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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Arzt auf Java – Dritter Band – Kapitel 6

Alexander Dumas d. Ä.
Der Arzt auf Java
Ein phantastischer Roman, Brünn 1861
Dritter Band
Kapitel 6

Die Entführung

Der Lärm dauerte nicht lange. Das Feuer, welches gleich bei dem Entstehen entdeckt und kräftig angegriffen wurde, hatte keine Zeit, sich auszubreiten, und wurde beinahe augenblicklich gelöscht. Allmählich verödete der Garten des Hauses van der Beeks wieder, und Herr Maes in Person zeigte Esther an, dass alles zu Ende sei.

Das Gesicht des dicken Notars war purpurrot, als er in das Zimmer Esthers trat. Sein weißer Rock, mit Schlamm bespritzt und ganz nass, bewies, dass er einen tüchtigen Anteil bei der Rettung des Hauses genommen hatte. Er war ganz außer Atem und ließ sich mehr auf einen Stuhl niedersinken, als dass er sich darauf setzte. Er machte den Anfang damit, sich Luft mit seinem Hut zuzufächeln, indem Madame van der Beek begierig nach den ihr verkündeten Mitteilungen in ihn drang, sich zu erklären, denn ihr ahnte, dass seine Nachrichten in Beziehung auf ihren Mann stehen würden.

»Ach, aus Barmherzigkeit, schöne Dame, erlauben Sie, dass ich zu Atem komme und mich dieser verwünschten Ausrüstung entledige, die mich erstickt. Ich möchte, der Teufel holte die verwünschten Eingebornen«, fuhr er fort, indem er eine der Pistolen, die seinen Gürtel schmückte, zu Boden warf, und zwar mit solcher Heftigkeit, dass Esther und ihre Frauen, die sich nach der Entfernung Harruchs zu ihr geflüchtet hatten, darüber erschraken. »Seien Sie ganz ruhig, Madame«, sagte der Notar, welcher die Bewegung des Schreckens bemerkte, »sie sind nicht geladen, sondern nur ein Luxusartikel. Aber begreifen Sie es denn, Madame, dass diese eingefleischten Teufel uns zwingen, das verwünschte Geschäft der Nachtwächter zu übernehmen, und zwar Gott weiß unter welchem Vorwand des Patriotismus und der javanischen Unabhängigkeit, während es doch so süß und so bequem ist, mit dem Glas in der Hand in dem chinesischen Campong zu fraternisieren. Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals mich geweigert habe, mein Glas mit dem eines dieser safranfarbigen Dummköpfe anzustoßen! Was verlangen sie denn? Was wollen sie denn?«

Esther glaubte, es würde klüger sein, dem dicken Notar die Zeit zu lassen, den Zorn auszuschütten, der ihn zu bedrücken schien, und ihn dann erst auf das Kapitel zu bringen, welches die arme Frau so interessierte. Sie richtete daher an Herrn Maes einige Fragen über die politische Lage Weltevredes. Der Notar, der viel mitteilender als der Gouverneur von Gavoet gewesen war, teilte Madame van der Beek mit, dass die Regierung schon seit längerer Zeit Zweifel über die Ergebung gehegt hätte, mit welcher die Javanern das Joch der Fremden trugen. Eine anonyme Anzeige hatte die Vermutungen bestärkt und die Berichte der in das Innere gesendeten Agenten bestätigten sie. Der Malaie Noungal, der Rajah Thsermai und der Chinese Ti-Kai wurden als die Häupter einer Verschwörung bezeichnet, deren Ziel es war, die Europäer auszurotten und die eingeborenen Fürsten wieder einzusetzen. Man war zu der Entscheidung gekommen, den Chinesen zu verhaften. Dieser hatte mit der Schwäche und der Feigheit, die seiner Nation eigentümlich sind, Geständnisse gemacht, die man als sehr wichtig bezeichnete. Allein der Malaie und der javanische Fürst hatten, der eine auf dem Meer, der andere in dem Gebirge, einen starken Rückhalt. Solange man ihrer nicht habhaft geworden war, musste man befürchten, dass sie dahin gelangten, ihre Aufstandspläne auszuführen.

So wichtig diese Nachrichten auch waren, hörte Madame van der Beek sie dennoch mit einer gewissen Ungeduld an.

