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Der Detektiv – Schattenbilder – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Schattenbilder
Teil 1

Die Heimat grüßte uns – die Elbe, Cuxhaven, dann Hamburg! Wir waren wieder daheim! Unsere indischen Abenteuer waren beendet. Dr. Doogston-Warbatty, den wir zunächst für ein Verbrechergenie von unerhörter Rücksichtslosigkeit gehalten hatten und der doch nur das willenlose Werkzeug eines mit teuflischer Schlauheit ausgestatteten anderen Mannes gewesen war, gab es nicht mehr!

Dafür hatten wir nun einen anderen Gegner zu fürchten, einen, gegen den Warbatty ein Nichts bedeutete: Jenen James Palperlon, der den Doktor Reginald Doogston wie eine Marionette durch hypnotische Willensbeeinflussung in schändlichster Weise für seine Zwecke ausgenutzt hatte.

Die Leser meiner Berichte über Harald Harsts Orientabenteuer werden sich auf den Ausgang unseres Kampfes gegen Warbatty-Palperlon noch besinnen. Palperlon war uns entschlüpft. Sein Abschiedsgruß für meinen Freund Harst war vielsagend genug gewesen: »Hüte dich! Ich bin stets um dich!«

Das war eine Drohung, die man nicht unbeachtet lassen durfte.

Harst hatte denn auch auf der Überfahrt von Kalkutta nach Hamburg stets in derselben Weise alle Vorgänge und Menschen ringsum misstrauisch beobachtet, wie ihm dies zur zweiten Natur geworden war. Er verstand es meisterhaft, dieses stete auf der Hut sein zu verbergen. Auf unserem Dampfer war er bald der Mittelpunkt eines erlesenen Kreises von Mitreisenden geworden, die in ihm nicht nur den berühmtesten Liebhaberdetektiv der Gegenwart, sondern auch den liebenswürdigen, vielseitig gebildeten und interessanten Menschen verehrten.  Unser prächtiges Schiff war nun am Kai vertäut. Es war gerade Mittag. Die Sirenen der zahllosen Dampfer und Fabriken heulten, Glockenklänge schwebten über die alte, ruhmreiche Alster-Hansastadt hin.

Unsere Koffer waren gepackt. Wir führten nur jeder einen mit uns. Wir standen neben Kapitän Rickmer auf der Kommandobrücke, dankten ihm nochmals für den Genuss dieser Seereise auf seinem schwimmenden Luxushotel und wollten gerade wieder auf das Deck hinabsteigen, als einer der Stewards des Schiffes die Treppe emporeilte, in der Hand ein briefähnliches Päckchen haltend.

»Für Sie, Herr Harst«, erklärte er atemlos. »Der Überbringer, ein Dienstmann, sagte, es eile sehr.«

Harst wog das schmale, in einem gelben Umschlag steckende Etwas in der Hand, schaute dann auf die Aufschrift.

Ich las über seine Schulter mit.

Eilt sehr! Sofort öffnen! Herrn Harald Harst z. Z. Hamburg.

Das war alles. Die Maschinenschrift dieser Adresse war miserabel. Es musste eine klapprige Maschine benutzt worden sein, die die Buchstaben teilweise schief, teilweise über und unter die Linie setzte.

»Welche Nummer?«, fragte Harst den Steward kurz, ohne von dem Päckchen aufzublicken.

»Wie meinen Sie, Herr Harst?«

»Nun, die Nummer des Dienstmanns!«

»Oh, darauf habe ich nicht geachtet.«

»Schade!«

Dieses eine Wort genügte mir, mich unruhig zu machen. Ich kenne meinen Freund und Brotherrn ja (dem Namen nach bin ich sein Privatsekretär noch immer, aber nur deshalb, damit er mir das hohe Gehalt weiterzahlen kann). Ich weiß, dass er nie einen Ausdruck aus Gedankenträgheit falsch wählt. Jedes bei ihm ist mit Absicht ausgesprochen. Jeder Satz könnte kaum kürzer und treffender gebildet werden. Bei einem Mann wie ihm, dessen Hirn dauernd im Training ist, nimmt das nicht weiter Wunder.

