Dämonische Reisen in alle Welt – Kapitel VI, Teil 1
Johann Konrad Friederich
Dämonische Reisen in alle Welt
Nach einem französischen Manuskript bearbeitet, 1847.
Kapitel VI, Teil 1
Der Teufel philosophiert nach seiner Art. Ein grässlicher Verbrecher. Die gute Pariser Gesellschaft. Die lustige Pariser Gesellschaft. Eine Sternenreise.
Den folgenden Morgen fand sich Asmodi wie gewöhnlich bei seinem Schützling ein.
»Höre, wir verberben es mit Gott und der Welt!«, bewillkommnete ihn dieser.
Der Teufel lächelte hämisch.
»Das kann unmöglich so fortgehen«, setzte Michel hinzu, »ich habe bereits ein Vögelchen pfeifen hören.«
»Nur eines?«
»Alle Parteien sind gegen uns.«
»Desto besser.«
»Bist du des Teufels?«
»Wie magst du so fragen. Doch was ficht dich an?«
»Man wirft uns nicht nur Inkonsequenz, Servilität, Radikalismus und die Götter mögen wissen, was sonst noch alles vor, sondern man behauptet, wir wüssten gar nicht, was wir wollten: Heute höben wir in den Himmel, was wir morgen verdammten, lobhudelten den Absolutismus, schmähten die konstitutionellen Regierungen und Republiken, kurz, wir seien weder Fisch noch Fleisch. Da, lies selbst.«
Michel reichte dem Asmodi eine gelehrte deutsche Zeitschrift hin, in welcher er unter der Aufschrift Dämonische Reisen in alle Welt, nach einem noch ungedruckten französischen Manuskript, Osiandersche Buchhandlung in Tübingen, eine Art von Kritik über Michels und des Teufels Tun und Treiben las, die toll genug war, um einen spekulativen, tief- und grundgelehrten deutschen Philosophen zum Verfasser zu haben.
Asmodi hatte einen Blick auf das Blatt geworfen und gab es Stürmer mit den Worten zurück: »Aber wie magst du solchen Kram nur lesen, dem man gleich bei den ersten Zeilen ansieht, dass er den Stempel der tief-, grund- und bodenlosen Weisheit eines echten deutschen Perückengelehrten trägt. Sagte ich dir nicht, dass wir über alle diese Misere hinaus seien und lachen müssen? Wir dürfen keiner anderen Partei angehören als der, die es mit der gesunden Vernunft hält. Wir müssen loben, was lobenswert ist, wo wir es auch immer finden mögen, sei es im Himmel oder in der Hölle, bei Aristokraten oder Demokraten, und geißeln und strafen, was Strafe verdient, es gehe von Servilen oder Radikalen, und wie alle ihre Nuancen immer heißen mögen, aus. Im Grunde gibt es in der ganzen Welt nur zwei Parteien: rechtliche Leute und Schurken, oder wenn du willst, kluge Köpfe und Dummköpfe. Die Schurken zähle ich zu den Letzteren, denn große Schlechtigkeit setzt immer einen gewissen Grad von Dummheit voraus.
»Hat man je einen Teufel so moralisieren hören!«
»Wie kannst du dich über so einen Zeitungswisch, den irgend so ein philosophischer Narr dahingekleckst hat, irre machen lassen?«
»Nun verderben wir es gar noch mit den Philosophen und deutschen Gelehrten. Dies sind nicht selten die gefährlichsten Feinde.«
»Auf die Gefahr hin wollen wir es wagen.«
»Und dann lässt sich doch nicht leugnen, dass es wahrhaft große Männer und tiefe Denker unter ihnen gibt.«
Der Teufel lachte.
