Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Schauernovellen 7 – Der Wahnsinnige

Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 2
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843

Der Wahnsinnige

Sie
Bei ihrem Sparsystem ist unerlässlich, die Liebe und den Umgang mit uns Frauen, als ein kostspielig Ding fortan zu meiden.
Er
Ja wohl Madame; denn solche Treue erkauft man mit Schwalen, seidenem Kleid und – Geld. Bin ich erst wieder der, den Sie einst kannten, werde ich um Ihre Liebe wieder feilschen, denn es ist ja Ihr Herz, wie Ihre Reize.

Auf dem Kirchhof zu L. irrt zu allen Zeiten des Tages ein junger, bleicher Mann umher. Seine Kleidung ist schwarz. Seine Haare hängen unordentlich über Stirn und Augen, und diese Augen, welche einst des Geistes Helle kündeten, diese Stirn, welche einst von jugendlichem Frohsinn strahlte, hat der Wahnsinn getrübt und tragen nun das Gepräge tierischer Gleichgültigkeit.

Wenn der Geisteskranke auf seinen raschen Irrgängen durch die Reihen der Gräber müde geworden war, da ruht er an zwei noch frischen Grabhügeln aus und schreibt die Namen Emilie und Laura in den gelben Sand.

Wer ist jener bleiche Unglückliche? Und welche Toten beweint er?

Hören wir die kurze Geschichte, die seinen Wahnsinn herbeirief.

 

*

 

Am 6. Juli des Jahres 1840 wollte eine Journaliere von L. nach A. Unter wohl fünf bis sechs weiblichen Passagieren befand sich allein ein junger Mann. Dieser legte in seinem ganzen Tun und Wesen ein savoir vivre an den Tag, welches ihm die Gunst sämtlicher Damen erwarb.

Er und eine Dame, die nicht mehr jung war, aber mit einem Überrest früherer Schönheit sehr interessant kokettierte, schienen sich des Gespräches ausschließlich bemächtigt zu haben. Demungeachtet waren die übrigen Damen der näheren Berücksichtigung nicht unwert. Es war sogar kaum zu verkennen, dass der junge Reisende seine Aufmerksamkeit ebenso gern, vielleicht noch lieber einem jungen weiblichen Wesen gewidmet hätte, die ihm zur Seite saß.

Und wirklich war auch diese neben ihm sitzende Dame einer näheren Aufmerksamkeit würdig. Es war eine Blondine mit allen vorzüglichen Eigenschaften, welche den blonden Mädchen und Frauen über andere ihres Geschlechtes eine gewisse Überlegenheit geben. Jugendlich frische Röte zierte die Wangen und wurde gemildert durch den blendend weißen Teint ihrer feinen, zarten Haut. Blaue Augen strahlten mildes Feuer. Die feinen Gesichtszüge belebte ein leichtes Lächeln, wenn ihr Blick dem des jungen Nachbarn begegnete. Ihr Wuchs war üppig, ihre Gestalt junonisch und der leicht bedeckte Busen hob sich in reinster Wellenform, wenn ein heftiger Stoß des Wagens sie erschreckte oder der beneidenswerte Nachbar im Verlaufe des Gespräches durch eine rasche, an sie gerichtete Frage, sie in die Unterhaltung zu verflechten suchte. Letzteres aber wollte ihm nicht gelingen und der Postillon verkündete schon durch Hornstöße, dass sie an der ersten Station angelangt seien, ehe noch zehn Worte zwischen beiden jungen Leuten gewechselt worden waren.

Nur wenige Minuten wurden unseren Reisenden vergönnt, um einige Erfrischungen zu genießen; aber als der junge Mann, den wir bei seinem Vornamen Hugo nennen wollen, sämtliche Damen aus dem Wagen gehoben hatte, war ihm von seiner Nachbarin ein leiser Händedruck sanft erwidert worden.

Hugo war einer jener leicht erregbaren Gemütsmenschen, welche der Anblick eines anmutigen, weiblichen Wesens in Flammen jetzt, bevor sie noch zu irgendeiner Hoffnung berechtigt sind. Nun, da er hoffen durfte, dass man seinen Huldigungen entgegen kommen würde, vergaß er im Vorgenuss seines künftigen Glückes den ernsten Zweck seiner Reise. Nur die Gegenwart der übrigen Damen konnte den Eroberungssüchtigen zurückhalten, sich seines Sieges zu vergewissern. Lebhaftere Blicke wechselten beide jungen Leute; die hübsche Nachbarin, die allein und ohne Begleiter reiste, schien glücklich zu sein, sich unter den Schutz eines galanten jungen Mannes begeben zu dürfen.

Als daher in A. sich sämtliche Reisende auf die Passagierstube begeben hatten, erwartete Hugo mit Ungeduld, dass die übrigen Damen sich entfernen würden; denn obwohl es ihm vergönnt gewesen wäre, sich Wohnung bei seinen Verwandten zu suchen, so war doch während der letzten Stunden der Reise, in ihm der Entschluss fest geworden, da zu sein und zu bleiben, wo seine hübsche Reisegefährtin bleiben würde.

Nach und nach verabschiedeten sich die Damen, während Hugo durch verstellte Geschäftigkeit an seinem Reisegepäck sein Dableiben zu bemänteln versuchte. Als endlich der Augenblick erschien, wo er mit der blonden Unbekannten allein im Zimmer war, da wagte er die Frage: »Werden Sie heute noch weiterreisen?«

»Ach! Leider weiß ich nicht, was ich tun soll«, entgegnete sie ihm mit einer lieblichen, klagenden Stimme. »Zum Weiterreisen dürfte sich schwerlich heute noch Gelegenheit finden; und zu bleiben, fürchte ich, weil ich so ganz unbekannt hier bin.«

»Wenn sie meine Dienste nicht verschmähen wollten, könnte ich Ihnen beim Hierbleiben wenigstens als Führer dienen und wenn Sie erlaubten, Ihr Gesellschafter sein«, entgegnete Hugo in verbindlichem Ton.