In diesem Schade! lag der Hinweis darauf, dass er dieser Sendung nicht recht traute, dass er dahinter etwas Besonderes, und zwar etwas uns nicht Günstiges vermute.  Er schob das Päckchen in die Tasche. Als wir dann in unserer gemeinsamen Luxuskabine waren, wo unsere Koffer mitten auf dem Teppich standen, zog er es wieder hervor, meinte: »Ich fürchte, wir werden von der Heimat sofort mit einer kleinen Aufregung begrüßt. Sehen wir, ob es wirklich nur eine kleine ist.«

Er schnitt den Umschlag auf. Darin lag ein schmales Pappkästchen. Es war mit weißer Watte gefüllt. Und diese Watte hüllte eine Brosche ein!

Eine Brosche, eine Gemme in Goldfassung, ein sehr altes und wertvolles Schmuckstück.

Ich erkannte es sofort wieder. Es gehörte Harsts Mutter, die es dauernd trug.

Frau Auguste Harst, die Witwe des als mehrfacher Millionär gestorbenen Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst, hing an ihrem einzigen Kind mit einer Liebe, die Harald ihr in gleicher Weise vergalt.

Frau Auguste war noch vom alten Schlag. Der Reichtum hinderte sie nicht, in der Wirtschaft überall mit anzufassen. Die kleine rundliche, stets so geschäftige Dame mit dem schwarzen Spitzenhäubchen auf dem falschen Scheitel hatte auch mich sehr bald in ihr gütiges Herz eingeschlossen. Das Haus Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, war meine Heimat geworden. Ich hatte nie so recht ein Elternhaus gekannt. Das Leben hatte mir übel mitgespielt. Erst Harald Harst brachte mich, den Taschendieb und früheren Schauspieler, auf den rechten Weg zurück.

All das schoss mir wieder durch den Kopf, als ich die Brosche erkannte und als mit ihr notwendig auch trauliche Bilder aus meines Freundes Heim vor mir auftauchen mussten.

Mein Blick streifte etwas scheu Haralds Gesicht. Denn er hatte ja nicht zu Unrecht von einer Aufregung gesprochen! Dieses Schmuckstück, das ihm soeben auf so merkwürdige Art ohne jedes Begleitwort zugestellt worden war, weckte auch in mir nun bange, ungewisse Gedanken.

Harsts schmales, gebräuntes Gesicht war seltsam fahl geworden. Die langen dunklen Wimpern bedeckten die grauen Augen fast ganz. Seine Hand zitterte leicht. Das Kästchen bebte mit. Und auf dem weißen Wattelager ruhte die kostbare Gemme wie ein drohendes Rätsel.  Zwei, drei Minuten verstrichen.

»Harst!«, mahnte ich leise.

Er schaute auf. Sein Blick traf mich. Aber dieser Blick sah mich offenbar nicht, musste irgendwo in der Ferne irgendwelche Dinge sehen, die wohl imstande sind, das Leben aus Menschenaugen scheinbar zu verdrängen. Der Blick war tot, und doch lag darin eine namenlose Angst.

»Harst«, sagte ich abermals.

Seine Linke umklammerte plötzlich meinen Arm.

»Geh, besorge ein Auto, einen Rennwagen, der uns sofort nach Berlin bringt!«, stieß er hervor.

Es war etwas in dem Ton dieser Stimme, das mir ein Frösteln über den Leib jagte.

»Geh! Ich erwarte dich hier an der Anlegestelle mit unseren Koffern!« Das klang bereits energischer.

Ich eilte davon. Zwanzig Minuten später saß ich bereits in dem langen Rennwagen. Der Chauffeur fuhr wie der leibhaftige Teufel. Ich hatte ihm hundert Mark Trinkgeld versprochen.

Harst nickte mir dankbar zu, als wir neben ihm anhielten. Im Nu waren die beiden Koffer festgeschnallt. Dann ging es weiter.

Harst lehnte tief in den Polstern des offenen Wagens. Er hatte die Augen geschlossen, schien zu schlafen. Ich wusste: Er wollte nicht gestört sein.

