn dieses Hauses, hier gewesen ist, und keiner von euch hat ihm Gastfreundschaft angeboten?«

»Da wir es nicht wussten und er in den Schlössern logiert«, warf Will dazwischen.

»Dass er in der Schenke wohnen muss, und ihr sitzt hier!«, schrie die alte Dame. »Das ist zu arg – ruft mir jemand her. Holt mir meine Haube – ich will selbst zu dem Jungen gehen. Kommt augenblicklich mit mir, Mylord Castlewood.«

Der junge Mann erhob sich, offensichtlich in Wut. »Gnädigste Baronin von Bernstein«, sagte er, »Euer Gnaden mögen gern gehen, aber was mich betrifft, so dulde ich nicht, dass man mein Benehmen mit solchen Worten wie schändlich bezeichnet. Ich will nicht gehen und den jungen Herrn aus Virginia holen, und ich beabsichtige, hier sitzen zu bleiben und den Punsch auszutrinken.«

»Eugene!«, rief seine Stiefmutter.

»Nennt mich nicht Eugene, Madame. Ich weiß, Ihro Gnaden hat einen Haufen Geld, und ihr seid begierig, dass es in unserer liebenswürdigen Familie bleibt. Ihr wünscht es mehr als ich. Kriecht ihr also deswegen – ich mag nicht.« Und er sank in seinen Sessel zurück.

Die Baronin sah auf die Familie, die ihre Köpfe hängen ließ, und dann auf Mylord, aber diesmal ohne jede Ab­neigung. Sie beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte schnell und auf Deutsch: »Ich hatte unrecht, als ich sagte, der Oberst wäre der einzige Mann in der Familie. Du kannst, wenn du nur willst, Eugene.« Zu welcher Bemerkung sich Mylord nur schweigend verneigte.

»Wenn ihr nicht wünscht, dass eine alte Frau zu dieser Nachtzeit ausgeht, so schickt wenigstens William und lasst ihn seinen Vetter holen«, sagte die Baronin.

»Genau das, was ich ihm vorgeschlagen habe.«

»Und wir auch, wir auch!«, riefen die Töchter im selben Atem.

»Und ich wünschte ganz gewiss nur der lieben Baronin Zustimmung«, versetzte ihre Mutter, »und werde für mein Teil entzückt sein, unseren jungen Verwandten zu be­grüßen.«

»Will, zieh deine Stelzschuhe an, nimm eine Laterne und geh den Virginier holen«, befahl Mylord.

»Und wir werden noch einen Punsch trinken, wenn er kommt«, tröstete sich William, der um diese Zeit des Guten schon zu viel hatte. Und er ging – wohin, das haben wir erlebt, und wie er noch mehr Punsch bekam, und welchen Misserfolg er mit seiner Gesandtschaft erlitt.

Als die ehrenwerte Lady Castlewood Harry Warrington am Flussufer erblickte, musste sie einen sehr hübschen und sehr interessanten Jüngling in ihm gesehen haben und hatte höchstwahrscheinlich ihre besonderen Gründe, seine An­wesenheit in der Familie nicht zu wünschen. Keine Mutter ermutigt die Besuche interessanter neunzehnjähriger Jüng­linge in Familien, in denen es Jungfrauen von zwanzig Jahren gibt. Hätten Harrys Güter in Norfolk oder Devon gelegen statt in Virginia, so würde die gute Gräfin ihn zweifellos sehr viel eifriger begrüßt haben. Hätte sie ihn gebraucht, würde sie ihm sehr bereitwillig die Hand gereicht haben. Wenn unsere Leute von Stand eigennützig sind, zeigen sie es auf jeden Fall auch, und wenn sie kaltherzig sind, heucheln sie wenigstens keine Wärme.

Warum sollte Lady Castlewood sich selbst überwinden, den jungen Fremden aufzunehmen? Weil er ohne Freunde war? Nur ein Einfaltspinsel könnte sich solchen Grund vorstellen. Leute von Stand, wie Ihre Gnaden, sind freundlich nur zu denen, die schon reichlich Freunde haben. Ein armer Bursche, allein, aus einem fernen Land, mit nur sehr mäßigem Vermögen, über das er zurzeit noch nicht ver­fügen kann, sehr wahrscheinlich mit ungehobelten Manieren und rauen provinzlerischen Sitten: Was konnte eine große Dame veranlassen, sich wegen eines solchen Jünglings zu bemühen? Allons clonc! Er war im Bierhaus so gut auf­gehoben wie im Schloss.