Freudig glänzten bei diesen Worten die Augen der jungen Dame, und mit liebenswürdiger Ungezwungenheit nahm sie den dargebotenen Arm des überglücklichen Jünglings, der immer mehr und mehr den Zweck seiner Reise aus den Augen verlor. Sie bezogen zwei Zimmer im nahen Gasthaus und nach eingenommenem Abendessen schlug Hugo seinem Schützlinge einen Spaziergang durch die Stadt und ihre Umgebung vor. Er war stolz auf die Naturschönheiten seiner Vaterstadt und meinte, dass es Pauline, wie seine Gefährtin sich nannte, ebenso viel Vergnügen machen müsse, zu sehen, wie er empfand, indem er das und jenes zeigte und erklärte.

Wie diese Reise für den jungen Mann verhängnisvoll werden sollte, so war es insbesondere dieser Spaziergang.

Denn Pauline begann sich nach und nach als eines jener liebenswürdigen, leichtsinnigen Wesen zu zeigen, deren lockende Koketterie, verbunden mit reizender Ungezwungenheit, den Mann mit Fesseln umschlingen, deren ein Ende ihn an der Fülle der Gaben festhält, welche das Weib zu erteilen vermag; derer anderes Ende ihn aber zu gleicher Zeit unaufhaltsam einem sicheren Verderben zuführt. Hugo war nicht der Mann, den unter blumigem Grün verborgenen Sumpf zu erkennen, oder wenn er ihn erkannte, mit Verachtung der lockenden Außenseite zu fliehen. Er war Belletrist und meinte, als solcher keine Gelegenheit vorbeilassen zu dürfen, wo sich ihm in einer passageren intrigue d’amour Stoff zu einer neuen Dichtung böte.

Dessen ungeachtet waren zwei Gründe vorhanden, weshalb beide junge Leute auf diesem Spaziergang über duftende Feldraine, zwischen Feldern hoch aufgeschossenen Getreides hindurch, in den Grenzen des strengsten Anstandes verblieben.

Hugo hatte als feinfühlender Dichter in dem Treiben einer großen Stadt mit ziemlich freien Sitten, doch immer eine derartige Achtung vor dem weiblichen Geschlecht sich bewahrt, dass er auch denjenigen weiblichen Individuen, welche die Menge mit Verachtung straft, nachdem sie dieselben mit ihrer Liebe besudelt, dass er auch diesen unglücklichen Gefallenen nie mit jener rüden Härte oder lasziven Freundlichkeit begegnen konnte, die ihnen nur zu oft zuteilwerden und die Unglücklichen noch tiefer in den Staub drücken.

Welche Meinung auch Hugo von der liebenswürdigen Pauline hegen mochte, er behandelte sie mit einer Achtung und Zartheit, die seinem Beschützeramt vollkommen würdig war.

Allein Amor, der neckische Knabe, konnte solchem Spiele nicht lange zusehen, ohne denen, welche er mit seinem Geschoss einmal verwundet, mithilfe der Frau Mama nicht auch der Liebe süßen Genuss zu verschaffen.

Als Hugo bei einem jähen Abhang seiner Begleiterin vorauseilend, am Fuße des Abhanges wartete und Pauline ihm folgend, aus Unvorsichtigkeit oder mit Absicht in jähen Lauf geriet, musste er, um sie vor dem Fallen zu schützen, seine Arme ausbreiten und das Mädchen auffangen. Sie flog in seine Arme; an seiner Brust wogte der stürmisch bewegte Busen Paulines; es war eine Bürde, die er nicht von sich zu stoßen wagte. Als er mit Besorgnis sie fragte, ob sie heftig erschrocken sei, da entgegnete sie ihm mit Lächeln, dass sie so immer zu fallen wünsche. Eng hielten sich beide umfasst und Hugos Lippen vermählten sich mit dem rosigen Mund der Verführerischen.

Seit diesem Augenblick war eine Scheidewand gefallen, die zu dem Wohl des jungen Mannes noch länger hätte stehen sollen.

Unter Kosen und Tändeln waren Hugo und Pauline zurückgekehrt und da sie beide in dem Gasthaus für Brautleute galten, in dem sie abgestiegen waren, so hatte man ihnen zwei Zimmer gegeben, die nebeneinander lagen.

Beide hatten ihre Namen in das Fremdenbuch eingetragen und sich gegenseitig Gute Nacht gewünscht.

Hugo vermisste, als er in sein Zimmer trat, sein Schnupftuch. Durch die Zwischentür bat er Pauline, zurückkehren zu dürfen, um es zu holen.

Die Bitte wurde gewährt. Pauline erschien im feinen, weißen Nachtkleid doppelt liebenswürdig. Ihr jugendlich voller Körper zeigte sich in den schönsten Formen. Mit wallendem Blut kehrte Hugo in sein Zimmer zurück.

Der Riegel der Zwischentür blieb offen. Lange konnte Hugo den Schlaf nicht finden; und als er ihn endlich gefunden hatte, da träumte ihm, es nahe sich seinem Lager ein liebliches, weibliches Wesen. Er hörte süße Worte der Liebe von ihren Lippen; er küsste diese rosigen Lippen und wiegte sein Haupt auf einem lebenswarmen Busen. O, er träumte süß und lange und als er erwachte, da wollte es ihm bedünken, – vielleicht war es eine Fortsetzung des Traumes, – als ob das liebe Traumbild sich von ihm entferne und sein Ohr das Schließen einer Tür höre. Dann wiederum verfiel er in einen neuen, sanften Morgenschlummer, der freundlich ihm die Ruhe ersetzte, welche der lebhafte Traum dem nächtlichen Schlaf geraubt hatte.