»Und Eusebius?«, fragte sie, als der Notar seiner Mitteilung als Schluss einen Fluch hinzugefügt hatte. »Was wissen Sie Neues von meinem Mann?«

Herr Maes deutete mit einem Augenblinzeln auf die Dienerinnen, die in dem Zimmer geblieben waren, und Esther beeilte sich, sie zu entfernen.

»Madame«, rief Herr Maes, sobald die Letzte der Frauen verschwunden war, heftig aus, »Madame, es wird mir schwer, das Andenken eines Mannes anzuklagen, der meinem Kontor große Summen eingetragen hat. Bei der Ausübung meines Amtes würde ich mir eine solche Anspielung nicht gestatten, aber in dieser Kleidung der Freiheit und der Aufrichtigkeit halte ich mich für verpflichtet, Ihnen zu erklären, dass Ihr Onkel Basilius ein abscheulicher Schuft war.«

»Aus Barmherzigkeit, Herr Maes, sprechen Sie von Eusebius!«

»Ein wahrer Schuft, Madame; ich kann meine Worte nicht zurücknehmen. Man bereichert nicht einen Menschen, um ihn dann wieder auszuplündern. Ich weiß wohl, dass er für sich anführen kann, es wären nur drei gewesen und er hatte die Welt noch hinlänglich genug mit Mädchen gleicher Art bevölkert zurückgelassen. Aber das gilt gleich. Die Anziehungskraft der verbotenen Frucht, der Zufall – kurz, Madame«, fuhr Herr Maes fort, der in Verlegenheit zu geraten begann, »mit einem Wort werde ich Ihren Gemahl rechtfertigen. An seiner Stelle, in seiner Lage, würde ich, der königliche Notar, vielleicht nicht tugendhafter gewesen sein, wie er es war.«

»Wahrlich, Herr Maes«, entgegnete Esther, »ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen.«

»Zum Teufel«, erwiderte der Notar, dessen Gesicht eine immer größere Verlegenheit verriet, »es ist nur, weil ich fürchte … weil ich besorge … weil mir scheint … es ist das ganze Zartgefühl eines Notars erforderlich, um einer Frau eine solche Mitteilung zu machen. Wahrlich, Madame van der Beek«, fügte er hinzu, indem er heftig aufstand. »Sie werden die Güte haben, morgen auf mein Kontor zu kommen; die weiße Krawatte wird mich inspirieren.«

»Ach, mein Herr«, sagte die junge Frau, indem sie bittend die Hände faltete, »seit vierzehn Tagen leide ich; seit vierzehn Tagen erwarte ich ein Wort der Hoffnung. Sie können mir nicht noch eine Nacht der Marter mehr auflegen wollen.«

Herr Maes nahm seinen Platz wieder ein, spielte mit den Zipfeln des Madrastuches, das er als jugendliche Halsbinde umgeschlungen hatte, hustete, schloss seine großen Augen, als wollte er sich das Schauspiel der Wirkung ersparen, welches seine Mitteilung hervorbringen würde, und sagte dann mit ernster Stimme: »Es handelt sich um das Kodizill.«

»Um das Kodizill?«

»Ach, ja wohl, um das Kodizill«, erwiderte der Notar mit finsterer Stimme. »Einmal schon willigte ich ein, Herrn van der Beek dabei zu unterstützen, Ihnen die erste Lücke zu verhehlen, die in sein Vermögen gemacht worden war; aber jetzt ist das ganz unmöglich, ungeachtet der ehemännischen Kameradschaft, die ich für ihn hege, denn es handelt sich um 600.000 Gulden, die den anderen 600.000 hinzuzufügen sind, welche das Trio der Schelminnen, die der alberne Basilius bezeichnete, bereits verschlungen hat.«

»Nun, Herr Maes«, sagte Esther, deren Aufregung sich weit mehr durch den schmerzhaften Ausdruck ihres Gesichts verriet, als durch den Klang ihrer Stimme, die fest und ruhig blieb, »dann muss gezahlt werden.«