Wir rasten durch die Vorstädte, Dörfer kamen auf die freie Chaussee. Der Chauffeur hockte wie ein Gnom ganz zusammengekrümmt auf dem Führersitz. Hinter uns drein wehten verschwommen die Flüche von Fuhrwerksbesitzern, deren Gäule unser knatterndes, dahinschießendes Auto scheu gemacht hatte.

Eine Erinnerung kam mir: an jene Autofahrt von Warnemünde nach Berlin, als wir den Holländer Bleulenhook verfolgt hatten. Ich habe unser damaliges Abenteuer unter dem Titel Der Tigerwagen bereits in Band 8 des Detektiv geschildert. Ich dachte jetzt daran, wie eigenartig sich damals der Mord an der Baronin van den Brough aufgeklärt, was alles wir in der Menagerie Sellerheim erlebt hatten.

Und jetzt? Was würde sich nun ereignen? Oder was hatte sich schon ereignet? Weshalb diese Hetzjagd nach Hause, nach Berlin? Weshalb?  Ich hatte Zeit genug, darüber nachzudenken. Und ich kam zu der Überzeugung, dass die Brosche nur gestohlen sein konnte und dass Harst einen größeren Einbruch im Haus seiner Mutter befürchtete, bei dem diese vielleicht von den Dieben überfallen und verletzt worden war.

Eine halbe Stunde waren wir nun unterwegs. Da regte Harst sich, holte das Päckchen hervor und reichte es mir. Dann beugte er sich vor, nahm einen Bleistift und sein Federmesser zur Hand sagte: »Halte das Pappkästchen ganz tief. Ich will den Deckel mit Grafit bestreuen.«

Er schabte mit der kleinen Klinge von der Bleistiftspitze feine Stäubchen ab, verrieb nun den schwärzlichen Staub mit dem Finger vorsichtig auf dem Deckel und rief so das undeutliche Bild des Linienmusters von drei Fingerspitzen hervor, von denen die mittlere eine Narbe haben musste, denn es gab da eine schmale, freie Stelle in dem Muster.

Ein leises Palperlon! entfuhr mir. James Palperlon besaß ja eine solche Narbe am rechten Mittelfinger. Harst hatte den Fingerabdruck damals in Indien an einem Kofferbeschlag entdeckt und auch abgezeichnet.

»Ja! Palperlon! Er meldet sich!«, sagte er nun und richtete sich wieder auf. »Er ist schlau, raffiniert, fraglos ein Genie in seiner Art. Nur daran denkt er nicht, dass ein Mensch wie er, der an so schweißfeuchten Händen leidet, nur mit Handschuhen Dinge anfassen sollte, die vielleicht wie dieses Schächtelchen von geschulten Augen gemustert werden. Schon in unserer Kabine bemerkte ich diese Fingerabdrücke wie einen schwachen fettigen Hauch auf dem weißen Glanzpapier, mit dem das Schächtelchen beklebt ist.«

»Und du dachtest da auch bereits an Palperlon als den Absender der Brosche?«, fragte ich, obwohl die Frage eigentlich überflüssig war.

»Ich ahnte dies, als der Steward die Treppe zur Brücke emporkeuchte«, meinte er in seiner selbstverständlichen Art, die nie als Prahlerei irgendwie wirkt. »Wer wusste denn, dass wir heute in Hamburg eintreffen würden? Niemand! Nicht einmal meine Mutter, die ich doch eben überraschen wollte. Nur einer konnte es wissen: der Mann der mir gedroht hat. Ich bin stets um dich!«  Bei dem Wort Mutter hatte sich sein Blick wieder für einen Moment nach innen gerichtet.

»Ich war darauf gefasst, dass Palperlon mir die Freude der Heimkehr irgendwie trüben würde«, fuhr er fort. »An irgendeinen Gewaltstreich gegen meine Mutter hatte ich allerdings nicht gedacht. Es muss ein solcher verübt worden sein. Die Brosche ist meiner Mutter wertvoller als ihr ganzer übriger Schmuck. Es ist das erste kostbare Geschenk, das mein Vater ihr machen konnte. Deshalb trug sie die Brosche auch stets.«

»Vielleicht ein Einbruch, ein Diebstahl?«, sagte ich unsicher.