Als er am Morgen mit Pauline am Kaffeetische saß, da schien es ihm, als ob sie in ihrem weißen Negligé der Solphide seines Traumes glich. Ihre Augen strahlten Liebe und bestrickten noch mehr das Herz des jungen Mannes, der in ihrem Anblick versunken, nur sie sah und ihre schelmischen Fragen hörte. Als sie ihn auch fragte, wie er diese Nacht geschlafen habe, da färbte höhere Röte ihre blühenden Wangen, und Hugo antwortete mit einem Kuss und inniger Umarmung des zauberhaften Mädchens.

Zärtliche Vertraulichkeit war nun an die Stelle der vorherigen Zurückhaltung getreten und der Jüngling hatte vom kosenden Mädchen erfahren, dass sie die ihren besuchen wolle, um eine zufällige Spannung ihres gegenseitigen Verhältnisses rasch zu beseitigen.

Und welches war der Grund einer solchen Spannung?

Hugo mochte ihn ahnen; aber Sanguiniker, der er war, ließ er sich von den Reizen seiner neuen Liebe hinreißen, ohne der Schmerzen zu achten, die sie ihm verursachen würde. Er wusste vielleicht, welches Mädchen er umarmte, aber er ließ seinen Geist nicht zu reifer Überlegung kommen, um sich den gegenwärtigen Genuss nicht zu rauben.

Unglückliche Gemüter, die um eines kurzen Genusses willen, einer trüben Zukunft blind entgegengehen!

Hugo begleitete Pauline auf die Post, als sie sich als Passagier des am selben Tag nach R. gehenden Eilwagens einschreiben ließ. Er selbst ließ sich auch einschreiben; er konnte sich nicht mehr von ihr trennen. Und sie, die da wusste, dass er um ihretwillen, das hintenan setzte, weshalb er nach A. gereist war, sie wusste ihm durch tausendfache, immer neue und reizendere Zärtlichkeiten das gebrachte Opfer reichlich zu belohnen. Sie meinte irgendein Geschäft habe ihn nach A. geführt und ahnte nicht, dass in Kurzem ein zweites weibliches Wesen blutige Tränen über den von ihr bestrickten, leichtsinnigen Jüngling weinen würde. Vielleicht hätte sie anders gehandelt!

Rasch ward der Weg nach R. zurückgelegt. Wenn zwei Liebende in einem bequemen Postwagen allein und ohne die lästige Gegenwart eines Kondukteurs, sitzen, da fahren sie wohl um die halbe Erde, ohne sich zu langweilen!

Im Gasthaus Zum weißen Ross in R. gab man ihnen, die immer unter der privilegienreichen Firma eines Brautpaares reisten, ein Zimmer. Als sie es beide betraten und die Wirtin sich entfernt hatte, da flog Pauline in des erstaunten Jünglings Arme.

Ihn mit zärtlichen Liebkosungen überhäufend, sprach sie: »O, zürnen Sie mir nicht, teurer Hugo, dass ich solches Vertrauen, wie Sie mir bis diesen Augenblick bewiesen, gering vergolten habe. Nicht, wie ich Ihnen sagte, ist es R., wo die meinen wohnen. Das letzte Dorf, durch welches wir fuhren, und von dem ich so genaue Kenntnis verriet, ist mein Geburtsort. Nicht unvorbereitet möchte ich in das Haus der Eltern treten, die mir zürnen, und Ihre gütige Hilfe ist es, um die ich nun herzlich bitte.«

Hugo, der schwärmerische Jüngling, hatte Geist und Lebenserfahrung genug, um Paulines Inneres in diesem Augenblick zu durchschauen. Er zürnte ihr nicht und freute sich, dass neben seiner begonnenen Liebesintrige seine Reise noch anderes Interesse gewinnen sollte. Pauline verlangte sehnlichst ihre jüngere Schwester Auguste zu sprechen, bevor sie den strengeren Eltern entgegenträte.

Hugo sandte einen Boten in das nahe Dorf, um Paulines Schwester von dem Wunsch seiner teuren Reisegefährtin unterrichten zu lassen. Er selbst folgte mit ihr, nach einer kleinen Weile, dem Boten, um in der Nähe ihres Geburtsortes die Gerufene zu erwarten.

Seltsame Gefühle mochten in dem Herzen Paulines in dieser Stunde wohnen. Sie begegnete früheren Bekannten und Freunden und wandte das Antlitz von ihnen. Sie nahte ihrem Geburtsort in einem glänzendem Kleid, wie sie ihn verlassen hatte, und doch zitterte ihre Hand und deckte Schamröte ihre Wangen.

Der Bote kehrte zurück und verkündete die nahe Ankunft der jüngeren Schwester Auguste. Als diese endlich in ihrer ärmlichen Bauerkleidung erschien, da machte sich Pauline vom Arm Hugos frei und rauschte in ihren seidenen Gewändern der lang entbehrten Schwester entgegen.

Welche Verschiedenheit! Pauline und Auguste. Pauline, die Gefallene, in stolzer Kleidung, weint in den Armen der Schwester, weil sie fühlt, dass sie geringer ist; Auguste, in ärmlicher Kleidung, weint vor Freude, ihre Schwester wiederzusehen und, weil sie so vornehm geworden war. Ach! Die kleine Unschuld weiß nicht, mit welchen Opfern dieser nichtige Glanz erkauft worden war, weiß nicht, dass sie höher steht, als ihre Schwester; sie betastete schüchtern den Samt und die Seide und nur die innigste Schwesterliebe konnte sie vermögen, ihre Schwester zu umarmen.

Hugo stand als Zuschauer einer so schönen, wie seltenen Szene. Als Pauline ihrer Schwester aufgetragen hatte, die Mutter zu ihr in das Gasthaus zu senden, und sich aus Augustes Armen loswindend, zu Hugo mit noch nassen Augen zurückkehrte, da konnte er nicht umhin, sie zu fragen, warum sie einem glänzenden Elend so große Opfer gebracht habe.

