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Der Welt-Detektiv Band 6

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Allerhand Geister – Cʼest fini! – Teil 6

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Cʼest fini! – Teil 4
Eine Erzählung aus dem Jahre 1773

6.

Der Tag blieb wundervoll frisch und klar, allein die Menschen in der kleinen Einsiedelei wurden dessen nicht froh. Der Druck der bestürzenden Ereignisse, der ganzen unheimlichen Lage ruhte schwer auf ihnen, und zu ihm gesellten sich die ebenso plötzlich erregten, einander widerstreitenden Interessen. Verstimmung und Sorge, Argwohn und Bitterkeit fanden sich in jeder Miene und klangen aus jedem Wort, zu dem man überhaupt kam. Zum längeren Zusammensein gelangte man nur bei der frugalen Mahlzeit; zu einer allgemeinen, wirklichen Unterhaltung brachte man es auch hier nicht. Die Versuche des Baron schlugen fehl: Frau von Eigenwart, obgleich auch sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte, zeigte sich nachdenklich und – in Ansehung der Unterhaltung – erschreckend trocken; die Mädchen waren einsilbig und Magdalene auch sichtbar niedergeschlagen. Gustav fehlte ganz. Während des übrigen Tages traf man noch weniger zusammen, ja es sah fast so aus, als ob man einander, zumal dem Baron, nur widerwillig begegne und sich nur wieder zu trennen wünsche. Und das war nicht leicht. Denn Herr von Mollenthin schien ruhlos. Man traf ihn allerwärts – finster, verstimmt, man hätte glauben mögen, misstrauisch.

Die von Gustav erwarteten Nachrichten kamen eine nach der anderen an. Sie waren nicht erfreulich, da man die Vorgänge im Schloss und die fortgesetzte Bewachung desselben sowie die Absendung einzelner Dragoner zum Durchstreifen der Umgegend vernahm. Vom Hafen herüber klang es nicht tröstlicher: Für eine solche Gesellschaft von vornehmen, verwöhnten, ängstlichen Leuten war augenblicklich kein Fahrzeug zu finden; erst in zwei oder drei Tagen ließ sich vielleicht ein geeignetes Schiff erwarten. Als günstig konnte nur der eine Umstand gelten, dass die Richtung der Flucht und der Aufenthalt der Flüchtlinge bisher sicherlich noch unentdeckt waren und die Treue der eingeweihten Diener sich, wie von Gustav vorausgesagt, völlig erprobt hatte.

Der Abend kam und das alte Haus wurde noch stiller, als es schon tagsüber gewesen war. Die Damen zogen sich früh zurück und man vernahm bald keinen Laut mehr aus ihren Gemächern. Nur der Baron fand die Ruhe nicht. Er ging noch lange im Zimmer auf und ab, finster blickend und das Haupt gesenkt, zuweilen ein unverständliches Wort murmelnd, oder er blieb am Fenster stehen, um in die sternenklare Nacht oder an der Tür, um in das totenstille Haus zu lauschen.

Prüfungen, wie der Tag sie dem hochmütigen, nie an Widerstand oder Fehlschlag gewöhnten Mann gebracht, hatte er freilich noch niemals kennen zu lernen gehabt. War doch selbst seine dringende Bitte um eine Besprechung von Frau von Eigenwart nicht erfüllt worden, weil sie sich völlig unfähig fühle und notwendig ruhen müsse. Magdalene und sogar Eva, wo er auf sie traf, hielten noch weniger Stand als am Morgen. Und auch zum Zürnen und Zanken fand er niemand. Gustav hatte er nur aus der Ferne noch ein paarmal gesehen. War es bei dem Gedanken an diesen Sohn, dass seine Brauen so besonders finster aneinanderrückten und die Finger sich krampfhaft zusammenzogen?

Es war schon spät, als er der Aufregung soweit Herr wurde, dass er sein Bett aufsuchen konnte. Auch dann fand er lange keine Ruhe. Erst gegen Morgen kam der tiefe Schlaf. Da er endlich erwachte, schien die Sonne bereits hell und lustig durch das Fenster, dessen Laden er zu schließen vergessen hatte.