»Aber Schraut! Ein Palperlon und Schmuck stehlen, der insgesamt vielleicht 100.000 Mark Wert hat? Ein Palperlon, der nur Millionenobjekten nachjagt? Nein, es muss Schlimmeres vorliegen. Palperlon bekommt alles fertig, selbst …« Seine Stimme sank zum Flüstern herab. »Selbst einen Mord!«

»Das wäre ja …«

»Ja, das wäre eine Rache an mir, die ich ihm sehr wohl zutraue! Bedenke: Wir haben ihm durch seine sämtlichen so fein vorbereiteten Pläne in Indien einen dicken Strich gezogen! Um Millionenwerte haben wir ihn geschädigt. Ohne uns wäre dieser Mensch, der offenbar an Gold- und Brillantengier in krankhaften Maße leidet, jetzt ein Krösus! Hat er da nicht allen Grund, mich so schwer zu treffen, wie es ihm irgend möglich ist?«

Ich schwieg. Ich musste Harst recht geben.

In demselben Augenblick verlangsamte unser Rennwagen seine Geschwindigkeit.

Wir schauten die Chaussee entlang. Vor uns lag ein Dorf, eingebettet in weite Obstgärten. Rechts von der Straße erhob sich ein schlossähnlicher Bau, dessen Front zur Chaussee zeigte. Die Parkmauer des feudalen Herrensitzes reichte bis dicht an den Straßengraben. Eine Allee von Pyramidenpappeln lief auf das weiße Gebäude zu.

Gerade in einer Höhe mit dem schmiedeeisernen Parktor waren über die Straße zwei Ackerwagen so gestellt, dass sie für uns eine vollkommene Sperre bildeten.

Vor diesen Wagen standen eine Anzahl Männer, Frauen und Kinder. Darunter aber auch zwei Herren, denen man die Gutsbesitzer oder Gutsinspektoren sofort ansah.  Einer der beiden, ein schlanker Mann mit blondem Schnurrbärtchen, trat nun zu uns an den Wagenschlag heran, fasse leicht an das grüne Jägerhütchen und sagte sehr scharfen Tones: »Mein Name ist von Tondra. Ich bin der Amtsvorsteher dieses Bezirks. Ich erkläre Sie für verhaftet. Steigen Sie aus. Das Auto bleibt ebenfalls hier.«

Harst schien Ähnliches vorausgesehen zu haben.

»Und weshalb?«, fragte er, indem er sich langsam erhob.

»Weil Sie in der Nähe des Dorfes Moscheln eine Frau tot gefahren haben. Der dortige Gemeindevorsteher hat diese unerhörte Rücksichtslosigkeit, die schon allein in dem Einschlagen eines so wahnwitzigen Tempos liegt, wie Sie hier angerast kamen, mir telefonisch gemeldet und mich gebeten, Sie zu verhaften.«

Harst öffnete den Wagenschlag und stieg auf die Straße, fasste nun seinerseits ebenso zwanglos an die Sportmütze und nannte seinen Namen.

»Mein Begleiter dort ist mein Freund Schraut«, fügte er hinzu. »Vielleicht sind unsere Namen Ihnen nicht ganz fremd. Ich bin der als Liebhaberdetektiv einigermaßen bekannte Harst. Hier ist mein Ausweis nebst Fotografie – bitte!«

Er hatte das amtliche Papier seiner Brieftasche entnommen. Das Lichtbild daran war so ähnlich geraten, dass Herr von Tondra sofort sehen musste, dass kein Unbefugter sich hier als Harst aufspielte.