Und höher hob sich die schöne Gestalt der Kurtisane. Aus dem Mund des einfach erzogenen, früheren Landmädchens ging eine Verteidigung ihres Handwerkes, wie der staunende Hugo nicht erwartet hatte; ihre Worte vollendeten den Sieg über sein von Liebe erfülltes Herz.

»Ich weiß es, Hugo«, sprach sie, »wie die Menge, deren Beute ich geworden bin und die mich als ihr Eigentum reklamieren würde, wenn ich zur Tugend zurückkehren wollte, ich weiß, wie diese Menge von mir urteilt und was auch Sie von mir denken; denn dass es Liebe sei, was Sie mir folgen lässt, habe ich verlernt, zu glauben. Sie suchen in meinen Armen, was Sie in denen einer anderen auch finden würden, das Vergnügen! O, ich weiß, zu welchem niedrigen Werkzeug ich herabgesunken bin!«

Sie strich bei diesen Worten über die hohe, schöne Stirn, als ob sie eine Wolke davon zu verscheuchen suchte.

»Aber der Schande trotzen, nenne ich jetzt meine Tugend. Das ist meine Stärke, wie es die Eure ist, sie zu vermeiden. Es ist meine Klugheit, sage ich, und sie führt mich zum Ziel, sie überwindet alle Hindernisse und überlebt immer neu erstehende Gewissensbisse. Zum Kampfpreis aber habe ich das Vergnügen. Das ist mein Sonnenstrahl nach dem Unwetter; das ist die bezauberte Insel, wohin der Sturm mich wirft und wenn ich verächtlich bin, bin ich wenigstens nicht lächerlich. Unnütz sein, das ist lächerlich. Lächerlich sein, ist schlechter als infam zu sein; zu nichts in der Welt zu dienen, das ist verächtlicher, als zu den niedrigsten Zwecken zu dienen! Und übrigens«, fuhr sie mit Eifer fort, »was ist einer wahrhaft starken Seele an der Schande gelegen? Wissen Sie, Hugo, dass jene Macht der Meinung, vor welcher die Seelen, welche man ehrbar nennt, so knechtisch sind, wissen Sie, dass es sich nur darum handelt, schwach zu sein, um sich derselben zu unterwerfen, und dass man stark sein muss, um ihr zu widerstehen? Nennen Sie Tugend eine Berechnung des Egoismus, die so leicht zu machen ist und in der sie alles ermutigt, alles belohnt? Stellen Sie die Mühen, die Schmerzen, das Heldentum einer Familienmutter denen einer Entehrten gleich? Wenn beide um das Leben ringen, glauben Sie, dass die mehr Ruhm verdient, welche am wenigstens Mühe hat? Aber wie, Hugo! Erschreckt Sie meine Rede nicht? Haben Sie nichts auf die Ketzereien der Wollust, auf die Unverschämtheiten der Ausschweifung zu antworten. Verteidigen Sie doch die Tugend, wenn Sie glauben, dass es ein Ding gibt, das sich mit diesem Namen nennt?«

»Wenn die Moral auch nicht billigen darf, was Sie wider die Tugend ihres eigenen Geschlechtes sagen», erwiderte Hugo, »höre ich doch mit Vergnügen die Reden, die Sie selbst Ketzereien nennen, weil Sie sich durch dieselben eine Stelle weit über Ihres Gleichen, weit über eitlen Tugendhelden sichern.«

»Ja«, entgegnete Pauline, »wäre es mir vergönnt gewesen, zu bleiben, was meine Schwester noch ist, würde ich weniger ein Gegenstand Ihres Mitleides sein; aber was legt uns denn das göttliche Gesetz auf? Zu leben! Nicht wahr? Und was gebietet das menschliche Gesetz? Nicht zu stehlen! Und doch ist es ein Gebrechen der Gesellschaft, dass in ihr so manches Individuum nichts anderes zum Leben hat als ein von ihr autorisiertes, aber mit einem verhassten Namen gebrandmarktes Handwerk, das Laster. Wissen Sie, mit welchem Stahl wir armen Geschöpfe gehärtet werden müssen, um von diesem zu leben? Mit wie vielen Beschimpfungen man versucht, uns die Schwächen bezahlen zu lassen, die wir überlistet, die niedrigen Begierden, die wir gesättigt haben? Unter welchem Berg von Schmach und Ungerechtigkeit wir gewohnt werden müssen, zu schlafen, zu gehen, Geliebte zu sein, Kurtisane und Mutter, drei Bedingungen des Schicksals der Frauen, denen keine entgeht, sei es nun, dass sie ihren Leib durch einen schmachvollen oder durch einen Ehekontrakt verkauft. O, Hugo«, fuhr nach augenblicklichem Schweigen von beiden Seiten Pauline fort, »wie sehr sind die öffentlich und ungerechter Weise entehrten Wesen berechtigt, die Menge zu verachten, welche sie mit ihrem Fluch trifft, nach dem sie sie mit ihrer Liebe besudelt hat.«

Hugo hatte sich, als er am gestrigen Tag Paulines sozialen Charakter ahnen durfte, mit sophistischen Gründen den Genuss zu erhalten gewusst, der für ihn aus dem Glauben hervorging, er weihe seine Liebe einem achtungswerten Mädchen. Nun, da sich nicht mehr leugnen ließ, Pauline gehöre unter die gefallenen, unglücklichen Wesen, welche das Bedürfnis zu leben zwingt, aus der Liebe ein feiles Gewerbe zu machen; nun band ihn sinnliches Interesse vielleicht weniger als humanes Mitleid an das Mädchen, welches er gern auf den Standpunkt geführt hätte, wohin sie in geistiger und körperlicher Hinsicht gewiesen war.