»Du bist unausstehlich!«
»Und du ein Narr! Einverstanden damit, dass diese Leutchen so tief gelehrt sein mögen, dass man auch mit einer hunderttausend Klafter langen Sonde noch keinen Boden finden würde. So wirst du mir doch eingestehen müssen, dass sie mit all ihrer Philosophie – ich rede hier nichts von einer gesunden Lebensphilosophie, deren Kern sich in zwei Zeilen niederschreiben lässt, sondern von teuer aberwitzigen, tollen, unsinnigen, abgeschmackten sogenannten spekulativen Philosophie und ihren Priestern, über die man schon Tausende von Folianten und Quartanten vollgeschmiert hat, auch nicht einen Schritt weiter als der roheste Wilde in den afrikanischen Wüsten gekommen sind und durch die sie Dinge ergrübeln und erforschen wollen, die euch armen Sterblichen ein für alle Mal zu erforschen und zu ergrübeln nicht vergönnt ist. Alle diese gelehrte Herren von A bis Z haben, wie schon ein berühmter französischer Autor sagte, ›durch ihre vergeblichen Studien nichts weiter herausgebracht, als was jeder gewöhnliche Menschenverstand schon weiß, und wollen sich erdreisten, das zu erweisen, was hienieden niemand wissen kann.‹ Stehen sie nicht recht jämmerlich da, all diese guten Doktor Bartholos? Die unsinnigsten Gedanken, oft gar keine, oder sinnloses Geschwätz hüllen sie in einen Wust von Phrasen, in einen Schwulst von Worten ein, sodass sie sich am Ende selbst nicht mehr aus dem tollen Labyrinth, das sie so mühsam geschaffen und in das sie sich verstrickt haben, zu finden wissen. Was sie auf hundert Seiten Unklares, Abgeschmacktes unverständlich faseln, kann man beißend klar mit sechs Buchstaben ausdrücken: Nichts! Hat nicht jeder dieser spekulativen Narren sein eigenes System, das er als das alleinig wahre und untrügliche preist, indem er alle anderen als untaugliche Ausgeburten verbrannter Gehirne verwirft? Und hat auch nur einer einen Begriff von einer wahrhaft praktischen Philosophie? Da ist von einer gesunden, ja nur von einer neuen Idee keine Spur zu entdecken, meist alte und längst veraltete, aufgewärmte, schlecht zubereitete, mit den geschmacklosesten Brühen angerichtete Kost!«
»Eines Teils magst du recht haben; aber es ist doch nichts natürlicher, als dass der nur ein wenig denkende Mensch den Zweck seines Daseins und was aus ihm, seiner Seele oder seinem Bewusstsein, seinem Geist, wie du es nennen willst, nach diesem Leben werden soll, zu wissen wünscht. Mich selbst, ich gestehe dir, bevor ich so glücklich war, dich kennen zu lernen und ehe ich durch unsere Höllenreise mich wirklich überzeugt habe, dass es ein Jenseits, eine Fortdauer gibt, machte dies auch manche Stunde nachgrübeln.«
»Und wer sagt dir, dass nicht alles, was ich dich sehen ließ, ein bloßes Blendwerk, eine Spiegelfechterei, ein Schattenspiel an der Wand war? Wie, wenn ihr armen Menschenkinder doch nichts weiter als das Spielwerk, die Drahtpuppen einer euch unbegreiflichen allgewaltigen Macht wäret, der es nach Gutdünken und Gefallen frei steht, das Bewusstsein und die Fortdauer nach dem Tod des einen wieder hervorzurufen und in alle Ewigkeit fortdauern zu lassen, während sie Tausende nicht der Mühe wert hält, wieder aufzuleben. Wie dann?«
»Asmodi, du bist fürchterlich! Höre auf, du könntest sonst einen trostlosen Skeptiker aus mir machen.«
»Ha, ich scherzte nur«, grinste der Hinkende. »Kehren wir in die wirkliche Welt, wie sie ist, zurück.«
»Ich fühle, dass ich dieser Zerstreuung bedarf. Wo wollen wir hin?«
»In Rouen wird heute ein tragi-komisches Schauspiel vor den Assisen aufgeführt, ein merkwürdiger Verbrecher gerichtet, der reichen Stoff zu psychologischen Beobachtungen gibt. Dies wäre eine interessante Morgenunterhaltung. Wollen wir hin?«
»Mir recht.«
Einige Minuten darauf spazierten die beiden Gesellen Arm in Arm in den Straßen der uralten Hauptstadt der Herzöge der Normandie. Da sie bis zu der Eröffnung des Assisensaales noch Zeit übrig hatten, so führte Asmodi, den Cicerone machend, den Michel in der höchst merkwürdigen Stadt umher.