Als er, rasch sich erhebend und ankleidend, ans Fenster trat und hinausschaute, fand er den Morgen so schön wie den vergangenen in seiner Frühe, nur dass es heute um vieles später war. Denn trotz des hohen Waldes umher lag die Sonne schon voll auf dem kleinen freien Platz vor dem Haus. Darauf achtete er nicht – glaubte er doch ein silberhelles Lachen vernommen zu haben, das ihn an Eva erinnerte. Indem seine Stirn sich von Neuem faltete, öffnete er leise den Flügel und schaute vorsichtig hinaus und fuhr zurück. Da unten waren sie schon alle, Frau von Eigenwart, die beiden Mädchen und Gustav! In welcher Stimmung, das vermochte er nicht zu erkennen. Nur Evas wiederholtes Lachen verriet, dass im Geringsten sie in ihrer gewöhnlichen guten Laune sei.

Herr von Mollenthin vollendete seine Toilette, so schnell und gut es ohne Hilfe des Kammerdieners möglich war, und eilte, hinabzukommen. Trotzdem aber war, als er unten erschien, die Gesellschaft schon von der Vorderseite des Hauses verschwunden und wurde von ihm erst, als er durch die Halle nach hinten gegangen war, schon ziemlich entfernt im verwilderten Garten entdeckt. Seine Brauen zogen sich noch fester zusammen, seine Augen trafen auf die Gestalten mit einem Blick voll Groll und Hass. Er eilte ihnen mit einer Hast nach, welche der Gewöhnung seines ganzen Lebens widersprach.

Die Baronin war es, die ihn zuerst erblickte und, ihr Gespräch mit Gustav abbrechend, stehen blieb. »Ah, da ist er!«, rief sie mit einem Ausdruck von Heiterkeit, der nichts mehr von den Schrecken und Strapazen des vorigen Tages verriet. »Habe ich es nicht gesagt? Auch unser edler Wirt hat sich wiedergefunden! Ja, ja, Baron«, setzte sie ebenso munter hinzu, da er nun zu ihr herantrat, »gestern war ein Tag der Prüfung für uns! Wir haben sie schlecht bestanden, mein Teurer, und sollten uns eigentlich vor den Kindern schämen. Freilich, die Jugend schlägt immer das Alter und hat das Recht dazu!« Ihm die Hand bietend, schloss sie: »Sie haben aber nicht gefrühstückt, fürchte ich – ich werde Ihnen Gesellschaft leisten. Denn der Spaziergang, den die Kinder vorhaben, dürfte für uns wohl zu lang werden.«

Des Barons Blick glitt von der Sprechenden zu den jungen Leuten hinüber. »Ein Spaziergang – jetzt? In dieser Wildnis? In dieser Frühe?«, wiederholte er mit einem Ausdruck der Missbilligung und zugleich des Spotts! »Welch ein Einfall, meine Freundin! Ganz, wie ihn die Köpfe meiner Kinder gebären! Ihre zarte Magdalene aber muss ich davor schützen.«

»Ah bah, mein lieber Baron«, unterbrach ihn die Dame, »Sie kennen meine Magdalene schlecht, wenn Sie ihr nicht solche und noch ganz andere Einfälle zutrauen! Auch was Sie sonst einwenden – wir sind schon seit einer Stunde im Gange, Sie Langeschläfer! Und die Wildnis …« Sie lächelte zu Gustav hinüber. »Wer fürchtet sie unter dem Schutz eines solchen Paladins? Also, geht nur, geht, meine Kinder! Nur lasst uns nicht gar zu lange allein. Ich fühle mich so leicht: Ich habe eine Ahnung, der Morgen bringt uns Neues und Gutes.«, Sie nickte den jungen Leuten zu und wandte sich ab.

Herr von Mollenthin zögerte unentschlossen. »Mein Sohn, scheint er Ihnen der passende Begleiter?«, fragte er abgebrochen, aber hörbar grollend. »Bei seiner Jugend und seinem konfusen Kopf …«

Es war ein ernster Blick, der ihn von ihrem Auge aus von unten bis oben maß; ja, es war darin etwas wie die strenge Forderung, dass er schweigen und ihr folgen solle. Und als sie ihn wirklich neben sich sah, traf ihn der Blick noch einmal und noch dunkler. Dazu sagte sie gedämpft: »Ich verstehe Sie nicht mehr, Friedrich. Haben Sie denn auch heute noch nicht die Fassung wiedergefunden, die gestern uns beiden verloren gegangen war? Der junge, liebenswürdige Mann, dem Magdalene und ich die Rettung unseres Lebens und unserer Ehre verdanken und der uns alle gestern von Neuem so tief verpflichtete, statt unserer denkend und handelnd – ich dächte, unser Dank müsste ein unbegrenzter sein! Und statt dessen …«

»Ich hasse ihn!«, murmelte Mollenthin.