Er wurde denn auch höflicher. Zuckte bedauernd die Achseln und erklärte: »So leid es mir tut, meine Herren, ich muss Sie hier festhalten, bis der Amtsrichter aus der nahen Kreisstadt eintrifft, den ich bereits von der fahrlässigen Tötung verständigt habe. Er kann leider erst abends kommen, da er heute Schöffengerichtssitzung hat, die meist bis in den Spätnachmittag hinein dauert.«

»Sie sind das Opfer einer raffinierten Hinterlist«, sagte Harst nun lebhaft. »Wir haben keine Frau überfahren. Mein Wort darauf, Herr von Tondra. Ich habe es sehr eilig. Ich muss unbedingt nach Berlin. Meiner Mutter ist etwas zugestoßen. Ich verpflichte mich morgen wieder hier zu sein und diesen heimtückischen Streich, dessen Hauptopfer ich bin, aufzuklären.«

»Was heißt das, Herr Harst?«, fragte Tondra kopfschüttelnd. »Hauptopfer? Ich begreife nicht was …«

»Sehr einfach: Es gibt Leute, die mir Rache geschworen haben. Und diese Leute wollen mir Ungelegenheiten bereiten, wollen mich hier in eine Untersuchung wegen fahrlässiger Tötung hineinziehen, damit ich nicht nach Berlin kann!«

»Verzeihung, auch jetzt ist mir die Sache nicht klar, Herr Harst. Von einer Hinterlist oder einem heimtückischen Streich kann hier doch keine Rede sein, da eine Frau von Ihrem Auto tatsächlich überfahren und getötet wurde. Der Gemeindevorsteher Hecht aus Moscheln ist ein viel zu besonnener Mann, um mir Dinge zu melden, die er etwa nur vom Hörensagen weiß. Er hat die Leiche der Frau gesehen und in den Keller des Gemeindebüros schaffen lassen.«

Harst nickte. »Mag sein, Herr von Tondra. Trotzdem liegt hier eine fein ausgeklügelte Schurkerei und offenbar auch ein Mord vor. Ein Vorschlag: Fahren wir zusammen zum Tatort zurück. Ich werde Ihnen in einer Stunde den Beweis liefern, dass die tote Frau nicht auf unser Konto kommt.«

Tondra zögerte erst, war dann aber einverstanden. Er nahm auch seinen Gutsrendanten, einen Herrn Schäfer mit. Dies war der zweite Herr, der vor der Sperre gestanden hatte.

Unser Auto wendete. Es ging denselben Weg zurück, nur in mäßigerem Tempo. Nach zwanzig Minuten senkte sich die Chaussee in ein Tal hin ab. Und hier lag an einem kleinen See das Dorf Moscheln.

Ich möchte hier einflechten, dass ich Personen- und Ortsnamen in diesen Aufzeichnungen über Harsts Abenteuer zumeist verändert habe. Nur wo hierzu keinerlei Grund vorlag, benutzte ich die richtigen Namen. Man wundere sich also nicht, wenn man Moscheln und so weiter auf keiner Karte findet. Die Beschreibung der Örtlichkeit stimmt jedoch mit den tatsächlichen Verhältnissen überein.

Gemeindevorsteher Hecht hielt gerade Mittagsschlaf. Er war ein Hüne, dem nichts imponierte, besonders kein Detektiv. Seine blauen Augen streiften Harst und mich etwas geringschätzig, als Tondra ihm erklärte, weshalb wir ihn hatten wecken lassen.

»So, so, also Sie behaupten, Sie haben die Frau nicht totgefahren!«, meinte er zu Harst. »Na, ich habe einen Zeugen, der die Sache mir gemeldet und auch gleich seine Aussage zu Protokoll gegeben hat.«

»Wie heißt der Zeuge? Kennen Sie ihn bereits längere Zeit?«, fragte Harst ungeduldig.

»Natürlich kenn ich ihn. Der Herr lügt nicht. Es ist ein Berliner Kunstmaler namens Gräbner, Ernst Gräbner.«

Wir saßen in der sogenannten guten Stube der Wohnung des verheirateten Hünen. Harst lehnte mit über der Brust verschränkten Armen an dem mächtigen braunen Kachelofen.

»Wie lange kennen Sie ihn?«, forschte Harst weiter. In seiner Stimme mehrte sich die drohende Schärfe angesichts des ganzen Benehmens dieses Herrn Dorfkönigs.