Zuerst zeigte er ihm die prächtige Kirche von St. Ouen, welche zu der von Chlothar I. gegen das Jahr 540 gegründeten Abtei gehörte, eines der herrlichsten und kunstreichsten Denkmäler, ja ein wahres Wunderwerk der gotischen Baukunst. Hier setzten sich beide in den diese Kirche umgebenden, von Blumen und Blüten duftenden, geschmackvollen Gartenanlagen auf einer Ruhebank unter hochschattigen Ulmen nieder.
»Hier auf dieser Stelle, wo wir jetzt sitzen«, sprach Asmodi, »ließ die grässliche Fredegonde, deren Bekanntschaft wir noch in der Hölle machen werden, den Bischof Pretextat im Jahr 586 erschlagen, weil er die Verbindung Meroves mit Brunhilde eingesegnet hatte. Im Jahr 912«, fuhr Asmodi fort, »als Karl der Einfältige Rollon, den Normannen, als legitimen Herzog von Neustrien anerkannt hatte, wurde Rouen die Hauptstadt des neuen Herzogtums und die Residenz der Herzöge der Normandie, bis zu dem Augenblick, wo Wilhelm der Eroberer die Krone Englands auf sein Haupt setzte. 1126 vernichtete eine schreckliche Feuersbrunst die alte Römerstadt, deren schon Ptolomäus als der Hauptstadt der Velocalles erwähnt, welche in der zweiten Lyonnaise lag und den Namen Rothomagus führte. Nach der Ermordung des jungen Arthurs, Herzog von Bretagne, durch Johann ohne Land, belagerte und nahm Philipp August 1204 Rouen, das er nebst der ganzen Normandie mit seiner Krone vereinigte. Auch der deutsche Kaiser Otto nebst Ludwig VI., König von Frankreich, und Arnold, Graf von Flandern, hatten Rouen belagert, aber der Herzog Richard I., mit dem Beinamen sans peur (ohne Furcht), machte einen Ausfall, überfiel die Feinde und richtete ein schreckliches Blutbad unter ihnen an. Während der Tage des Wahnsinns Karl VI. belagerte Heinrich V. Rouen, das zu bezwingen ihm jedoch erst nach sechs Monaten der tapfersten Verteidigung gelang und nachdem mehr als 50.000 seiner Einwohner durch den Hungertod umgekommen waren! Dreißig Jahre blieben noch die Engländer in Rouen, wohin Jeanne dʼArc, das Heldenmädchen aus Domremy, die Jungfrau von Orleans, die Lyonnel, der Bastard von Vendome, zu Compiegne gefangen und für 10.000 Livres verkauft hatte, gebracht wurde. Der Prozess des armen Mädchens begann am 10. Mai 1431 vor einem Gericht von Mönchen, die sie als Zauberin und Here verurteilten, lebendig verbrannt zu werden. Als Karl VII. 1449 Rouen wieder genommen hatte, ließ er das Andenken und die Ehre der Jungfrau wiederherstellen, deren Mut Frankreich weit mehr genützt hatte als die Schwerter Lahires und Dünois. Unter Karl IX. wurde Rouen abermals belagert und zum letzten Mal im Jahr 1591, wo der König von Navarra, der Vater Heinrichs, bei der Belagerung das Leben verlor.«
Während Asmodi seinem Gefährten so die merkwürdigsten Tatsachen aus der Geschichte Rouens mitteilte, schritt so manches hübsche normannische Kind in ihrem seltsam stattlichen Kostüm vorüber und begab sich durch die Anlagen in die St. Ouens-Kirche, ihre Andacht zu verrichten, schielte aber im Vorbeigehen doch nach dem Teufel und seinem stattlichen Gefährten. Beide standen endlich auf und wanderten durch die alten, engen und krummen Straßen der großen Stadt, deren meiste Häuser und Gebäude viele Jahrhunderte und manche wohl auch ein Jahrtausend auf dem Dach haben mögen und von gar seltsamer und sonderbarer Bauart, zum Teil schwarzgrau, halb verfallen, unbewohnt sind, und dem Einsturz nahe scheinen, sodass sich Michel in die ritterlichen Zeiten des Mittelalters versetzt glaubte. Asmodi zeigte ihm nun den Platz, auf dem Jeanne verbrannt wurde, wo an der Stelle, auf welcher der Scheiterhaufen errichtet war, nun die Statue der Jungfrau steht, die jedoch von keinem großen Kunstwert ist. Hierauf sahen sie noch die nicht minder merkwürdige Kathedrale, ebenfalls ein Meisterwerk gotischer Baukunst, an dem alle Erzbischöfe der Normandie, Johann ohne Land selbst, gearbeitet haben, aus dem 12. Jahrhundert stammend, und dessen mittäglichen Turm , der Butterturm genannt, weil er von dem Geld erbaut wurde, das sich die Geistlichkeit von dem Volk für die Erlaubnis, Butter in der Fastenzeit essen zu dürfen, bezahlen ließ, der die berühmte Glocke, nach der zu Moskau die größte der Welt, enthielt, die aber 1793 für Kanonen eingeschmolzen wurden. Sie besahen ferner die Kais, das Haus, in dem Corneille geboren wurde, die Bildsäule des großen Dichters, das alte Hotel Burgtheroulde und begaben sich dann durch die altertümliche Stadt, wie deren Europa keine zweite aufzuweisen hat, nach dem nicht minder merkwürdigen Justizpalast, dessen Gründer Ludwig XII. war und in dessen weiten Räumen das Parlament der Normandie seinen Sitz hatte. Dieses Denkmal der Baukunst ist ein merkwürdiges Seitenstück zu der Abtei St. Ouen. Ein Maurermeister Namens Roger Ango, der zugleich Bildhauer war, hatte das größte Verdienst bei der Erbauung dieses Palastes.
