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Neue Gespenster – Nummer 40 – Teil 2

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil

Nummer Vierzig, Teil 2

1. Waren die Bewunderer Augenzeugen des Wunders oder nicht?

Man sieht, wie viel auf eine richtige Beantwortung dieser Frage ankommt. Jeder Erzähler behandelt den Gegenstand der Erzählung auf seine Art: Der eine teilt die nackte Tatsache mit; der andere schmückt sie mit seinem Räsonnement, der Dritte mit seinen Erklärungen aus, ein Vierter verschönert sie durch Zusätze, um ihr mehr Interesse zu geben – nicht immer, um als Erzähler zu glänzen, oft auch, um dem Gegenstand für jeden Hörer oder Leser die, seiner Meinung nach, ihm gebührende Wichtigkeit zu geben. Andere Erzähler unterscheiden sich durch die getroffene Auswahl: Einer gibt bloß die Hauptsache; ein anderer verweilt, aus guter Meinung, bei Nebenumständen; ein Dritter ergänzt die Sprünge, welche die Tatsache zu machen scheint. Wer würde nicht aus eigener Erfahrung die Reihe solcher Erzähler noch ansehnlich zu vermehren imstande sein?

Weit anders wird es nun, wenn ein und dieselbe Geschichte durch diese Reihe Erzähler umherläuft; jeder behandelt da nicht nur die Tatsache, sondern auch die Erzählung derselben nach seiner Art. Es werden hier sehr häufig Hauptsachen weggelassen, die das ganze Ding ändern, und Umstände eingeschoben, welche bloß im Kopf des Erzählers existieren.

Wie verschieden wird unser Urteil über die Bewunderer ausfallen, je nachdem diese die Sache selbst sahen oder aus Erzählungen kennen lernten. Im letzten Fall, wenn wir die Erzähler nicht als sehr glaubwürdig kennen, lachen wir ihrer Torheit. Verlangt man nun, einer solchen Erzählung unbekannter Urheber wegen, auch wir sollen uns wundern, so berufen wir uns auf diese Unbekanntheit des Erzählers und wehren uns gegen den Leichtglauben und Aberglauben mit allen Gründen des gesunden Menschenverstandes. Niemand fällt es ein, uns deshalb zu tadeln. Jeder Vernünftige tritt auf unsere Seite und übernimmt unsere Verteidigung.

Hat man nun die Begebenheit einer längst verflossenen Zeit mit dem Namen eines Wunders gestempelt, so wäre es also wohl nötig, erst zu ermitteln, wer ihr diesen Namen gegeben habe, bevor wir über sie wie über ein Wunder sprechen. Es können hier drei Fälle eintreten, welche jedes Mal der Untersuchung eine andere Richtung geben; sie erhielt nämlich diese Bezeichnung durch Augenzeugen oder durch Erzähler, welche nicht Augenzeugen waren, oder durch spätere Leser der Erzählung. Diese letzten beiden Menschenklassen müssen uns mit Recht verdächtig sein; die letzte am meisten. Ich dächte, ihrer Aufforderung an uns, ein Wunder zu sehen, müsse mit der Gegenforderung beantwortet werden: »Beweist uns, dass die Augenzeugen sich auch gewundert haben!«

Dieser Beweis möchte nicht so leicht zu führen sein, da wir sehr selten den Erzähler kennen, der von der Wirkung des Vorfalls auf Augenzeugen redet, und doch einem Unbekannten nicht ohne Beweis alles auf sein anonymes Wort glauben dürfen. Wie, wenn der sonst ehrliche Erzähler selbst getäuscht wurde? Wie, wenn er frommen Betrug sich erlaubte? Wie, wenn er ein einfältiger Mensch war? Wie, wenn er seine Erzählung bei richtiger Kenntnis von der Begebenheit und warmer Wahrheitsliebe, doch aus Enthusiasmus für die Sache oder den Helden rhetorisch oder poetisch erzählt hätte? Muss da nicht das rhetorische oder poetische von der Erzählung erst wieder gesondert werden, ehe wir behaupten dürfen, auch die Augenzeugen hätten sich gewundert? Mag auch der Erzähler, den wir lesen, immer schlicht historisch erzählen; wer bürgt uns dafür, dass er immer aus reinen Quellen schöpfte und nicht , auch über verschönernde Gemälde des Redners oder Dichters geriet? Wie würde wohl Heinrich des Vierten oder des Kardinals Richelieu Geschichte ausfallen, wenn man die erste aus Voltaires Henriade, die letzte aus den Reden der von ihm gestifteten Akademie schöpfen wollte?

Wären die Wunderfreunde hierin endlich auf das Reine, d. h. hätten sie bewiesen:

– die Erzählung von ihrem Wunder enthalte genau das, was der Augenzeuge sah;

– sei weder erdichtet noch

– durch rednerische oder dichterische Behandlung erstellt und

– nicht allein die späten Leser, sondern

– schon die ersten Augenzeugen haben sich gewundert;

– dann würde eine zweite, gleich wichtige Untersuchung nötig sein, nun zu ermitteln.

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