»Gezahlt werden!«, rief der Notar, indem er von seinem Platz in die Höhe sprang. »Madame, gestatten Sie mir, Ihre Nachsicht und Ihre Ergebung zu bewundern! Wollte Gott, dass das Beispiel zwei so großer Tugenden für die würdige Madame Maes von Nutzen sei. … Gezahlt werden! … Aber erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, dass Sie etwas rasch verfahren. Als ich die 600.000 Gulden für das Mädchen, welches sich eine Friesin nannte, bezahlte, hatte ich die Vollmacht ihres Mannes, aber diesmal sah ich nur noch eine Art von Schiffskapitän, der mehr wie ein Pirat als wie etwas anderes aussieht, und der, indem er mir mitteilte, dass die zweite Eventualität, die das Kodizill angenommen hatte, eingetreten sei, weiter kein Zeugnis für seine Behauptung beibrachte, als diesen silbernen Ring, der zwar den Namen Ihres Mannes und Ihren eigenen enthält, der aber dennoch keinen hinreichenden Anspruch zu begründen scheint.«

Indem Herr Maes diese Worte sprach, zog er aus seiner Weste einen kleinen silbernen Ring und überreichte ihn Esther. Diese nahm ihn aus den Händen des Notars und betrachtete ihn aufmerksam.

Es war der Ring, den sie bei ihrer Trauung an Eusebius gegeben hatte, ein bescheidenes Pfand, welches die beklagenswerte Frau zugleich an ihre damalige Armut und an ihre Liebe erinnerte. Sie hatte den ähnlichen Ring am Finger.

Sie zog den, welchen der Notar ihr überreicht hatte, an ihre Lippen, und zwei große Tränen rannen schweigend über ihre Wangen. Herr Maes schnaubte sich sehr laut; eine Rührung, welche ebenso wenig zu seinem Character als Lebemann wie zu seiner Würde als Mann des Gesetzes passte, begann sich seiner zu bemächtigen.

»Wahrlich«, sagte er mit dem Ton des überzeugten Moralisten, »wir Taugenichtse sind zuweilen sehr strafbar; aber um auf den Gegenstand zurückzukommen, der uns beschäftigt, muss ich Ihnen sagen, Madame, dass Sie unrecht hatten, dem Schein allzu viel Glauben beizumessen. Vielleicht versucht man uns zu hintergehen; vielleicht ist Ihr Mann ebenso unschuldig wie ihr gehorsamer Diener.«

»Sie müssen bezahlen«, sagte Esther mit dem Ton der unbedingten Ergebung. »Es hieße lügen, wollte ich Ihnen die Versicherung geben, dass die Mitteilungen, die Sie mir machten, meine Seele nicht mit Unruhe erfüllten; aber Sie dürfen mir dennoch glauben, Herr Maes, dass der Verlust von diesem Teil der Erbschaft meines Onkels Basilius mir nicht das geringste Bedauern einflößt. Ich würde mit Vergnügen darauf verzichten, wüsste ich, dass ich dadurch das Glück und die Ruhe meines teuren Eusebius sicherte. Ich wiederhole Ihnen, dass Sie diese Summe dem, der sie beansprucht, auszahlen müssen, nur behalte ich diesen Ring.«

»Ehe ich einen Entschluss fasste, würde ich an Ihrer Stelle warten, Madame, bis ich Herrn van der Beek wiedergesehen hätte.«

»Eusebius wiedersehen! Ist denn das möglich?«, rief Esther, indem sie aus dem schweigenden Schmerz in eine heftige Aufregung überging. »Man hat mich also nicht getäuscht? Er lebt?«

»Zum Henker, glauben Sie denn Madame, dass die Meerzigeuner die Haifische mit gemünzten Gulden füttern? Bedenken Sie doch, dass Ihr Mann ein gewaltiges Lösegeld repräsentiert, und Sie können ebenso gewiss überzeugt sein, wie ich selbst es bin, dass er in diesem Augenblick von denen, die ihn gefangen halten, mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt überhäuft wird. Man behauptet, dass diese Banditen sich an Bord ihrer Proas die wunderbarsten Zerstreuungen zu bereiten wissen. Auf mein Wort, ich möchte an der Stelle des Herrn van der Beek sein.«