Die beiden Reisenden traten zuerst in den ungeheuren ehemaligen Prokuratorensaal der Normandie, den man nun den Saal der verlorenen Schritte nennt, in welchem eine Statue des Pierre Corneille steht und dessen Decke mit fantastischem Schnitzwerk verziert ist. Aus diesem traten sie in den nicht minder geräumigen und ausgeschmückten Assisensaal, dessen mit Arabesken und steinerner Spitzenarbeit verzierte Decke halb schwarz und halb Gold ist und der etwa 3000 Personen fasst. Schon hatte der Präsident in seinem auf einer Estrade stehenden Armstuhl Platz genommen, ebenso die Assessoren. Rechts vom Richter befand sich der General-Advokat, auf der einen Seite war die Bank der Angeklagten, auf der anderen die der Geschwornen; Richter und Advokaten wie immer in ihrem Amtsroben. Hinter den Stühlen der Richter sah man das Gemälde, welches Ludwig XII. dem Schatzkammergericht der Normandie schenkte und welches Christus am Kreuz darstellt, zu dessen Füßen sich die Jungfrau Maria und der heilige Johannes befinden.
In diesem Raum wurden schon viele berühmte Kriminalprozesse entschieden, unter denen die der Zauberer Nikolaus Picard und Mathurin Boullée, die im Jahr 1647 durch das Parlament der Normandie wegen des Verbrechens der Zauberei und anderer Abscheulichkeiten verurteilt wurden, auf einer Hurde auf den Richtplatz geschleift, um dort verbrannt und ihre Asche in den Wind gestreut zu werden.
Heute waren alle offenen Räume des Justizpalasts mit einer unermesslichen Menschenmasse angefüllt, und trotz des großen Saales der Assisen konnte derselbe kaum den fünften Teil der Neugierigen fassen, welche von allen Seiten der Normandie gekommen waren, um einen der furchtbarsten Verbrecher richten zu sehen, der jemals auf dem Boden Frankreichs sein Unwesen getrieben hatte und schon seit Jahren der Schrecken des Departements der Seine-Inférieure und der angrenzenden Departemente war, so wie er in Frankreichs Hauptstadt selbst Gräuel aller Art verübt hatte. Der Bösewicht, der nun vor den Assisen stand, nannte sich Jaques Poullet. Dreimal war er schon den Galeeren entsprungen. Weit entfernt, seine Taten zu leugnen, rühmte er sich sogar derselben mit einer schamlosen Ostentation und einem alles verachtenden Hohn.
Diesmal stand er, dreier Morde angeklagt, unter den erschwerenden und grässlichsten Umständen an einem alten Mann und dessen zwei Töchtern vollbracht, vor Gericht.