Hecht runzelte die Stirn. »Hören Sie mal, Herr Harst, ob Sie ein berühmter Detektiv sind, wie Herr von Tondra behauptet, das ist mir verflucht egal. Für mich sind Sie mitverantwortlich an einem Verbrechen, das in meinem Bezirk verübt worden ist. Und deshalb habe ich als Inhaber der Polizeigewalt Sie zu vernehmen, nicht umgekehrt.«

»Ganz recht, Herr Hecht. Das dürfen Sie natürlich. Nur dürfen Sie mich nicht auf das Zeugnis eines Menschen hin als Verbrecher behandeln, der ganz fraglos erst kurze Zeit Ihnen bekannt ist und der sehr wahrscheinlich jetzt nicht mehr hier weilt, sondern abgereist ist.«

Hecht wurde stutzig. »Hm, Sie haben recht. Er ist nicht mehr in Moscheln. Aber er kommt übermorgen zurück. Er wollte nur in der Kreisstadt etwas einkaufen und ist mit seinem Rad vor einer halben Stunde …«

Harst winkte ab. »Dachte ich mir! Er wird nicht zurückkehren, Herr Hecht! Ob er seine Sachen, Koffer und so weiter, mitgenommen hat?«

»Koffer? Er kam vorgestern Abend nur mit Rad und Rucksack her, mietete bei der Witwe Gundlach für drei Wochen ein Stübchen und …«

»Ah, also Ihre Bekanntschaft reicht einen Tag zurück, Herr Hecht!«, unterbrach Harald den nun doch etwas verlegen werdenden Gemeindevorsteher. »Mithin stimmt beides: Sie kennen diesen angeblichen Maler kaum, der seine Aussage zu Protokoll gab und dann verschwand und auch nicht wiederzufinden sein wird. Ich wusste das alles im Voraus. Darf ich nun vielleicht so einiges fragen, Herr Hecht?«

»Bitte, Herr Harst.« Mit des Hünen übergroßem Selbstbewusstsein war es nun vorbei. Ich sah, dass Herr von Tondra, der sich hier völlig neutral verhielt, ein wenig lächelte.

»Hat die angebliche fahrlässige Tötung noch andere Zeugen gehabt?«, begann Harst nun weit lebhafter.

»Nein.«

»Kann ich das Protokoll, also die Zeugenaussage dieses Gräbner, einmal lesen? Das erspart zeitraubende Fragen.«

»Gewiss. Ich habe es drüben im Wohnzimmer. Einen Augenblick …« Hecht ging hinaus.

Harst warf Tondra einen besonderen Blick zu. »Dieser Riese besitzt die Naivität eines Kindes«, meinte er leise.

Hecht trat ein und reichte Harst den Bogen.

Das Wichtigste las Harald dann laut vor.

»Gräbners Aussage lautete: ›Ich befand mich auf der Fahrt zu der Kreisstadt etwa 500 Meter südlich des Dorfes in dem Birkengehölz und war gerade vom Rad gestiegen, weil der Hinterpneumatik zu wenig aufgepumpt war, als ein Auto aus der Richtung des Dorfes herangerast kam. Es war ein hellblau gestrichener Rennwagen mit drei Personen darin; Chauffeur vorn und zwei Herren auf dem Rücksitz. Ich bemerkte vor mir gleichzeitig eine Frau, die mitten auf der Chaussee kniete und an ihren Schuhen herumzunesteln schien. Als sie das Auto hörte, lief sie völlig kopflos hin und her. Da hatte der Wagen sie auch schon gepackt, warf sie zu Boden und ging über ihre Brust mit den linken Rädern hinweg. Die Insassen des Autos auf dem Rücksitz wandten sich um und müssen die auf der Straße regungslos Daliegende unfehlbar gesehen haben, fuhren aber weiter. Schuld an dem tödlichen Unfall sind lediglich die Automobilisten, die nicht einmal den Versuch machten, durch Bremsen das Unheil zu verhüten. Ich lief zu der keine achtzig Meter entfernten Unfallstelle hin. Die Frau gab noch schwache Lebenszeichen von sich. Dann fuhr ich eilig zu dem Gemeindebüro und meldete das Beobachtete, worauf der Gemeindevorsteher sogleich an einen Amtsvorsteher in Richtung Berlin telefonierte, damit das hellblaue Auto aufgehalten würde. Als wir nachher an die Unfallstelle kamen, war die Frau tot. Ich versichere, dass diese meine Angaben in allen Punkten der Wahrheit entsprechen. Ich beabsichtige übermorgen aus der Kreisstadt nach Moscheln wieder zurückzukehren. Ernst Gräbner, Kunstmaler.‹ Ganz schlau ersonnen«, meinte Harst nun und legte das Protokoll auf das Tischchen neben dem Ofen. »Wahr davon ist jedoch eben nur, dass die Frau tot und der Maler davongefahren ist. Könnte ich jetzt einmal die Leiche sehen. Ich vermute, es wird eine …«