Dies war der Gräfin Ansicht, und ihre Ver­wandte, die Baronin Bernstein, die sie durch und durch kannte, wusste das auch genau. Die Baronin war selbst eine Frau von Welt und konnte vielleicht bei Gelegenheit ebenso selbstsüchtig sein wie jede andere vornehme Dame auch. Sie verstand vollkommen, aus welchem Grund ihr die ganze Familie Castlewood – Mutter, Töchter und Söhne – Ehrerbietung zeigte; und da sie viel Humor besaß, trieb sie ihr Spiel mit den Charakteranlagen der verschie­denen Familienmitglieder, belustigte sich über ihre Gier, ihre Ergebenheit, die aufrichtige Hochachtung vor ihrem Geldbeutel und die anhängliche Neigung für ihre Börse. Sie waren nicht sehr reich; Lady Castlewoods eigenes Geld war für ihre Kinder festgelegt. Die beiden Ältesten hatten von ihrer deutschen Mutter nichts als die Flachsköpfe und einen ungeheuer vornehmen Stammbaum geerbt. Aber diejenigen, die Geld hatten, waren gleich denen, die keins hatten, auf das Vermögen der Baronin aus; in diesem Punkt sind die Reichen bestimmt genauso gierig wie die Armen.

Wenn also Madame Bernstein mit der Hand auf den Tisch schlug und die Gläser wie die Tafelrunde vor ihrem Zorn erzittern ließ, so geschah das, weil sie von viel Punsch und Champagner angeregt war, den Ihre Gnaden reichlich zu trinken pflegte, und weil die Wärme edlen Weins in ihrem Blut auch edle Regungen und Empörung erzeugen mochte bei dem Gedanken, dass der arme Bursche drüben freundlos und allein vor seiner Ahnen Haus saß; nicht aber, weil sie besonders erbittert gegen ihre Verwandten war, von denen sie wusste, dass sie genauso handeln würden, wie sie es getan hatten.

Die Enthüllung der Selbstsucht und die Demütigung ihrer Sippe amüsierte die alte Dame ebenso wie Castlewoods Akt der Revolte. Er war so eigennützig wie die Übrigen, aber nicht ganz so erbärmlich; und wie er freimütig zugab, konnte er sich den Luxus einer kleinen Unabhängigkeit gestatten, da er an einem leidlichen Besitztum Rückhalt hatte.

Madame Bernstein war Frühaufsteherin, rastlos, resolut und außerordentlich rührig für ihr Alter. Sie war schon lange auf, ehe die matten Damen Castlewood – ebenheimgekehrt von den Londoner Bällen und Empfängen – ihre Feder­betten verließen, oder der lustige Will seine zahlreichen Portionen Punsch ausgeschlafen hatte. Sie wandelte die grünen Terrassen entlang, auf denen sanft der Morgentau schimmerte. Er blinkte auch auf der blühenden Wildnis schmucker Blumenbeete und auf den krausen Wänden der dunklen Buchsbaumhecken, in deren Schatten marmorne Faune und Nymphen ihr Feuer kühlten, während tausend Vögel sangen, die Springbrunnen im rosigen Morgensonnen­schein glitzerten und plätscherten und die Krähen aus dem großen Wald herüberkrächzten.

Hatte dieses Bild, an das sie sich aus Kindheitstagen gut erinnerte, für sie einen unvergänglichen Zauber? Rief es ihr Zeiten des unschuldigen Glücks ins Gedächtnis und sänftigte seine stille Schönheit ihr Herz, oder weckte es Reue darin? Ihr Wesen war liebevoll und freundlich über das gewöhn­liche Maß hinaus, als plötzlich, nach einer halben Stunde Spaziergang, die Person auftauchte, die sie erwartete. Das war unser junger Virginier, dem sie in der Frühe durch einen der Lockwoods ein Briefchen geschickt hatte. Das Schreiben war B. Bernstein gezeichnet und unterrichtete Mr. Esmond Warrington, dass seine Verwandten in Castle­wood, darunter eine liebe Freundin seines Großvaters, sehn­süchtig darauf warteten, dass er Oberst Esmonds Haus in England besuche. Und nun erschien also der Bursche, schritt durch den alten gotischen Torbogen, sprang die Stufen von einer Gartenterrasse zur anderen hinab, den Hut in der Hand, sodass sein blondes Haar um die blühenden Wangen wehte, die schlanke Gestalt in Trauer gekleidet. Das hübsche bescheidene Aussehen, das anmutige Gesicht und Wesen des jungen Mannes gefielen der Dame. Er machte ihr eine tiefe Verbeugung, mit der man in Versailles hätte Ehre einlegen können. Sie streckte ihm eine kleine Hand entgegen, und als er sie mit der seinen umschloss, legte sie ihm die andere Hand sanft auf die Manschette. Sie blickte mit viel Güte und Zärtlichkeit in das ehrliche, errötende Gesicht.