»Aber«, rief Esther, welche nur mit Ungeduld die Abschweifungen des Notars zu ertragen schien, »ist denn das Lösegeld bestimmt? Dann müsste auf der Stelle daran gedacht werden, es aufzubringen.«

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, Madame, und hören Sie mich an. Das Lösegeld ist noch nicht bestimmt, aber wir werden es bald genug erfahren. Ich hatte soeben Ti-Kai verlassen, denn der dicke Chinese ist noch nicht im geheimen Verwahrsam. Er teilte mir mit, dass das öffentliche Gerücht behauptet, Herr van der Beek sei der Gefangene der Meerzigeuner. Ich kehrte daher sehr beunruhigt nach Hause zurück, als einer meiner Schreiber mir ein Pergament übergab, welches er unter der Tür meines Schreibzimmers gefunden hatte. Es stand darauf geschrieben: Madame van der Beek wache während der Nacht, die auf ihre Ankunft in Batavia folgen wird. Sie begleite allein den Menschen, der dreimal an die Tür ihres Hauses klopfen wird. Die Tage ihres Mannes hängen von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit ab.«

»Die Nacht, welche auf meine Ankunft in Weltevrede folgt?«

»Ja, eben diese, und man kann sie nicht beschuldigen, dass Sie nicht pünktlich die Bestimmung dieser geheimnisvollen Schrift erfüllt hätten; aber die Piraten sind minder pünktlich gewesen wie wir. In einigen Stunden bricht der Tag an und Sie haben noch keine Nachrichten von denselben.«

Als hätte man die Worte des Notars abgewartet, um darauf zu antworten, flog in diesem Augenblick ein Stein durch das Fenster, zerschlug eine Scheibe und rollte auf die Matten, die den Fußboden bedeckten.

Esther bückte sich, hob den Stein auf und wickelte von demselben einen kleinen Streifen Pergament ab, der mit Kokosfäden darum gebunden war. Auf dem Pergament stand das einzige Wort: Antyol.

»Antyol! Was bedeutet das?«, fragte Madame van der Beek überrascht.

»Es ist ein Dorf hinter den Magazinen Batavias. Die Wohnung Ihres Onkels lag auf dem Boden dieses Dorfes.«

»Was hat dieses Dorf mit den Piraten gemein?«

»Vielleicht will man sagen, wenn Sie nach Antyol gehen, so werden Sie dort den finden, den Sie erwarten sollen.«

Bei dieser Äußerung des Herrn Maes nahm Madame van der Beek den Mantel und warf ihn um.

»Was wollen Sie tun?«

»Nach Antyol gehen«, erwiderte Esther einfach.

»Was fällt Ihnen ein! Antyol liegt am Ufer des Meeres im Bereich der Proas, dieser Teufel. Es ist vielleicht eine Falle, die man Ihnen legt.«

»Es hängt vielleicht auch die Rettung meines Eusebius davon ab und ich darf daher nicht zögern. Nimmt man mich gleich ihm gefangen, so bin ich doch jedenfalls bei ihm und kann sein Los teilen und mildern.«

Herr Maes erhob die Arme zum Himmel mit einem Ausdruck, der zugleich Bewunderung und Verwunderung bezeichnete.

»Gestatten Sie mir wenigstens«, sagte er, »dass ich auf die Wache gehe. Ich werde meine braven Milizen mit mir nehmen. Mit ihrer Hilfe gelingt es uns sicher, den Boten dieser kecken Schufte zu ergreifen, vielleicht sogar einige der Piraten selbst. Wenn wir sie haben, wird die ehrenwerte Kompanie wohl wissen, Ihren Mann zu sichern, ohne dass Sie Ihr Leben wagen.«

»Hüten Sie sich wohl vor einem solchen Schritt, denn Sie könnten dadurch leicht meinen Mann in Gefahr bringen.«

»So gestatten Sie wenigstens, dass ich Sie begleite.«

»Bis auf hundert Schritt von dem Dorf Antyol, weiter nicht. Sie haben selbst gesagt, Herr Maes, dass die, welche mich rufen, verlangen, ich soll allein kommen. Ich erwarte zu viel von ihrem guten Willen, um ihren Befehlen entgegen zu handeln.«

»Aber das ist Wahnsinn!«, rief Herr Maes, indem er die Waffenstücke, deren er sich entledigt hatte, eines nach dem anderen wieder anlegte.