Sie stand und schaute ihn erstaunt an. »Ihren Sohn …?«

Es glitt ein düsteres Lächeln über sein Gesicht. »Gleichviel!«, grollte er erst nach einer Pause. »Seine jetzige Anwesenheit und sein Herandrängen an Ihre …«

»Seine Anwesenheit, ohne die wir jetzt, wer weiß wo, wären?«, unterbrach sie ihn streng. »Kommen Sie zur Besinnung, Friedrich, wie es sich nicht nur für den Vater, sondern auch den Mann Ihres Charakters und Standes schickt.«

»Glücklicher Knabe, der solche Verteidigerin findet!«, sagte er mit durchklingendem Hohn.

»Kommen Sie zur Besinnung – ich muss es stets von Neuem sagen! Ihre gestrige Schwäche kann ich erklären und verzeihlich finden, wie meine eigene. Der Schlag war zu hart und zu kompliziert. Er durfte uns niederwerfen. Ich aber, kann ich wohl sagen, habe mich schon gestern aufgerafft, als mir Ihr Beispiel – ich meine jene rätselhafte Szene, zu deren Zeugin

Sie Magdalene machten! – erschreckend zeigte, wie verderblich uns die Nachgiebigkeit gegen plötzliche Eindrücke werden kann, und als ich mich auf meine Pflicht und meine Obliegenheiten besann. Und da scheint mir denn das Wichtigste die Antwort, die ich Ihnen seit vorgestern schulde, Friedrich«, fuhr sie fort. »Die Mutter verlangt den Vortritt vor der Gattin und Weltdame. Sie haben es schon vorgestern merken können, ja, ich habe es Ihnen ausgesprochen«, redete sie immer gleich kurz und präzise weiter, »dass Ihre Eröffnungen mich gewissermaßen betäubten. Halb verstand ich sie kaum, halb glaubte ich nicht an Ihren Ernst. Wie Sie wissen, war ich auch durch anderes zerstreut. Genug, erst in der Nacht, erst gestern Abend wurde mir alles wirklich klar und begann ich daran zu denken, dass ich Ihnen jedenfalls eine offene Antwort schulde.«

»Die Sie mir trotzdem leider verweigerten«, warf er unverändert finster ein, »obwohl Sie wissen konnten, wie mein Herz danach verlangte, seines Glückes sicher und froh zu werden.«

Sie waren bisher in einem noch freien Steig des Gartens auf- und abgegangen. Nun blieb sie an den Stufen stehen, welche zur Hintertür des alten Hauses hinaufführten. Ihr Auge traf ihn mit einem dunkeln, forschenden Blick und sie versetzte – war es mehr gepresst oder mehr bekümmert: »Ist es denn wirklich mehr als ein Einfall, der, wie ich hoffte, bei der ersten ruhigen Überlegung wieder verschwinden musste? Muss ich Sie denn wirklich daran erinnern, dass Magdalene noch nicht achtzehn Jahre zählt und jünger als selbst Ihre Eva ist? Und wenn dies auch nicht wäre – es kommen ja so seltsame Verhältnisse vor, obwohl sie mir stets unnatürlich und gefährlich erschienen sind!«, redete sie leise weiter. Ihre Stimme klang bewegt, fast zitternd, ihre Wangen röteten sich und ihre Augen suchten den Boden. »Wenn Sie die Vergangenheit vergessen können, Friedrich, ich kann es nicht. Mein Herz, mein ganzes Gefühl empört sich …«

»Aber, Amélie, ich begreife nicht!«, sprach er mit düsterem Erstaunen.

»Ich kann nicht anders – ich kann nicht!«, rief sie leidenschaftlich. »Sie können nicht das Kind heiraten, dessen Mutter Ihnen so teuer war! Ich kann nicht, Friedrich! Es ist unmöglich – undenkbar! Ich müsste sterben vor Schmerz und Scham!« Sie stand, die Hände zusammengepresst, das Haupt tief gesenkt, eine ganze Weile regungslos, bevor sie wieder aufblickend und sichtbar gewaltsam sich fassend, mit einer gewissen Mattigkeit des Ausdrucks und der Stimme hinzufügte: »Und wenn diese Gründe nicht bestimmend wären, der dritte, den ich erst gestern Abend erfuhr, ist entscheidend: Magdalenes Herz ist nicht mehr frei. Zwingen würde weder Eigenwart noch ich unser Kind.«

Aus seinem Auge brach ein zorniger Blitz und mit einer Art von dumpfem Knirschen sagte er: »Ihr Herz nicht mehr frei? Ist vielleicht der Herr Paladin der Glückliche?«

Frau von Eigenwart hatte ihre Fassung völlig wiedergefunden. Sie erhob das Haupt und stand vor dem in seiner Haltung bis aufs äußerste erschütterten Mann, stolz und streng wie eine Königin. Ihr Blick maß ihn so ernst und fest, dass der seine sich unwillkürlich senkte.