Er hatte die Familie, die auf einem einsamen Bauerngut unweit Honfleur wohnte, nachdem er sich in der Dämmerung in das Haus geschlichen hatte, nach eingebrochener Nacht überfallen, dem alten Mann, der in einer besonderen Kammer schlief, zuerst den Mund, dann Arme und Beine geknebelt. Hierauf war er in das Schlafzimmer der Mädchen gedrungen, die er, das Messer auf die Brust gesetzt, zwang, zu gestehen, wo der Vater sein Geld verborgen hatte. Als sie ihm dies gestanden und ihn sogar an den Ort im Keller führten, wo sich in einem steinernen Topf untere Lappen und Lumpen etwa zweihundertfünfzig Franken verborgen fanden, stieß er der Älteren das Messer in die Brust, sodass sie einen Blutstrom vergießend niederfiel, warf sodann die Jüngere auch nieder, notzüchtigte dieselbe, indem er zu gleicher Zeit noch auf andere Weise seine Wollust an der daneben liegenden, in ihrem Blut schwimmenden Schwester befriedigte, erstach sodann auch sein anderes Opfer, raffte das Geld zusammen, eilte nochmals in die Schlafkammer des Alten, dem er nun die Kehle durchschnitt und verließ sodann das Haus, wo er die entsetzlichen Taten verübt hatte, mit der festen Überzeugung, seine drei unglücklichen Schlachtopfer wären tot. Dem war jedoch nicht so: Die ältere Tochter, obwohl sie eine große Masse Blut verloren hatte, war dennoch wieder zu sich gekommen, hatte sich gegen Morgen sogar bis zu dem Schlafzimmer ihres Vaters schleppen können, wo sie am anderen Tag von einigen Nachbarn, welche kamen, um erkaufte Vorräte abzuholen, in einem, dem Tod nahen Zustand gefunden wurde. Man leistete ihr sogleich alle mögliche Hilfe, schaffte einen Wundarzt herbei und brachte sie so weit, dass sie durch abgebrochene Worte und Zeichen die näheren Umstände des furchtbaren Verbrechens entdecken und einige Auskunft über den Verbrecher geben konnte, in denen man sogleich den schrecklichen Poullet erkannte. Das Mädchen lebte indessen trotz aller angewandten Mühe nur noch vierundzwanzig Stunde, und wurde zugleich mit ihren ermordeten Verwandten, Vater und Schwester, begraben.
Ein wahres Treibjagen der ganzen Gendarmerie des Departements der Seine-Inférieure, das man gegen den Verbrecher anordnete, hatte endlich den gewünschten Erfolg. Man spürte ihn auf, und nach einer verzweifelten Gegenwehr wurde er in dem Winkel eines Bodens einer längst verrufenen Schenke verhaftet.
Poullet, gegen den eindeutige Beweise vorlagen, zu denen noch das schwere Gewicht seiner früheren Verbrechen in die schuldvolle Waagschale kam, sah wohl ein, dass er dem Tod durch Henkershand diesmal nicht entgehen würde. Er gestand daher mit dem frechsten Trotz, keine Spur von Reue zeigend, nicht nur mit einer schauderhaften Kälte und Gleichgültigkeit die begangenen Mordtaten mit allen ihren abscheulichen Nebenumständen ein, sondern legte dabei noch eine Art von Genugtuung und höllischer Selbstzufriedenheit an den Tag.
Als am Schluss der Verhandlungen sein Verteidiger seine sehr schwierige Aufgabe zu lösen hoffte, indem er den Richtern und Geschworenen den Verbrecher als einen von wahnsinniger Mordsucht befallenen gefährlichen Kranken darzustellen bemüht war und so zu entschuldigen suchte, und nach Beendigung der Verteidigung Poullet noch gefragt wurde, ob er nichts mehr zu erinnern habe, sagte er, die Richter mit höhnischen Blicken übersehend: »Meine Herren, mein Verteidiger will meine Verbrechen auf Rechnung eines Wahnsinnes setzen, dem ist nicht so. Ich habe meine gesunde Vernunft so gut wie Sie und er und hätte gewünscht, dass er sich diese Mühe erspart hätte. Was meiner wartet, weiß ich, und bin über all dies im Reinen. Aber erlauben Sie mir, nicht zu meiner Verteidigung, wohl aber zu meiner eigenen Satisfaktion noch einige Worte zu Ihnen sprechen zu dürfen.«
Man bemerkte nun eine gespanntere Aufmerksamkeit auf allen Gesichtern der Versammlung und Poullet fuhr fort: »Was ich hier sagen werde, dient vielleicht dazu, unseren Gesetzgebern den Star zu stechen und sie auf Gesetze aufmerksam zu machen, die ebenso unsinnig wie unheilvoll sind, und welche die dringendste Abhilfe verlangen, wenn man nicht will, dass zuletzt die ganze Gesellschaft in Frankreich in diesen Abgrund versinken soll, aber unsere Schlafkammermützen haben ganz andere Dinge im …«
»Angeklagter, Ihr verliert die Achtung aus den Augen, die Ihr dem Gericht schuldig seid, und ich befehle Euch zu schweigen, wenn Ihr sonst nichts zu Eurer Verteidigung vorzubringen habt.«
» Nicht doch, man lasse ihn reden!«, ließ sich eine Stimme unter den Zuhörern vernehmen.