Pauline konnte eine Stelle in den höheren Kreisen des Lebens mit Glanz behaupten, wenn Leichtsinn sie nicht zum bedauernswürdigen Werkzeug niedriger Lüste gemacht hätte. Dass es so war, presste dem menschen- und noch mehr mädchenfreundlichen Hugo bittere Seufzer aus, als er mit ihr in die Stadt zurück und auf den volksfestlichen Schießplatz ging; denn dahin verlangte es Pauline vielleicht, um die ernsten und trüben Gedanken aus ihrer Seele zu bannen. Hugo hätte lieber auf einem einsamen Spaziergange die ernste Stimmung, in die sie beide versetzt waren, erhalten, um einen in ihm keimenden Plan weiter zu bilden.

Pauline wurde im Treiben des kleinstädtischen Vogelschießens wieder das Mädchen mit liebenswürdigem Leichtsinn, wie sie in A. und auf der Reise gewesen war. Am Ende gefiel sich auch Hugo in der allgemeinen Bewunderung, die man seiner schönen, für diesen Ort wahrhaft prächtig gekleideten Gefährtin zollte. Nur auf wenige Minuten kehrten sie in den Gasthof zurück, um dort zu Abend zu essen. Paulines Schwester Auguste kam dahin und brachte mit tränenden Augen die Nachricht, dass die Mutter nicht kommen könne.

»Seht!«, sagte Pauline, »wenn Ihr Eure Schwester nicht hättet, von welcher der Vater und die große Schwester immer so übel reden. Da, gib das der Mutter, mein Gustchen, sie soll sich ein ganz neues Kleid kaufen.« Sie drückte bei diesen Worten dem erstaunten Kind eine volle Börse in die Hand.

Arme Mutter, die sich mit der Schande ihrer Tochter bedecken soll.

Pauline mochte einen solchen Gedanken in Hugos Augen gelesen haben. Sie wandte sich ab und errötete. Aber als Auguste fort war, schwand auch Paulines gesetztes Wesen.

»Ach Hugo«, rief sie, »heute Abend ist Ball auf dem Schießhaus. Ich werde mich umkleiden; man muss diesen Kleinstädtern imponieren. Nicht wahr, Sie gehen mit?«

Hugo bejahte, obwohl ungern, denn er fürchtete Ursache zur Eifersucht zu bekommen. Pauline verstand es, in seinem Innern zu lesen und sagte zärtlich: »Ich werde nur Ihnen gehören, mein Hugo.« Sie küsste dabei die Falten von seiner Stirn. Sie warf dann rasch die Kleider von sich.

»Sie werden mich einschnüren, Liebster?«, sagte die Verführerische und Hugo war nicht ungehorsam.«

»Endlich stand sie in vollem Ballstaat vor ihm und fragte: »Gefalle ich Ihnen, Hugo?«

Hugo antwortete mit der tausendfach deutbaren Sprache eines Kusses.

Sie waren auf dem Ball. Pauline strahlte wie eine Königin unter dem kleinbürgerlichen Flitterstaat. Sie nahm die Huldigungen der Männer wie schuldigen Tribut und war nur gegen Hugo freundlich und zärtlich. Sie flogen in die Reihen der Tanzenden.

Man staunte. So hatte man hier noch nicht tanzen sehen. Paulines Arm ruhte fortwährend im Arm ihres Tänzers. Das fand man inkonvenient, aber gewisse junge Leute fanden es hübsch und machten es ebenso.

Hugo war der Beneidete von allen und gefiel sich so sehr in der Rolle eines begünstigten Liebhabers, dass Pauline selbst zum Aufbruch antreiben musste.

Sie kehrten in den Gasthof zurück.

»Aber mein Gott«, hob Hugo an, »man hat mir noch kein Zimmer angewiesen, und alles liegt in tiefem Schlaf.«

»O, Sie Armer«, entgegnete Pauline lächelnd.

Wenn es schon ein süßes Geschäft ist, ein schönes, geliebtes, zärtliches Mädchen oder Weib ankleiden zu helfen, so muss es wohl dreifach süßer sein, das Werk des nüchternen Morgens am ahnungsreichen Abend mit zitternder Hand wieder zu zerstören.

Hugo tat, wie ihm geheißen.

Es mochte schon Mitternacht sein, als beide noch auf dem Sofa saßen. Ein leises Klopfen an der Tür wurde gehört. Pauline strich die Falten des Nachtgewandes und warf ein Umschlagtuch um. Hugo putzte das tief herabgebrannte Licht und öffnete.

»Logiert hier nicht eine Mamsell, die gestern von L. gekommen ist?«, fragte eine weibliche Stimme. Hugo bejahte.

»Können wir sie nicht sprechen?«, fragte die Person weiter und Hugo sah nun im Dunkeln noch zwei Gestalten stehen.

Pauline war auf dem Sofa sitzen geblieben und schälte sich einen Apfel.

»Man wünscht Sie zu sprechen«, sagte Hugo zu ihr. Sie antwortete mit einem unmutigen Hm! und aß ihren Apfel. Hugo war in peinlicher Verlegenheit. Er sah, dass Pauline ihre ältere Schwester, denn das war die Besuchende, nicht sprechen wollte.

Da trat die kleine unschuldige Auguste freundlich als Vermittlerin auf. Bei ihrem Anblick regte sich Paulines Herz. Sie zog sie an ihre Brust und rief mit schmerzlichem Blick auf die ältere Schwester: »Mögest du glücklicher sein im väterlichen Haus, als ich es gewesen bin.«

Als sie wieder allein waren, fragte Hugo die traurig sinnende Pauline: »Warum waren Sie so unfreundlich gegen ihre Schwester?«

»Soll ich freundlich sein mit der Urheberin meines Unglücks, meiner Schande? Sie warf den ersten Stein auf mich; aber wenn ich verwerflich bin und alle Gute mich verdammen. Sie darf es nicht, denn sie und der Vater waren es, die mir die heimatliche Hütte zur Hölle machten, weil ich als Kind zu Hoffnungen berechtigte, die das Glück meiner armen, schwachen Mutter machten. Sie waren es, die mich am Ende hinaustrieben in die Welt, wo ich schutzberaubt und hilflos dem Laster anheimgefallen bin.« Sie weinte.