Er stockte plötzlich; sein Kopf flog hoch.

»Herrgott«, rief er dann, »ist es etwa eine kleine gutgenährte, ältere Frau mit leicht ergrautem, gescheiteltem Haar?«

Auch ich war von meinem Stuhl vor Entsetzen hochgeschnellt! Auch ich dachte erst in diesem Moment an die Möglichkeit, die Tote könnte Harsts Mutter sein, das Opfer der Rache James Palperlons! Es konnte sein – konnte! Die Gemmenbrosche deutete ja fast darauf hin!

Ah, wie erleichtert atmete ich auf, als Hecht kopfschüttelnd erwiderte: »Im Gegenteil, die Frau ist jung und gehört offenbar zu den begüterten Volksschichten.«

Da entschlüpfte Haralds Lippen ein lautes: »Gott sei Dank!«

Dann gingen wir zum Gemeindehaus. Der Keller, in dem die Tote lag, war dunkel. Harst und ich trugen die Leiche daher auf den Hof. Oben auf der Toten lag ihr Hut, ein sehr schicker kleiner Herbsthut. Das blaue Kostüm der vielleicht 25 Jahre alten Frau war über und über mit Chausseestaub bedeckt. Aus dem Mund waren zwei dünne Blutfäden das Kinn hinabgelaufen. Der Ausdruck des regelmäßigen, fast hübschen Gesichts war in keiner Weise abschreckend.

»Haben Sie die Taschen der Toten durchsucht?«, fragte Harst nun. »Ich nehme an, die Frau ist Ihnen fremd, Herr Hecht.«

»Allerdings. Niemand hier kennt sie. Nein, ich habe die Kleider nicht angerührt. Das überlasse ich dem Amtsrichter.«

»Nun, der wird nichts finden. Ich behaupte, die Tote hat nichts bei sich, was zu ihrer Identifizierung führen könnte. Darf ich einmal nachsehen?«

Hecht nickte, und Harald kniete nun neben der Leiche nieder und untersuchte sie auf seine Weise, öffnete auch die hellseidene Bluse, das Mieder und befühlte den eingedrückten Brustkasten, beugte sich ebenso ganz tief über den halb offenen Mund der Frau und schien mit der Nase irgendeinen besonderen Geruch feststellen zu wollen.

Dann stand er auf.

Wir drei, Tondra, Hecht und ich blickten ihn gespannt an.

»Die Frau war schon tot, als sie von dem angeblichen Gräbner auf die Chaussee gelegt wurde. Sie ist vergiftet worden«, sagte er leise und geistesabwesend. »Ja, vergiftet mit Blausäure! Der typische Bittermandelölgeruch entströmt dem Mund jetzt noch recht stark. Nach zwei Stunden freilich wäre nichts mehr davon zu bemerken gewesen und der Kreisarzt hätte ganz sicher erklärt: Tod durch Verletzung der Lungen und durch innere Verblutung infolge Zermalmung des Brustkorbs! Der Mörder dieser Frau hat damit nicht gerechnet, dass ich so schnell hier sein würde und dass so seine Untat entdeckt werden könnte.«

Der Hüne und Herr von Tondra schauten sehr ungläubig drein.

Nun, wir hatten insofern Glück, als gerade jetzt der von Hecht gleichfalls herbeigerufene Kreisarzt erschien, der mit einem Wagen herübergekommen war.