»Gendarmen, man bringe sofort den Menschen, der soeben gesprochen hat, aus dem Saal!«, befahl der Präsident.
Die Gendarmen wollten die erhaltene Ordre vollziehen, konnten aber den Sprecher nicht ausfindig machen.
»Poullet, fahrt in Eurer Rede fort«, ließ sich dieselbe Stimme vernehmen.
» Welche Unverschämtheit«, rief der Präsident, »Gendarmen, Ihr werdet sogleich dieses Individuum verhaften.«
Die Gendarmen bemühten sich abermals vergeblich.
»Der Herr Präsident selbst sowie die andern Herren vom Gericht werden die Güte haben zu schweigen, denn das Wort gehört dem Angeklagten.«
Alle, außer Poullet, hatten die Sprache verloren und Präsident, Richter, Generalprokurator etc. sahen sich betroffen einander an.
Poullet fuhr nun selbst etwas erstaunt fort: »Zuerst meinen Dank der mächtigen Stimme, die mir weiter zu reden erlaubt. Ich werde keinen Missbrauch von dieser Erlaubnis machen und in wenig Worten zusammenfassen, was mich zu dem machte, der ich bin, und was mich hierher brachte. Sie wissen bereits aus der Untersuchung, dass ich vierundzwanzig Jahre alt, nicht ganz ohne Vermögen, ein kleines Geschäft in Havre etabliert hatte. Das Geschäft machte gute Fortschritte, ich gewann durch einige glückliche Spekulationen nicht unbedeutende Summen, verheiratete mich mit einem untadelhaften Mädchen aus einer achtungswürdigen Familie, war ein glücklicher Gatte, bald darauf ein glücklicher Vater von mehreren liebenswürdigen Kindern. Noch ein paar Jahre ging alles vortrefflich, als sich auf einmal das Glück wendete und ich nicht imstande war, einige verfallene Wechsel, die ich ausgestellt hatte, und die ein paar Tausend Franken betrugen, einzulösen. Mein Kreditor war ein Pariser Bankier, ein Millionär, einer von jenen Parvenüs, welche die Beutelschneiderei so recht ins Große zu treiben wissen, indem sie Millionen, der gewinnsüchtigen Einfalt armer und dummer Teufel abgenommen, einzustecken verstehen und daher bei aller Welt, wenn auch nicht in großer Achtung, doch in großem Ansehen stehen und gewaltigen Einfluss haben. Einige Frist und Nachsicht hätten mich gerettet und in den Stand gesetzt, meine Verbindlichkeiten etwas später zu erfüllen, aber der Mann, wie alle seines Gelichters hartherzig, hochmütig, kein anderes Gefühl als für gemünztes Metall habend, verfolgte mich aufs Äußerste, beraubte mich meiner Freiheit und ließ mich acht Monate im Schuldgefängnis schmachten. Meine arme Frau und meine drei Kinder litten während dieser Zeit die bitterste Not. Was ich im Gefängnis, wo es mir ganz unmöglich war, ihnen die geringste Unterstützung oder Linderung zu verschaffen, litt, kann ich nicht beschreiben. Endlich gelang es mir durch einige Bekannte eine kleine Summe aufzutreiben, mit der ich einen Teil meiner Schuld an meinen harten Gläubiger entrichten konnte, der mich jedoch nur unter der Bedingung frei ließ, dass ich ihm für den Rest und die aufgelaufenen großen Verhaftungskosten nette Wechsel ausstellen musste. Aus dem Gefängnis entlassen, fand ich natürlich mein Geschäft zerrüttet, mein Kredit war dahin, meine arme Frau und zwei der Kinder kränkelnd. Indessen verlor ich nicht den Mut, arbeitete Tag und Nacht und hatte es bald wieder dahin gebracht, dass ich wenigstens die laufenden Kosten unserer dringendsten Bedürfnisse decken konnte. Aber die Verfallzeit der neuen ausgestellten Wechsel rückte heran und mit ihr nicht die entfernteste Aussicht, sie decken zu können. Jeder abgelaufene Tag vermehrte meine Angst, meine Sorgen und meine Pein, ich sah das Schuldgefängnis neuerdings vor mir offen, Frau und Kinder, kaum etwas erholt, zum zweiten Mal allem Elend und der Verzweiflung preisgegeben, in der sie diesmal untergehen mussten. Selbst die Verzweiflung im Herzen, griff ich in einem Augenblick, wo ich von Gott und den Menschen verlassen war, zu einem desperaten Mittel, machte einige falsche Wechsel, welche ich in Umlauf zu setzen