Ihre Lippen öffneten sich. »Friedrich«, sprach sie, »reizen Sie mich nicht! Ich würde mich rächen, und Sie wissen …«

Sie kam nicht weiter, denn der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes klang von dem mit Gras bewachsenen Pflaster der Straße herüber, welche gegenwärtig noch die einzige erträgliche Verbindung mit dem Försterhaus und dadurch mit dem Land bildete. Gleich darauf sahen sie auch durch die offenen Hinter- und Vordertüren den Reiter, der sein Tier vor dem Haus jäh anhielt, aus dem Sattel sprang und, sich nach allen Seiten umschauend, ein lautes Hallo ausstieß.

»Leopold!«, rief der Baron überrascht.

»Er ist es!«, rief Frau von Eigenwart ihm nach.

»Ja, er ist es!«, rief auch der Offizier, der ihre Stimme vernommen hatte und durch das Haus herbeieilte. »Sind Sie denn wirklich in dieser Ruine? In dieser Einöde? Übrigens ein ingeniöser Einfall. Hier hätte Sie niemand gesucht.«

»Du bist frei?«, unterbrach Mollenthin den Erregten.

»Wir sind alle frei, mein Herr Vater! Es ist ein – der Teufel hole es – ich glaube, ein Missverständnis gewesen! Es ist heute Nacht ein neuer Kurier angekommen – ich glaube, Lepasse. Exzellenz haben mich rufen lassen, waren sehr übellaunig, sagten mir allerhand über meine Streiche, wie Sie sich auszudrücken beliebten, beorderten mich zur Begleitung nach Mollenthin. Wir müssten Ihren Zufluchtsort erfahren …«

»Der Gouverneur? Nach Mollenthin? Heute Nacht?«

Der Baron und Frau von Eigenwart riefen es durcheinander.

»Sicher! Und nachdem Exzellenz ein kleines freundschaftliches Gespräch mit Maître Francois gehabt und wie es scheint, dessen Zunge gelöst hatten, fuhren und ritten wir zur Försterei, so schnell es diese schauderhaften Wege erlaubten.«

»Mansfeld selber hierher? Du phantasierst!«, unterbrach ihn der Vater mit tief gefurchter Stirn. Auch Frau von Eigenwart schüttelte ungläubig den Kopf.

»Contraire, ich wache vollständig und bin unsterblich hungrig und neugierig!«, versicherte Leopold lustig. »Gibt es hier etwas, was man für eine menschliche Speise und ein Glas Wein erklären kann? Seine Exzellenz haben den Teufel im Leib und ließen mich in der Försterei nicht einmal nach einem Stück Brot langen ! Ich musste fort, um Sie hier festzuhalten, dass Sie nicht von Neuem verschwänden! Hochdieselben haben offenbarmehr als genug von dieser Verfolgung und – horch!«, brach er ab und horchte gegen den Wald hin, hinter dem die Försterei lag. »Hören Sie? Er kommt wahrhaftig schon. Es rumpelt angenehm auf dem prächtigen Dammweg und ich höre deutlich die Achs und Ohs Seiner Exzellenz!«

Man vernahm, zumal die Gesellschaft nun ins Haus trat und zur Vordertür schritt, wirklich das Rollen und Stoßen eines nur mühsam fortgezogenen schweren Wagens. Gleich darauf bog auch die Staatskarosse des Gouverneurs um das letzte Gebüsch und fuhr gegen das Haus zu. Aber nach wenigen Schritten schon hielt sie mitten auf dem Platz. Der herabspringende Diener öffnete den Schlag und Mansfelds Gestalt erschien, sich reckend, dehnend und schüttelnd, und kam mit steifen Schritten zu dem ihm entgegenschreitenden Paar heran.

Leopold hatte sich unsichtbar gemacht.

»Treffe ich Sie endlich?«, rief der Gouverneur und führte Frau von Eigenwarts Hand an die Lippen und nickte Mollenthin freundschaftlich zu. »Donnerwetter, Baron, der Fluch fällt auf Ihr Haupt! Donnerwetter!«, rief er, beugte und reckte sich, als ob er schwere Rückenschmerzen hätte, »ich habe keine Ahnung von dieser Ihrer Festung in unserem Land gehabt! Sicherer als hinter Wall und Mauer – ich habe es erfahren!«

»Eine gerechte Strafe, Exzellenz!«, sagte Frau von Eigenwart sarkastisch, während Mollenthin noch immer in seinem finsteren Schweigen verharrte.