Ja, so ist es mit den Banden, den ewig heiligen Banden des Blutes. Die, welche durch sie an uns geknüpft sind, verdammen vor allen anderen den gestrauchelten Bruder und Freund. Sie sind am hartnäckigsten im Verzeihen und doch meist an unserem Fall schuld, oder hätten durch eine kleine Handreichung dem Sturz zuvorkommen können. Und dann höhnen und lachen sie noch die Vatersbrüder und Schwestern und die ganze tugendhafte Sippschaft und werfen den sich Aufrichtenden immer von Neuem in den Staub.

Hugo küsste die Weinende und bald lächelte sie wieder unter den Tränen, wie die Sonne glänzt in den Tropfen des rasch vorübergeeilten Gewitterregens.

Hoch stand die Sonne am Himmel, als beide des anderen Morgens erwachten.

Hugos und Paulines Zeit war karg gemessen. Sie mussten heute noch ihre Rückreise antreten. Wenige Stunden, nach eingenommenem Kaffee waren sie auf dem Weg zu Paulines Geburtsort, durch welches der Wagen, mit dem sie bis A. zu fahren gedachten, kommen sollte.

Hugo wartete in der Nähe der Landstraße auf den Lohnkutscher, während Pauline im elterlichen Haus weilte. Gern hätte er sie beobachtet, aber er fügte sich in die Notwendigkei,t den Wagen zu erwarten, zumal auch ernstere Gedanken in seiner Seele erwachten. Er gedachte des Zweckes seiner Reise und wie weit er ihn aus den Augen verloren hatte.

Hugo war nicht mehr frei. Anfangs Liebe und dann Gewohnheit des Umgangs hatten ihn an ein Mädchen gefesselt, deren ganze Hoffnung auf ihm beruhte, zumal sie vor nicht langer Zeit eines Pfandes ihrer Liebe genesen war. Hugo war Vater und wollte nun auch Gatte derjenigen sein, die ihm ihre Jugend, ihre Unschuld, die ihm alles geopfert hatte, was die liebende Frau dem Mann opfern kann. Zu diesem Zweck war Hugo in seine Vaterstadt A. gereist. Er bedurfte mehrere Papiere, um sich in einer fremden Stadt zu verehelichen. Er hatte gestern versäumt, die nötigen Schritte zu tun und heute dachte er nicht mehr daran, die mit seiner Hand glücklich zu machen, welche so sehr verdient hätte, seine Gattin zu werden. Er versuchte sich zu überreden, dass er für die Ehe noch zu jung sei, im Grunde aber war Pauline die Ursache seiner Treulosigkeit. Sie war eine liebenswürdige Kokette und wusste den jungen Mann stärker zu fesseln als das einfache Mädchen, welches ihm eine treue Liebe weihte.

Pauline kam. Der Wagen rollte soeben vorüber. Sie stiegen ein und fuhren in Gesellschaft anderer Passagiere rasch dem ersten Reiseziel A. entgegen. Pauline hatte verweinte Augen, war aber mit Blumen, Erdbeeren und dergleichen mehr reichlich beschenkt. Sie schien eine Versöhnung mit Tränen gefeiert zu haben. Unangenehm wurde von beiden empfunden, dass sie nicht mehr allein waren. Hugos Stirn legte sich in düstere Falten, die sich erst wieder glätteten, als sie in A. angekommen waren, vernahmen, dass für heute keine Gelegenheit, nach L. zu fahren, mehr zu finden sei. Konnte er doch nun hoffen, noch einen schönen, der Liebe geweihten Tag in Paulines Armen zu verleben.

Sie bezogen in dem Gasthaus, das sie gestern bewohnt hatten, wiederum dieselben Zimmer mit der verführerischen Zwischentür. Während dem sie aber um die Mittagszeit beide aus dem Fenster sahen und Hugo, der leichtgläubige Hugo, sich von Pauline Treue und Liebe geloben ließ, und ihr dagegen versprach, sie in eine Lage zu versetzen, welche es ihr möglich mache, nur ihm zu gehören. Während dieses verliebten Zwiegespräches, wo mehr versprochen wurde, als man je zu halten vermögend war, kam ein Lohnkutscher vor den Gasthof gefahren. Der Wirt, welcher den Wunsch Paulines kannte, heute noch nach L. zu reisen, fragte den Ankommenden sogleich, ob er dahin fahre. Der Kutscher bejahte und Hugos süße Liebesträume schwanden. Zum Übermaß seines Unmutes hatte ein Kanzleirat von Berlin über das Innere der Kutsche zu disponieren und Hugo wusste es ihm wenig Dank, dass er so gefällig war, den Brautleuten, wie sie der Wirt dem alten Herrn vorstellte, die Mitreise zu gestatten.

Nach kurzem Verweilen rollten die drei Reisenden der galanten Lindenstadt zu. Der Kanzleirat verwickelte Hugo in ein langes Eisenbahngespräch und kaum durften die Verliebten einige zärtliche Blicke wechseln. Gut war es, dass dieselben ihre Maßregeln schon getroffen und Pauline Hugo für nächsten Abend ein Rendezvous gegeben hatte, denn die Pferde trabten rasch und L. war erreicht, ehe Hugo, der verdrießliche Bräutigam, wie ihn der Kanzleirat scherzhaft nannte, es sich versah.