»Nein, Herr Maes, das ist Klugheit. Nachdem, was ich von den Sitten und Gewohnheiten derer, die Sie die Meerzigeuner nennen, erzählen hörte, wäre die Regierung, angenommen selbst, dass sie glaubte, die Befreiung eines Privatmannes lohne der Mühe, ihre Flotten auslaufen zu lassen, ohnmächtig, ihren Willen den Banditen aufzwingen, welche die Meere mit ihren Proas bedecken und in den tausend Schluchten des Indischen Ozeans sichere Zufluchtsstätten finden. Nur meine Fügsamkeit allein kann meine Feinde entwaffnen. Was können sie fordern, was ich nicht bereit wäre, ihnen zu gewähren, um Eusebius ihren Händen zu entreißen? Mein Vermögen werde ich ihnen selbst anbieten, und was mein Leben betrifft, so wird mein Schritt selbst ihnen beweisen, dass ich bereit bin, es zu opfern.«

Betäubt durch diese großmütige Ergebenheit und diesen kräftigen Willen ließ Herr Maes den Kopf sinken und antwortete nicht.

»Jetzt, Herr Maes«, nahm Esther wieder das Wort, »wenn Sie so gut sein wollen, mir den Dienst zu leisten, bis nach Antyol mein Führer zu sein, so halten Sie sich dazu bereit. Ich verlange nur so viel Zeit, um mein armes Kind an die Brust zu schließen; dann gehen wir.«

Esther beugte sich über die Wiege, in welcher das unschuldige Geschöpf lag. In diesem Augenblick triumphierte der Gedanke, dass dieser Kuss vielleicht der letzte sei, den Gott ihr gestattete, in dieser Welt dem süßen Pfand ihrer Liebe für Eusebius zu geben, über jeden Entschluss, den sie in ihrem Herzen gefasst hatte. Die Schwäche des Weibes, der Mutter, zeigte sich. Heftiges Schluchzen entrang sich ihrer krampfhaft bewegten Brust und Tränen fielen als heißer Tau auf das Gesicht des Kindes. Sie streckte die Arme aus, um es an ihre Brust zu drücken; aber sie hatte noch so viel Kraft, zu überlegen, dass das kleine Wesen dadurch seinem friedlichen Schlafe entrissen werden müsste. Sie fand den Mut, ihrer Zärtlichkeit das höchste Opfer aufzuerlegen, streifte mit ihren Lippen die Stirn ihres Kindes, rief ihre Frauen, empfahl ihnen das kostbare Pfand, das sie ihrer Sorgfalt anvertraute und eilte hinaus, ohne einen Blick rückwärts zu werfen.

Herr Maes folgte ihr. Aber Esther ging so rasch, dass er sich gezwungen sah, zu laufen. Hätte die junge Frau nicht mehrmals stehen bleiben müssen, um ihn nach dem Weg zu fragen, so würde er sie bald aus dem Blick verloren haben.

Sie gingen über den Waterloo-Platz, durch die Straße von Rystevelden und erreichten eine Chaussee, welche der geradeste Weg war, der nach Antyol führte.

Während des Ganges verdoppelte Herr Maes seine Bitten und Vorstellungen, um Madame van der Beek von ihrem Entschluss abzubringen. Diese aber antwortete ihm damit, dass sie ihn bat, für ihr Kind zu sorgen, und ihm ihre Wünsche mitteilte, für den Fall, dass weder Eusebius noch sie zurückkehren sollten.

So gingen sie ungefähr eine Viertelstunde. Das Rauschen des Meeres, welches seine Wogen auf die Küste wälzte, und das bisher nur als dumpfes Gemurmel sich hörbar gemacht hatte, wurde nun deutlicher. Bald erblickten sie das Minarett der Moschee von Antyol, das sich schwarz gegen den Hintergrund des Himmels abzeichnete, welcher sich gegen Ostens mit grauen rotumsäumten Wolken zu färben begann. Sie waren dem Ziel ihres Ganges nahe. Madame van der Beek wandte sich entschlossen zu ihrem Begleiter um und sagte: »Hier müssen mir uns trennen, Herr Maes; empfangen Sie meinen Dank für die Teilnahme, die Sie mir bewiesen, und dann auch für die Mühe, die Sie sich gaben, mich so weit zu begleiten.«