Als er Harsts Namen hörte, war er sofort die Liebenswürdigkeit selbst. Er untersuchte die Leiche, konnte aber keinen Bittermandelölgeruch wahrnehmen, bis Harald ihm zuraunte: »Drücken Sie stark und stoßweise auf den Magen.«

Da nickte der Doktor eifrig. »Ja, es ist Bittermandel«, meinte er. Und nach weiteren fünf Minuten, als er den Brustkorb sehr sorgfältig befühlt hatte, erklärte er weiter: »Die Rippen sind nicht durch Autoräder eingedrückt. Ich vermute, man tat es durch Tritte mit den Füßen.«

»Ganz recht«, bestätigte Harst. »Hier auf der hellen Bluse sind auch Flecke auf der Vorderseite, die von Schuhsohlen herrühren können.

Mir war diese Szene nichts Ungewohntes. Ich hatte als Harsts Privatsekretär schon andere Dinge erlebt, bei denen sich mir die Haare vor Entsetzen gesträubt hatten.

Aber Hecht und Tondra waren recht blass und verhehlten auch nicht, dass diese Untersuchung der halb entblößten Leiche ihnen stark an die Nerven ging.

Die Tote wurde von uns dann in den Keller zurückgetragen. Wir kehrten in die Wohnung Hechts zurück. Hier gab Harst seine Aussage zu Protokoll, ebenso nachher unser Chauffeur und ich. Wir versicherten an Eidesstatt, keinen Menschen überfahren zu haben, und Harald hatte noch das hinzugefügt, was seine Annahme stützte, dass hier sowohl ein Mord als auch gleichzeitig ein gegen ihn gerichtetes Bubenstück vorliege, damit er hier verhaftet und auch längere Zeit in Haft behalten würde.

Inzwischen hatte Hecht auf Harsts Wunsch nach der Kreisstadt telefonieren und dort im Hotel Drei Kronen (dies hatte Hecht dem Maler empfohlen) anfragen müssen, ob dort ein gewisser Gräbner eingetroffen sei. Die Antwort lautete verneinend. Genau so negativ fielen weitere Anfragen in den beiden anderen Hotels aus. Da Gräbner mittlerweile die Stadt längst hätte erreicht haben müssen, war Harsts anfängliche Behauptung, der Maler sei entflohen, schon jetzt ziemlich sicher bewiesen.

Harst schickte dann unser Auto zur Kreisstadt, das nach einer weiteren Stunde den Amtsrichter nach Moscheln brachte. Dieser prüfte den Sachverhalt nur kurz und erklärte dann, er könne die Verhaftung nicht aufrecht erhalten.

Wir waren frei. Kurz nach fünf Uhr nachmittags bei einbrechender Dämmerung fuhren wir weiter. Unser Abschied von den Herren, die wir in Moscheln zurückließen, war herzlich. Harst hatte dem Amtsrichter noch versprochen, den Mord an der Unbekannten, sobald es seine Zeit irgend erlaube, aufklären zu wollen, falls die zuständigen Behörden bis dahin keinen Erfolg gehabt hätten.

Unser Chauffeur stellte wieder Höchstgeschwindigkeit ein, sobald wir freie Chausseestrecken vor uns hatten. Um halb sieben abends hielt unser Auto vor der Gitterpforte des Vorgartens Blücherstraße 10 in Berlin-Schmargendorf.

Daheim! Nun ganz daheim!

Aber was würden die nächsten Minuten bringen?

Harst stürmte ins Haus. Ich bezahlte den vereinbarten Mietpreis für den Rennwagen an den Chauffeur, gab noch ein sehr anständiges Draufgeld und nahm den einen Koffer in die Hand, der Chauffeur den anderen. Als wir die drei Stufen zur Haustür emporstiegen, wurde sie von innen aufgerissen.

Harst stand in der offenen Tür – leichenblass.

»Schraut, meine Mutter ist seit gestern Nachmittag spurlos verschwunden«, presste er ganz heiser hervor. »Und sie trug gestern wie immer die Gemmenbrosche! Also … James Palperlon …! Er … er hat sie … entführt, er hat sie in seiner Gewalt, er wird mich nun zwingen, von ihm abzulassen, sonst … sehe ich meine Mutter nicht wieder!«

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