Der Berliner stieg vor der Post aus. Hugo und Pauline im P., von wo sie in ihre Wohnung gingen, nachdem mit tausend Schwüren Treue, Liebe und was die Hauptsache, Rendezvous versichert worden waren.

 

*

 

Als das Romantische dieses Reiseabenteuers sich verflüchtigt hatte, denn Hugo ging wieder auf L.’s Straßenpflaster, trat die Prosa seines Verhältnisses vor die Seele des Leichtsinnigen. Welche Ausflüchte sollte er dem armen Mädchen machen, das auf seine glückliche Wiederkunft ihres Lebens Hoffnung baute?

Er trat in seine Wohnung. Seine kleine, holde Laura lachte ihm entgegen und die Mutter hing mit fragenden, ängstlichen Blicken an seinem Gesicht.

»Warum bist du so verdrießlich, guter Hugo?«, fragte sie endlich und Tränen ersticken schon ihre zitternde Stimme.

»Man hat mir die Ausfertigung der zu unserer Heirat nötigen Papiere verweigert«, entgegnete Hugo und das Gewissen gab ihm einen Stich.

»Ach ich Arme«, weinte Emilie, das unglückliche Opfer leichtsinniger Jugendliebe, »ach du unglückliches Würmchen«, hauchte sie in einem schmerzlichen Kuss auf die Stirn des unschuldig lächelnden Kindes. Hugo war nicht hartherzig und wenn er auch Emilie nicht mit dem Feuer der ersten Jugendliebe liebte, so wusste er doch ihre trefflichen Eigenschaften zu schätzen und liebte dabei sein Kind über alles; aber Hugo war leichtsinnig, die Regungen seines Herzens waren nur von kurzer Dauer und wichen schnell anderen Eindrücken.

Zwei Freunde, die seine Ankunft erfahren hatten, kamen, ihn zu einem Spaziergang abzuholen. Hugo fand Gelegenheit, seine Reiseliebschaft mit allem ihm zu Gebote stehenden Mitteln der Phantasie und noch jungen Leidenschaft ausschmückend, zu erzählen und vergegenwärtigte sich dadurch der verführerischen Kurtisane Bild so sehr und malte sie sich selbst mit so lebhaft lockenden Farben, dass seine Emilie ganz aus seinem Herzen verschwand. O hätte damals ein treuer, besonnener Freund Hugos Erzählung mit angehört, er hätte den Leichtsinnigen vielleicht gewarnt und die Folgen mit wirklichen Farben gemalt, statt wie jene Freunde die Sache ergötzlich und die angesponnene Intrige der Fortsetzung wert zu finden.

Emilie weinte und Hugo kam wenig nach Hause. Er wusste, dass die Arme Ursache hatte, zu klagen und zu weinen, und darum mochte er diese gerechten Tränen nicht sehen, weil sie ebenso viel Vorwürfe für ihn waren, wenn auch Emilie mit Worten sich sanft und freundlich zeigte.

Am folgenden Abend sah er Pauline wieder. Sie bestrickte heute das schwache Herz des Verirrten noch mehr; denn sie spielte die Reuige und wünschte sich fort aus dem Haus, wo täglich und stündlich das feile Spiel der Sinnenlust sich wiederholte. Hugo hielt diese Sehnsucht nach einer einsameren Stellung für Liebe zu ihm und drängte sie, ihren Entschluss bald ins Werk zu setzen.

»Ach wie gern«, entgegnete Pauline, »erfüllte ich recht schnell und bald Ihren Wunsch, teurer Hugo, wenn ich nur nicht gezwungen wäre, Ihnen untreu zu werden, um die nötigen Mittel zu haben.«

Hugo schreckte zusammen. Diese Sprache, diese deutliche Sprache der Kurtisane hätte ihn zur Vernunft bringen sollen, denn er war nicht reich. Aber er hörte nur die Stimme der Leidenschaft, er drückte seine volle Börse in ihre Hand und hielt dann noch für Liebe, als Pauline zärtlich seinen Wünschen entgegen kam. Dass er bezahlte, wie jeder andere, nur in einer delikateren Weise, kam ihm nicht in den Sinn, zumal sich Pauline dankbar erwies, denn schon am nächsten Abend weihte sie ihm ihre Liebe in einem eigenen, zierlich eingerichteten Zimmer der Vorstadt von P. Auch diesen Vorzug hatten Emilie und Laura erkaufen helfen, denn sie mussten fortan darben, damit Pauline ihrem Hugo treu bleiben konnte.

Monde vergingen und Emilie weinte immer noch; und Hugo ließ sie darben und weinen. Seines holden Töchterchens Lächeln rührte ihn wohl manchmal, aber ein Besuch bei Pauline ließ ihn alles vergessen. Doch bald war auch Pauline nicht mehr vermögend, die Falten von seiner Stirne zu bannen, denn Hugo verlor den Frieden seines Herzens. Er fühlte seine Schuld, fühlte was es heißt, das Herz eines treu liebenden Mädchens zu brechen, und doch brach er es.

Emilies Tränen fingen an, ihn zu langweilen. Er sagte es ihr unverhohlen und erklärte ihr zugleich, dass er bis zu der Zeit ihrer möglichen Verheiratung wieder allein wohnen wolle. Als Grund schützte er das lästernde Gerede der Leute vor.

»Achtetest Du doch sonst so wenig auf dergleichen Gerede«, sagte die unglückliche Emilie.

Hugo antwortete nicht und zog aus. Emilies Tränen flossen an diesem Tag reichlicher als je. Sie wusste, dass nun alles verloren sei und ahnte Hugos Untreue.