»Baronin, zanken Sie nicht mit mir! Baron, machen Sie kein so grimmiges Gesicht! Ich bin an dieser unangenehmen Geschichte unschuldig wie ein Kind! Der alte Herr hatte, wie Sie wissen, zuweilen wunderbare Einfälle, denen man obendrein gehorchen musste. Wer fragte, ob das Herz dabei blutete? Fürst Ludwig macht alles wieder gut!«

»Fürst Ludwig!« Sie riefen es wieder beide zugleich mit sichtbar freudiger Genugtuung. Mollenthins Stirn glättete sich. In seinen Augen spiegelte sich ein hochmütiger Triumph.

»Ja, meine Freunde!« Mansfeld dämpfte die Stimme. »Der alte Herr ist kaum eine Stunde nach Allslebens Abreise beim Zubettgehen vom Schlag gerührt worden. Prinz Ludwig war schon am nächsten Morgen im Schloss und übernahm die Regierung. Seine erste edle Regententat war Eigenwarts Befreiung und Wiedereinsetzung – ich gratuliere, Amélie! Seine zweite die Absendung seiner Befehle an mich und an Sie, mein Freund! Aber lassen Sie uns hineingehen. Ich habe Ihnen noch vieles mitzuteilen – auch Sie haben einen Brief von Ihrem Herrn Gemahl, Amélie!« Und gegen den Wagen zurück gewendet, rief er: »Friedrich, das Portefeuille!«

Man ging ins Haus, Mollenthin noch immer mit jenem Ausdruck des Triumphs, die Baronin in sehr ernsten Gedanken, beide schweigend, während der Gouverneur unaufhörlich von allem Möglichen plauderte, was sich in den letzten drei Tagen hier und in der Residenz ereignet hatte. Im Frühstückszimmer, denn in dieses traten sie, sprang Leopold überrascht vom Stuhl hinter dem Tisch auf, an dem er sich, wie der Augenschein bewies, gründlich erfrischt hatte. Mansfeld wies ihn lachend hinaus.

»Ihrer bedürfen wir einstweilen nicht, Leutnant«, sprach er und fügte, gegen Mollenthin sich wendend, hinzu: »Aber es scheint, dass auch Ihr zweiter Sohn in der Nähe ist – nicht wahr, Gustav heißt er?«

»Ja, unser Retter in Italien, Mansfeld, und unser Retter und Beschützer bei Ihrem Angriff auf uns!«, sagte Frau von Eigenwart mit freudiger, zugleich aber auffällig deutlicher Betonung. »Ja, er ist hier! Die Kinder sind alle drei in den Wald gegangen. Wir erwarten sie jeden Augenblick zurück.«

»Serenissimus scheinen Außerordentliches mit ihm im Sinn zu haben«, sagte Graf Mansfeld, das Portefeuille öffnend. »Ich habe die ehrenvollsten Aufträge für ihn – wahrhaft zärtliche Grüße ! Sogar ein Handbillett an den Herrn Kammerjunker! Ich gratuliere Ihnen, Baron! Aber hier, Amélie, ist Ihres Gemahls Brief, und hier Serenissimus Depesche an Sie, Mollenthin! Lassen Sie sich nicht stören. Ich werde mir inzwischen ein Glas Wein nehmen – ich bin wie gerädert!« Er stürzte soldatisch derb das Glas aus und füllte es von Neuem und fiel stöhnend auf das erschrocken ächzende alte Canapé.

Die Baronin war mit dem kurzen Brief schon fertig. Nach einem forschenden Blick auf den noch lesenden Hausherrn sagte sie gedämpft zum Gouverneur: »Eigenwart wünscht meine Rückkehr so bald wie möglich.«

»Wenn man eine solche Perle von Gemahlin und eine solche Fee von Tochter seit zwei Jahren entbehrt – ah!« Er richtete sich mit einem Blick in den Garten rasch von seinem Sitz auf. »Da kommen ja unsere jungen Lieblinge! Und das dieser Gustav? Welch eine angenehme, recherchierte Erscheinung!«