»Sie verlassen! Ich will nie etwas anderes als Wasser trinken, wenn ich mich dazu entschließe!«, entgegnete Herr Maes, indem er einen Fluch hinzufügte. »Sie kennen den nicht, mit dem Sie sprechen, wenn Sie glauben, er wäre fähig, eine Frau in einer Lage, wie die Ihre ist, zu verlassen. Das würde vielleicht ein Notar tun, wenn diese Frau seine Klientin wäre, aber dergleichen Dinge müssen Sie niemals einem Lebemann zumuten.«

»Herr Maes, ich beschwöre Sie, machen Sie eine Ergebenheit nicht nutzlos, die Sie soeben weit über Verdienst bewunderten.«

Madame van der Beek wurde durch das Geräusch von Schritten unterbrochen, die auf der Chaussee ertönten. Ihre Augen, so wie die des Herrn Maes, wendeten sich der Richtung zu, aus der das Geräusch kam, und entdeckten eine weiße Gestalt, die von der Seite von Antyol her aus dem Schatten hervortrat.

»Wer da?«, rief der tapfere Notar, ohne auf die Bitten zu achten, welche seine Gefährtin an ihn richtete.

Die Gestalt antwortete nicht, kam aber näher.

Herr Maes zog mit der rechten Hand seinen Degen, während er mit der linken eine Pistole aus dem Gürtel nahm und den Hahn mit ebenso großer Entschlossenheit spannte, als ob der Lauf alle Blitze Jupiters enthalten hätte.

»Keinen Schritt weiter vorwärts, ohne mir geantwortet zu haben!«, rief er dann. »Die Dame hier ist Madame van der Beek, deren Mann durch die Meerzigeuner gefangen gehalten wird. Ich bin Herr Maes, königlicher Notar, ihr Ratgeber und ihr Freund. Macht Ihr, Kamerad, uns nun auch mit Eurem Namen und Euren Absichten bekannt.«

Bei dem Namen Esther blieb der Unbekannte plötzlich stehen.

»Sie komme!«, sagte er auf Holländisch, doch mit einem scharfen javanischen Akzent.

Madame van der Beek tat einen Schritt vorwärts, doch Herr Maes ergriff sie beim Arm und zwang sie, bei ihm zu bleiben.

»Verzeiht, mein lieber Herr«, fuhr er fort, »aber man entführt die holländischen Damen nicht so leicht aus Batavia, wie ihre Männer aus den Einsamkeiten des Taikoekoie. Die Madame wird gehen, wohin es Ihnen beliebt, sie zu führen, aber sie hofft, dass es Ihnen gefällig sein wird, als Dritten in der Gesellschaft Ihren gehorsamen Diener anzunehmen, der, wenn er auch nicht so anmutig ist wie die, welche Sie zu suchen kamen, sich deshalb nicht minder dankbar für die Ehre erzeigen wird, die Sie ihm antun wollen.«

»Unmöglich!«, erwiderte der Unbekannte kurz. »Kehren Sie zurück.«

»Tausend Brander!«, erwiderte Herr Maes mit lautem Lachen. »Sie kennen mich nicht, mein lieber Herr. Ich bin hartnäckig wie zehn Maultiere. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, eine Fahrt auf dem Gebiet der Meerzigeuner zu machen, mich zu überzeugen, ob ihr Arak so gut ist, wie der, welchen Pater Thornhipp uns bei Mynheer Cornelis verkauft, ob ihre Bedajas so herausfordernde Blicke haben, wie die unserer Chinesinnen im Campong, und ob es wahr ist, dass man bei ihnen einen Vorgeschmack von den Genüssen der Hölle finden kann. Die Madame lässt Ihnen einen Arm frei, und Sie weigern sich, ihn mir zu bieten! Nun, mein lieber Herr, so werde ich mich in den Stand setzen, Ihnen meine Gesellschaft aufzuzwingen.«

Indem Herr Maes diese Worte sprach, verließ er Esther, der er riet, sich zu entfernen, nahm seine Pistolen beim Lauf, um sich ihrer wie eines Schlägels zu bedienen, schwang seinen Säbel und stürzte sich auf seinen Gegner mit einem Ungestüm, der bewies, dass der würdige Notar in den Adern die erforderliche Dosis Reizbarkeit hatte, um einen Helden aus ihm zu machen.