wusste, indem ich hoffte, noch vor deren Ablauf sie auf irgendeine Weise einlösen zu können, und bezahlte mit dem mir auf diese Weise verschafften Geld die von mir dem Bankier ausgestellten. Aber die Sache kam an den Tag, noch ehe ich mir helfen konnte. Ich wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, auf die Galeere und zum Pranger verurteilt. In Toulon angekommen, schmiedete man mich mit einem der ausgefeimtesten Bösewichter, der schon Raub, Mord und alle mögliche Sünden auf seinem Gewissen hatte, zusammen. Was ich hier anfänglich ausstand, vermögen Worte nicht auszudrücken! In dumpfem Hinbrüten verrichtete ich alles, wozu man mich antrieb. Vergeblich versuchte mein beständiger Kettenkamerad mich durch seinen wilden Zynismus, Spott und Hohn aus meiner starren Betäubung zu bringen. Selbst Stöße und Schläge des Profoss mit seinem eisernen Stock, um meine Aufmerksamkeit für seine Befehle wach zu erhalten, brachte mich nicht aus meiner Apathie, bis ich eines Tages den Selbstmord meiner armen Frau und den kummervollen Tod zweier meiner Kinder erfuhr sowie dass man das dritte in eine Armenanstalt untergebracht hatte. Nun erwachte mit einem Mal alle meine Tatkraft wieder. Ich war für die Lehren, die mir mein Kettenkamerad und andere Galeerensklaven erteilten, nur zu empfänglich. Nur für ein Gefühl hatte ich noch Sinn, aber dieses nahm auch mein ganzes Wesen ein. Es war das der Rache, Rache gegen alles, was sich in menschlicher Hülle bewegte und regte. Auf der Galeere lernte ich nun nach und nach alle Kniffe, Ränke, die raffiniertesten Spitzbübereien, die frechsten und gewandtesten Kunstgriffe der vollendeten Gauner sowie alles, was zur Ausführung von Raub und Mord dienlich ist, kennen. Raub- und Mordlust und die Sucht, Verbrechen aller Art zu begehen, beseelte mich. Einstweilen gab ich mich allen fleischlichen Lüsten meiner experimentierten Kameraden hist. Zwei Jahre hatte ich bereits die Ketten geschleift, noch sechs Jahre sollte ich sie tragen, als es meinem Kettenkameraden gelang, uns beide zu befreien. Dem Arsenal entsprungen, versteckten wir uns in der Mansarde einer liederlichen Dirne, mit der sich mein Gefährte schon vor unserem Entweichen in Verbindung gesetzt hatte. Sie verschaffte uns Kleider und Blusen, wir machten uns auf den Weg nach Lyon, unterwegs schon meine auf der Galeere zu Toulon erworbenen Talente mithilfe meines Begleiters erprobend und mit Glück anwendend, sodass ich schon mit nicht unbedeutenden Mitteln in Paris ankam und hier meine auf jener Hochschule erworbenen Kenntnisse mit einer wahren Virtuosität und mit einem Hochgefühl wollüstiger Rache ausübte. Der Kanal St. Martin verschlang manches meiner Opfer. Lange passte ich dem sich in Millionen wälzenden Beutelschneider auf, dem ich das Glück meiner jetzigen Karriere verdankte, ohne so glücklich zu sein, ihm meine Dankbarkeit tätlich beweisen zu können. Als ich eben mit der Ausführung eines in dieser Absicht trefflich kombinierten Plans begriffen war, fiel ich wegen eines erbärmlichen Diamantendiebstahls vermittelst Einbruchs der löblichen Justiz wieder in die Hände und wanderte einige Monate später zum zweiten Mal auf die Galeere. Nach einem Jahr, indem ich noch gar manches zur Vervollkommnung meines Handwerks lernte, gelang es mir abermals zu entwischen. Durch die Dummheit eines meiner Spießgesellen wieder eingefangen, besuchte ich zum dritten Mal eine dieser westlichen Lehranstalten unseres, die Parteilichkeit des Schicksals rächenden Gewerbes, und zwar die zu Brest. Aber auch diese verließ ich nach etwa zehn Monaten wieder und habe seitdem in dem Departement meiner Heimat mehrere Jahre mein Handwerk mit Erfolg ausgeübt, Paris nur manchmal einen Besuch abstattend, die zu genaue Bekanntschaft mit der dortigen hohen Polizei fürchtend, bis mich endlich vor einigen Monaten mein völlig gelungener Handstreich bei Honfleur in eure Gewalt brachte.