Das Rauschen des Papiers, welches Mollenthin in der Hand hielt und eben mit einer auffallenden Rücksichtslosigkeit zusammendrückte, unterbrach ihn. »Serenissimus ehren mich hoch,«, sprach der Baron dabei in einem Ton, der ebenso wenig wie seine Miene eine empfindliche Enttäuschung zu verbergen imstande war. »Ich werde angesichts dieses nach Regensburg beordert, ohne die Residenz zu berühren. Meine Kreditive und das Personal soll ich in Gotha erwarten. Sehr gnädig, in der Tat! Aber ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich noch fähig bin …«

Mansfeld ließ ihn nicht ausreden. »Mein Freund«, sagte er, sich erhebend, »Serenissimus haben diese allzu große Bescheidenheit vorausgesehen und mich, als alten Freund, beauftragt, Ihnen auf das Eindringlichste zuzureden und Sie zu bitten, Ihre Reise nach Kräften zu beschleunigen. Er wisse niemand außer Ihnen, dem er gerade diese Mission anvertrauen könne. Es ist eine glänzende, Mollenthin! Ihr Personal ist aus unseren ersten Kavalieren zusammengesetzt. Auch Ihr Sohn Leopold ist darunter …«

»A–h–h!« Mollenthin verbeugte sich tief, mit unergründlicher Miene. »Ich bin Eurer Exzellenz zu tausendfachen Dank für diese Aufschlüsse verpflichtet. Ich werde schon morgen abreisen.«

In diesem Augenblick öffnete Eva die Tür, blieb jedoch, da sie den Gouverneur erkannte, wie überrascht stehen. »So hat also Leopold doch die Wahrheit gesagt!«, rief sie mit einer graziösen Verneigung und strahlenden Augen aus. »Sie sind wirklich hier, Exzellenz – doch als Befreier, hoffe ich? Sie sehen viel zu gnädig aus! Aber«, fügte sie, zurücktretend und mit einer neuen Verneigung hinzu, »ich entferne mich schleunig und bitte um Verzeihung, dass ich die Konferenz gestört habe!«

»Im Gegenteil – kommen Sie, kommen Sie! Entziehen Sie uns nicht den Anblick Ihrer Schönheit! Und Ihre Begleiter«, sprach der Gouverneur wahrhaft huldvoll lächelnd, ergriff die Hand der jungen Dame und fuhr, da er die Übrigen wirklich in der Nähe auf dem Flur warten sah, mit Eifer fort: »Kommen Sie alle! Wir sind fertig und sehnen uns nach so schönen und glücklichen Gesichtern! Sieh da, meine reizende junge Fee. Der Schrecken, den ich Ihnen bereiten musste, hat Ihnen gottlob nichts geschadet! Sie blühen wie die Schönste und Zarteste der Rosen! Und hier«, er wandte sich, nun im Zimmer und vor den jungen Leuten stehend, mit einem fast noch huldvolleren Lächeln zu Gustav. Das große, scharfblaue Auge überflog die Züge und die Gestalt des Jünglings. »Dies hier ist doch wohl sicher unser junger Held und großer Künstler? Mein bester Herr Kammerjunker – sehen Sie mich nur nicht so überrascht an, junger Herr! Fürst Ludwig, unser allergnädigster Gebieter, hat Ihnen diesen Titel höchst eigenhändig zu geben geruht! Ich bin entzückt, Sie kennen zu lernen und Ihnen dieses Handschreiben zu überreichen!« Er nahm das Schreiben aus dem Portefeuille und gab es dem erstaunten Gustav.

»Kammerjunker? Ich überhörte das leider vorhin«, sagte Herr von Mollenthin nach einem flüchtigen Blick auf den lesenden Sohn, mit der früheren unergründlichen Miene. »Serenissimus ehren mich und die meinen hoch und machen meine Mission in der Tat zu einer glänzenden! Es war ohnehin schon längst mein Wunsch, auch diesen Sohn in eine bestimmte, meine eigene Karriere …«

»Ich bin untröstlich, mein Freund, hier nicht zustimmen zu können«, unterbrach Mansfeld ihn kopfschüttelnd. »Serenissimus befehlen Ihren Herrn Sohn an den Hof. Nicht wahr, mein bester Herr Kammerjunker, Serenissimus Schreiben spricht davon?« Als der verwirrte Gustav ihm das Schreiben hinreichte, nahm er es und las, die Augen darauf werfend: Mein lieber junger Freund! Das Geschick beruft mich auf den Thron unseres Vaterlandes. Allein ich kann meinem Lieblingswunsch, Ihres wundervollen Talentes in Ruhe zu genießen, unmöglich entsagen. In acht Tagen werde ich auf einige Wochen nach Monrepos gehen und erwarte Sie dort, wie Sie es mir versprachen. Wir wollen ganz der göttlichen Kunst leben. Vergessen Sie aber Ihre himmlische Amati nicht. Ich besitze kein ähnliches Instrument. Eilen Sie zu Ihrem väterlichen Freund und treuen Verehrer – Ludwig.