Der Unbekannte schien ihn mit festem Fuß zu erwarten. Als aber Herr Maes nur noch zehn Schritt von ihm entfernt war, flog eine Art weißlicher Wolke durch die Luft und ließ sich auf den Kopf des Notars nieder, der seine Gurgel von einer gewaltigen Schlinge zusammengeschnürt fühlte, einen dumpfen Ton ausstieß, und zu Boden schlug.

Der Unbekannte hatte gegen ihn eines jener leichten Netze geschleudert, deren sich die Netzfechter der Römer in den Kämpfen des Zirkus gegen die Gallier bedienten, und deren Tradition durch die Parsis auf einige Völkerschaften Indiens und Malaysias übergegangen ist.

Sobald sein Feind am Boden lag, stürzte der Unbekannte auf ihn zu, und Esther sah bei dem anbrechenden Tageslicht die Klinge eines Dolches funkeln.

»Gnade, Gnade für ihn!«, rief sie voll Angst, »wenn Sie wollen, dass ich Ihnen voller Vertrauen folgen soll, so färben Sie den ersten Schritt, den ich mit Ihnen zu tun habe, nicht mit Blut.«

Der Mensch zögerte; er schien nur mit Mühe über seine blutdürstigen Instinkte zu triumphieren.

»Es sei!«, sagte er endlich. »Ich werde die Bitten der himmelblauen Augen erfüllen.«

Darauf nahm er seinen Kris zwischen die Zähne, ließ den Kopf des Holländers von dem Netz umschlungen und band ihm die Füße und die Hände mit der Schnur, die ihm dazu gedient hatte, seine furchtbare Waffe zu schleudern. Herr Maes setzte ihm einen wütenden Widerstand entgegen. Er versuchte es, jedoch vergebens, sich von den tausend Schlingen, die ihn umgaben, loszumachen. Seine Anstrengungen, unterdrückt durch eine Kraft, die größer war, als die seine, dienten nur dazu, seine Fesseln fester anzuziehen, und bald war ihm jede Bewegung unmöglich gemacht.

Nun nahm der Unbekannte ihn auf die Schultern, trug ihn zum Rand der Chaussee und ließ ihn hier ohne große Vorsicht in den mit Wasser gefüllten Graben niederfallen.

»Bleibe da bis zum Anbruch des Tages«, sagte der Sieger des unglücklichen Notars, »und danke deiner Landsmännin, denn ohne sie würde ich eine andere Rache für die Schmähungen genommen haben, die du bei Mynheer Cornelis gegen mich ausstießest und für die ich dir die Strafe verhieß.«

»Thsermai!«, rief Herr Maes, der bei diesen letzten Worten den Rajah erkannte, dessen Züge er bisher nicht deutlich hatte erkennen können. »Madame van der Beek sehen Sie sich vor; dieser Mensch ist ein Verräter und auf seinen Kopf wurde ein Preis gesetzt. Vertrauen Sie seinem Wort nicht; er ist der arglistigste Schuft, den ich kenne.«

Aber Esther konnte ihn nicht verstehen, die Maschen des Netzes erstickten die Stimme des Herrn Maes. Überdies hatte Thsermai die Hände der jungen Frau ergriffen und zog sie schnell in der Richtung zum Dorf mit sich fort.

Dreißig Schritte von dem Haus entfernt, sprang er über den Graben und reichte Madame van der Beek die Hand, indem er ihr ein Zeichen gab, ihm zu folgen.

Esther zögerte. Was soeben zwischen Herrn Maes und diesem ihr unbekannten Mann vorgefallen war, hatte ihre Seele mit Unruhe und Angst erfüllt. Ihr Entschluss war noch derselbe, aber indem sie sich so der Gnade dieses Eingeborenen im Kriegsgewand preisgegeben sah, dessen Augen in wildem Feuer funkelten, bemächtigten Schrecken sich ihres Herzens. Sie war nicht imstande, ihre Furcht ganz zu unterdrücken.