Und nun, meine Herren Richter, die Ihr freilich nur die vollziehenden Maschinen einer unsinnigen Gesetzgebung seid, nur noch ein paar Worte zu Euch, die Ihr mit Stolz und Verachtung auf ein Scheusal wie mich herabseht. Es ist wahrlich nicht Eure Schuld, dass sich nicht ein jeder von Euch und all den hier Anwesenden an meiner Stelle befindet. Mit meinen Anlagen geboren in meinen Verhältnissen, und wie ich vom Schicksal und von unsinnigen Gesetzen verfolgt, würdet Ihr wohl denselben Weg eingeschlagen haben und es würde auch Euch mein Ende erwarten. Darum lasst Euren mir lächerlichen Amtsstolz fahren, Ihr seid Staub und Kot wie ich ein wenig früher oder später von Würmern gefressen oder die Asche in den Wind gescheut. Das ist kaum eines Achselzuckens wert, lächerlich ist mir jüngst die dumme Eitelkeit aller Menschen. Der Unterschied vom Thron zum Hospital, vom Millionär zum nächtlichen Lumpensammler ist keine Nadelspitze groß, ebenso unter der Guillotine sterben oder auf Polsterkissen den Geist aufgeben. In weniger als einem halben Jahrhundert sind alle, die jetzt hier versammelt sind, wie weggeblasen, und wer bekümmert sich noch darum, ob sie jemals geatmet, in vergoldeten Salons geschwelgt, in samtenen Thronbetten ihren Lüsten gefrönt oder in Hütten und Höhlen, was im Grund alles gleichviel ist. Was meiner jetzt wartet, weiß ich und bin längst darauf gefasst. Aber ich trotze dem Tod, wie ich Euren Gesetzen trotze, ich verfluche die Stunde meines Werdens wie die Tage meines Daseins, ich verfluche die, welche mich gezeugt und geboren haben, sowie den Urheber alles Seins, wenn es einen gibt, und …«
» Oho!«, ließ sich nun die Stimme aus der Menge wieder hören, »nun ist es genug. Herr Präsident, tun Sie Ihre Schuldigkeit.«
Als diesem und den Richtern die Sprache wieder geworden war, wurden die Geschworenen eingeladen, sich in das Beratungszimmer zu begeben, aus dem sie nach wenigen Minuten zurückkamen, und einstimmig ihr schuldig aussprachen.
Als dem Verbrecher das Todesurteil verkündigt worden war, rief er mit vernehmbarer und fester Stimme aus: »Narren, die sich auf das Lustspiel meiner Hinrichtung freuen, sie machen die Rechnung ohne den Wirt. Lebendig besteige ich das Schafott nicht.«
In den für die zum Tode Verurteilten bestimmten Kerker gebracht, klagte der arme Sünder gewaltig über Durst. Man brachte ihm, was er zu trinken begehrte, nämlich einen großen Kübel voll Wasser, legte ihm jedoch die Zwangsjacke an. Er trank fast unaufhörlich und leerte wenigstens ein Dutzend Wasserkrüge.
Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr stürzte er leblos nieder.
Bei näherer Untersuchung fand man, dass ihm die Harnblase geplatzt war.
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