»Wie außerordentlich gnädig – ich gratuliere, mein bester Herr Kammerjunker«, sagte der Gouverneur, den Brief mit einer Verbeugung zurückgebend. Die Übrigen waren stumm vor Erstaunen.

»Aber dies ist ja ganz himmlisch!«, rief Frau von Eigenwart endlich mit ausbrechendem Entzücken. »So können Sie uns ja begleiten, Gustav – der Herr Gouverneur werden hoffentlich nichts dagegen haben und uns noch einmal beschützen, wie Sie es so herrlich verstehen!«

Ohne auf die glühende Röte zu achten, welche nicht nur Magdalenes, sondern auch des Jünglings Züge überflog, und ohne Mollenthins immer drohender sich faltende Stirn eines Blickes zu würdigen, fuhr sie, sich gegen den Gouverneur wendend, ebenso lebhaft und noch heiterer fort: »Nun ist alles gut, alles! Es wäre auch allzu grausam gewesen, lieber Mansfeld, ein so junges Brautpaar in seinem ersten Glück zu trennen! Denn …«, sie winkte dem erstaunt einen Schritt zurücktretenden Herrn fröhlich zu, »als ein solches stelle ich Ihnen unsere Kinder vor!«

Mollenthin war wie erstarrt gewesen. Nun fuhr er plötzlich auf. »Baronin – sind Sie wahnsinnig«, brach er mit aller Rücksicht vergessendem Grimm aus. Sein Gesicht glühte. Es war, als sträubten sich alle Haare seines Hauptes.

Frau von Eigenwart schüttelte lächelnd den Kopf. »Ei, mein lieber alter Freund«, redete sie heiter und ergriff trotz seines Widerstrebens seine Hand, »wie können Sie so unverständig sein! Habe ich es Ihnen doch gesagt, dass Ihre Bedingungen in meinen Augen allzu grausam seien, und dass ich mich nicht an sie binden würde! Das Glück ist so flüchtig! Weshalb es den armen Kindern und uns länger vorenthalten – aus reinem Mutwillen obendrein? Denn dieser gute Mollenthin«, wandte sie sich stets mit dem gleichen liebenswürdigen Lächeln wieder zu Mansfeld, »redete da von zu jung, und der Himmel weiß, wovon noch sonst, und wollte selbst den armen Kindern noch nichts verraten haben! Wäre es nicht allzu grausam gewesen, Mansfeld? Zu jung! Mein Gott, der Fehler verringert sich alle Tage! Wir waren auch nicht älter als die beiden, da wir vordem heirateten! Und man wird nur gar zu schnell alt – wir drei …«, ihr Blick flog schalkhaft zum Gouverneur und zum Baron hinüber, »… liefern den Beweis! Also, geben Sie nach, Friedrich! Schauen Sie die Kinder doch an, wie sie vor Glück strahlen! Umarmt euch, meine Kinder! Seid glücklich, wie wir! Kommt an unser Herz!«

Herr von Mollenthin machte keine Einwendungen mehr. Er redete nicht und begnügte sich, als Mansfeld ihm die Hand schüttelte, mit einem unverständlichen Murmeln. Seine Stirn glättete sich nicht, sie behielt im Gegenteil etwas Drohendes. Den seinen und selbst Mansfeld fielen diese Zeichen einer tiefen Verstimmung, oder wie man es sonst heißen wollte, nicht besonders auf. Er war allen nicht nur als ein Mann bekannt, der jedes innigere Gefühl und jede wärmere Regung auf das Kälteste von sich abwehrte, sondern sie wussten auch, dass er einen Widerstand gegen seinen Willen und eine Durchkreuzung seiner Pläne nur schwer jemals verzieh. Eva und Gustav waren durch die plötzliche Wendung anfangs fast bestürzt und trauten ihren Ohren kaum. Aber sie war eine allzu beglückende, als dass sie sich noch lange mit Grübeln hätten plagen sollen. Den richtigen Sachverhalt ahnten sie so wenig, wie die Übrigen, außer der Baronin selber.

Eine Stunde später wurde es wieder öde und still in dem alten Haus. Die vier jungen Leute waren schon davongeritten – wir brauchen wohl nicht erst zu sagen, in welcher Stimmung. War doch sogar Leopold, nach der Überwindung der ersten Verblüfftheit, lustig, neckte und lachte unaufhörlich mit den Übrigen.