Thsermai sah ihr Zögern und zog seine Hand zurück.

»Es steht Ihnen frei, Madame, mir zu folgen oder umzukehren. Entschließen Sie sich aber zu dem Letzteren, so klagen Sie sich nur selbst für die Tränen an, die Sie dann zu vergießen haben möchten.«

Sie befanden sich einem dichten Tamarindengebüsch gegenüber, dessen biegsame Zweige und glänzende Blätter von dem Wind geschaukelt wurden. Thsermai bog mit der größten Galanterie die Zweige zurück und bat Esther, in das Gebüsch einzutreten. Im Schatten der Tamarinden standen zwei gesattelte und gezäumte Pferde, welche die Erde ungeduldig mit ihren Hufen stampften. Eines dieser Pferde war offenbar für Esther bestimmt, denn es trug einen Damensattel.

»Wollen Sie mir gestatten, Sie auf das Pferd zu heben, Madame?«, fragte Thsermai seine Begleiterin. Ohne ihre Antwort abzuwarten und als fürchtete er neues Zögern, hob er zugleich die junge Frau empor, setzte sie auf das Pferd, machte die Zügel der beiden Tiere los und schwang sich selbst mit bewundernswerter Gewandtheit in den Sattel. Aber während der wenigen Sekunden, die sie in den Armen Thsermais zubrachte, hatte Eusebius’ Frau auf ihrem Gesicht den heißen Hauch des Javanern gefühlt und die heftigen Schläge seines Herzens, welche auf eine eigentümliche Weise gegen den achtungsvollen Ton seiner Worte abstachen. Sie fühlte dadurch alle ihre Besorgnis zurückkehren.

»Können Sie mir sagen, wohin wir gehen, mein Herr?«, fragte sie.

»Ich sehe kein Hindernis, Ihren Wunsch zu erfüllen, Madame; indessen bricht der Tag an, die Stunde der Flut rückt näher und wir haben auf schlechten Wegen noch mehrere Meilen zurückzulegen, ehe wir die Barke erreichen, die uns zu Herrn van der Beek bringen soll. Wir könnten daher eine kostbare Zeit auf nutzlose Reden verschwenden.«

»Ich werde Sie nicht mehr belästigen, mein Herr, und Ihnen blind folgen, wohin es Ihnen gefällt, mich zu führen.«

»So brechen wir denn auf«, sagte Thsermai, welcher den Zügel von dem Pferd Esthers ergriff, dem seinen die Spitzen der maurischen Steigbügel eindrückte und beide vorwärts zu treiben versuchte. Aber Esther zog so heftig an den Zügeln, die sie nicht losgelassen hatte, dass ihr Pferd, nach verschiedenen Richtungen gezogen, sich bäumte, mit den Vorderfüßen in die Luft schlug und nicht von der Stelle wich.

»Nein, mein Herr«, sagte sie, »ich habe mein Leben in Ihre Hände gegeben, doch es gibt noch ein anderes Pfand, das ich Ihnen anzuvertrauen zögere, weil es mir teurer ist als das Leben. Sie sind Muselmann, schwören Sie mir daher bei Ihrem Propheten, dass meine Ehre bei Ihnen keine Gefahr läuft, und ich bleibe furchtlos an Ihrer Seite.«

Nun war an Thsermai die Reihe, verlegen zu zögern.

»Es handelt sich darum, zu wissen«, sagte er endlich, »ob Sie mit mir kommen wollen oder nicht, um über die Freilassung dessen zu verhandeln, den die, deren Abgeordneter ich nur bin, in ihrer Gewalt haben.«

»Leisten Sie diesen Eid, mein Herr«, erwiderte Esther, welcher die Verwirrung des Javanern eine neue Kraft verlieh, »leisten Sie diesen Eid, der Sie gewiss nichts kosten kann, oder ich tue keinen Schritt weiter.«

Statt aller Antwort riss der Rajah mit Gewalt die Zügel aus den Händen der jungen Frau, stachelte ihr Pferd mit der Spitze seines Kris, den er heimlich gezogen hatte, trieb zugleich sein eigenes an, drang durch das Gebüsch und jagte dann mit den beiden Tieren in wütendem Galopp über die Ebene.

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