»Ich kannte deinen Großvater sehr gut, Harry«, sagte sie. »Du kamst also gestern, um sein Bild zu sehen, und sie schickten dich fort, obwohl das Haus rechtens ihm gehörte, wie du weißt?«

Harry wurde sehr rot. »Die Diener kannten mich nicht«, sagte er. »Letzte Nacht kam ein junger Herr zu mir, doch ich war verdrießlich und er, fürchte ich, betrunken. Ich sprach grob mit meinem Vetter und will mich bei ihm entschul­digen. Euer Gnaden weiß, dass wir in Virginia andere Sitten gegen Fremde üben. Ich gestehe, dass ich einen freund­licheren Empfang erwartet hatte. Wart Ihr es, Madame, die meinen Vetter zu mir sandte?«

»Ja. Doch du wirst erleben, dass deine Vettern heute sehr liebenswürdig zu dir sind. Du musst hierbleiben. Lord Castle­wood hätte dich heute Morgen begrüßt, aber ich war allzu neugierig auf dich. In einer Stunde wird es Frühstück geben, und inzwischen musst du mir erzählen. Wir wollen zu den Drei Schlössern schicken, nach deinem Diener und dem Gepäck. Gib mir deinen Arm. Warte, ich ließ meinen Stock fallen, als du kamst. Du sollst meine Stütze sein.«

»Mein Großvater pflegte uns seine Krücken zu nennen«, sagte Harry.

»Du gleichst ihm, obwohl du blond bist.«

»Ihr hättet – Ihr hättet George sehen müssen«, sagte der Junge, und seine ehrlichen Augen füllten sich mit Tränen. Die Erinnerung an seinen Bruder, der herbe Schmerz der Demütigung vom Tage zuvor, und nun die liebevolle Be­grüßung – vielleicht kam all das zusammen, um das Herz des Jungen weich zu stimmen. Er empfand sehr zärtlich und dankbar für die Dame, die ihn so warm empfing. Vor einer Minute noch fühlte er sich ganz verlassen und elend, und nun wurde ihm ein Heim geboten und eine freundliche Hand gereicht. Kein Wunder, dass er sie festhielt. Während der Stunde, die sie gemeinsam umherspazierten, schüttete der junge Bursche der gütigen, neugewonnenen Freundin ein gutes Teil seines Herzens aus. Als die Uhr Frühstückszeit zeigte, wunderte er sich, wieviel er ihr erzählt hatte. Sie führte ihn ins Haus, stellte ihn seiner Tante, der Gräfin, vor und hieß ihn seine Vettern umarmen. Lord Castlewood war sehr offen und liebenswürdig. Der biedere Will hatte Kopfweh, aber gar keine Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Die Damen benahmen sich höflich und verbindlich, wie es Damen feiner Lebensart so gut ver­stehen. Wie sollte Harry Warrington, ein einfältiger, auf­richtiger Bursche aus einer fernen Kolonie, der erst gestern den Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, wie sollte er wissen, dass die Damen, die so gewinnend lächelten und sich so ungezwungen gaben, wütend und entsetzt waren über die Gunst, die Madame Bernstein ihm zu schenken schien.

Sie war vernarrt in ihn, sprach von nichts anderem, bemerkte die jungen Leute von Castlewood kaum, streifte mit ihm durchs Haus und erzählte ihm dessen ganze Geschichte, zeigte ihm das kleine Zimmer an der Hofseite, wo sein Groß­vater zu schlafen pflegte, mit einem Geheimfach über dem Kamin aus der Zeit der Katholikenverfolgung, fuhr mit ihm aus in die Nachbarschaft und erklärte ihm die bemer­kenswertesten Orte und Gebäude und erfuhr als Gegengabe die ganze Geschichte des jungen Mannes.

Diese kurze Biografie möge der geneigte Leser hinnehmen, nicht präzise in den Worten, wie Mr. Harry sie Madame Bern­stein erzählte, sondern wie sie in den folgenden Kapiteln geformt ist.