Der Reitknecht belud mithilfe des herbeigekommenen Försters das Packpferd. Auch die drei Älteren rüsteten sich nun zur Abfahrt – der Gouverneur hatte es nicht anders getan: Mollenthin musste einen Platz im Wagen annehmen. Das Gefährt hielt noch immer auf der früheren Stelle, im Schatten des Waldrandes. Mansfeld redete selbst mit seinem alten Leibkutscher, um ihm die größte Vorsicht beim Heimfahren anzuempfehlen. Mollenthin und Frau von Eigenwart kamen gleichfalls heran.

Als sie so allein miteinander waren, zum ersten Mal seit der überraschenden Szene, da sprach die Dame nach einem Blick auf ihren stummen und finsteren Begleiter plötzlich rasch und leise: »Baron, seien Sie endlich wieder vernünftig. Was geschehen ist – Sie haben es nicht anders gewollt. Ich tat nur, was ich musste, was ich Ihnen voraussagte. Jetzt ist die Sache unwiderruflich. Fügen Sie sich!«

Er erwiderte nichts, aber es war fast, als knirsche er mit den Zähnen. Seine Augen trafen die Dame mit einem Blick voll Erbitterung und Hass.

Sie nahm das ersichtlich nicht schwer auf. »Drohen Sie immerhin, Baron«, sagte sie in einem beinahe ein wenig spöttischen Ton. »Ich fürchte Sie nicht. Dass ich mein Recht kenne und mir nicht nehmen lasse, habe ich Ihnen gezeigt, weil – ich sagte es schon – Sie es einmal so wollten. Unterschätzen Sie unsereins nicht  gar zu sehr, mein Herr Diplomat! Intrigen sind zu Zeiten recht gut, aber zuweilen sind die geraden Schläge viel vorteilhafter. Sie lassen dem Gegner nur die Unterwerfung oder einen Gegenschlag übrig. Den fürchte ich von Ihnen nicht. Also fügen Sie sich und machen Sie kein so närrisches Gesicht!«

Mansfeld kam ihnen entgegen. »Steigen Sie ein, meine Teuren!«, rief er heiter. »Ich freue mich auf diese Fahrt. Es ist so schön, mit alten Freunden und glücklichen Menschen zu reisen!«

Man nahm seine Plätze ein. Frau von Eigenwart lehnte sich bequem in die Polster zurück. Ihr Blick überflog noch einmal das alte Haus. Sie lächelte dem Gouverneur zu, der eben einstieg, und streifte mit einer gewissen Schalkhaftigkeit über den schon an ihrer Seite sitzenden Mollenthin. Die Pferde zogen an.

»C’est fini!«, seufzte Frau von Eigenwart voll hörbarer Befriedigung.

 

***

 

Es war richtig. Die Schrecken, die Unbehaglichkeit und die Unbequemlichkeiten aller Art, welche über die verwöhnte Gesellschaft hereingebrochen waren, hatten ihr Ende erreicht. Die Sonne strahlte wieder hell durch die Wolkendecke.

Aber auch mit Herrn von Mollenthins Widerstand war es zu Ende. Er nahm den Kampf nicht wieder auf. Denn er war klug genug, um zu begreifen, dass die unsterbliche Lächerlichkeit, nicht ausbleiben konnte, wenn man in der Gesellschaft jemals etwas von seiner Werbung und Frau von Eigenwarts energischer Abwehr erfuhr. Aber er erwog auch die Gefahren, welche eine Verfeindung mit der Familie des Ministers Eigenwart und die offene Ungnade des für den Sohn schwärmenden Fürsten für ihn heraufbeschwören mussten. Beugte er sich doch schon jetzt unter der noch verhüllten Ungnade. Denn dass seine Mission nichts war, als eine höfliche Beseitigung des bisher willkommenen, gegenwärtig unbequemen Helfers – das hatte er bekanntlich schon im ersten Augenblick begriffen. Gegen den Willen des Selbstherrschers lehnte sich dazumal aber selbst der Unabhängigste nur mit Gefahr seiner Freiheit oder unter Umständen auch wohl einmal seines Kopfes auf. Vor solchen Extremen wich der Baron vorsichtig zurück.

Dem jungen Paar trat er niemals nahe, und im Eigenwartschen Haus erschien er nur noch zum Staatsbesuch, wenn er einmal in die Residenz kam. Ob man unter dieser Entfremdung gelitten hat? Wir zweifeln.

»C’est fini!«, hatte Frau von Eigenwart ja gesagt!

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