Nur selten besuchte er sie und sie wusste nichts von seinem Tun und Treiben. Da brachte eines Tages der Briefträger einen Brief an Hugo. Er war noch in dieses, sein früheres Logis adressiert und von Frauenhand geschrieben. Emilie nahm ihn an und – die Versuchung war zu stark für sie – sie öffnete ihn. Er war von Pauline. Sie schrieb:

Teurer Hugo,
Sie machen sich selten. Seit zwei Tagen warte ich mit Ungeduld, Ihnen die süße Nachricht zu bringen, dass Sie bald … werden, Ich erwarte Sie heute Abend und hoffe, Sie werden mit Ihrer Gegenwart beglücken
Ihre ewig treue Pauline.

Blutige Tränen Emilies nässten den Brief der Kurtisane. Ach, auch sie hatte sich wieder vergessen im festen Vertrauen auf Hugos Redlichkeit. Ein zweites unglückliches Geschöpf regte sich unter ihrem Herzen. Das Maß ihres Leidens füllte sich mehr und mehr. Emilie siegelte den Brief wieder zu und sandte ihn mit der neuen Adresse an Hugo.

Hugo war zu zerstreut, um zu bemerken, dass der Brief eröffnet gewesen war und riss ihn hastig auf. Die Lesung desselben stimmte ihn nicht heiterer. Er war in Geldverlegenheit. Der Buchhändler gab keinen Vorschuss mehr. Paulines Treue war kostspielig. Sie hatte die Wohnung gewechselt, wie er aus der unter ihrer Namensunterschrift befindlichen Wohnungsanzeige ersah. Und dieses war der Faden, an den das Schicksal das Ende von Emilies Leiden knüpfte. Die Unglückliche hatte sich die Wohnung ihrer Nebenbuhlerin aufgemerkt und gedachte, den treulosen Hugo zu belauschen. Er hoffte diesen Tag auf Geld und erhielt mehr, als er erwartet hatte. Nach mehrtägiger Verlegenheit musste ihn dieses umso mehr erfreuen. Er eilte zu Pauline und dachte nicht Emilies, welche darbte und an einer trockenen Brotrinde nagte.

Als Hugo aus seinem Haus getreten war, hatte er nicht bemerkt, dass eine junge Frau mit einem schlafenden Kind auf dem Arme ihn erwartete. Noch weniger gewahrte er, dass sie ihm von Weitem folgte und ein schmerzliches Ach über ihre Lippen schlüpfte, als er bei Pauline eintrat. Was sollte sie tun, da sie nun wusste, dass Hugo bei seiner Buhlerin war? Sollte sie eintreten und ihn an seine Pflichten mahnen? Nein! Dann hätte sie den Unwillen Hugos, den Hohn seiner Mätresse dulden müssen. Die Vernunft und Klugheit behielten die Oberhand, sie tat nichts, was ihr und ihrem Kind unterm Herzen hätte schaden können, denn sie gedachte ihrer Pflichten, die sie gegen dieses, wie gegen das schon lebende hatte.

Wer aber konnte es hindern, dass ihr Herz im Busen sich wandte und blutige Tränen die noch schlafende Laura beträufelten? Hugo, der es vermocht hätte, dachte in den Armen Paulines nicht daran, ihren Hunger zu stillen.

Emilie kehrt nach Hause zurück. Nach einer schlaflosen traurigen Nacht reichte sie am anderen Morgen dem hungrigen Kind das letzte trockene Semmelschnittchen. Wovon soll sie sich und Laura heute nähren, wenn Hugo nicht kommt?

Der Abend nahte. Emilie konnte die weinende Laura nicht mehr besänftigen. Sie hatte kein Licht anzuzünden, kein Holz, die kalte Stube zu wärmen. Da ging sie, die Schwache, Kranke, mit letzter Kraftanstrengung zu einem Bruder, um ihn um einige Groschen anzuflehen.

Der Harte antwortet ihr: »Gehe zu dem, der dich ins Elend geführt hat.«

Emilie ging; Gram und Verzweiflung im gemarterten Busen. Hugos Fenster waren erleuchtet. Er ist zu Hause, dachte sie, er wird vielleicht allein sein. O möge der Barmherzige, möge das Weinen des Kindes ihn erweichen, wenn mein Kummer und Elend es nicht vermögen. Sie war die Treppe hinauf gestiegen und fragte nach Hugo. Ein Dienstmädchen zeigte ihr sein Zimmer und sah mit mitleidigem Achselzucken dem wimmernden Kind nach. Emilie klopfte leise mit zitternder Hand. Man hörte nicht.

»Sie werden nicht willkommen sein«, sagte das Dienstmädchen, welche stehen geblieben war, halblaut vor sich hin und rief dann Emilie zu: »Klopfen Sie stärker, er ist drinnen.«

Emilie klopfte noch einmal und öffnete, ohne das Herein abzuwarten. O, hätte sie nicht geöffnet, sie wäre nicht zusammengeschreckt, dass die arme, kleine Laura laut aufschrie, und durch ihren Schrei jenes Paar auf dem Sofa aus einem Taumel weckte, in dem sie Emilies zweimaliges Klopfen überhört hatten.

Vernichtet wankte Emilie über den Saal hinweg.

Das mitleidige Dienstmädchen stillte die Tränen Lauras mit einem Butterschnittchen und leuchtete Emilie die Treppe hinab. Aber auf der letzten Treppe blieb sie leider noch zu zeitig zurück, denn die immer reichlicher hervorquellenden Tränen verdunkelten Emilies Augen, sie verfehlte eine Stufe und stürzte. Laura flog aus ihrem Arm. Die herbeieilenden Hausbewohner hoben Emilie bewusstlos, ihr Kind mit zerschmettertem Köpfchen auf. Die letzten Stufen waren von Stein gewesen. Man brachte beide in das nahe Spital und noch in derselben Nacht endete ein Blutsturz Emilies jammervolles Dasein.

Hugos zerknirschendes Schuldbewusstsein ließ ihn drei Tage lang Pauline nicht besuchen. Er klagte sich als dreifachen Mörder an. Als aber das stille Grab die Geopferten in sich schloss, da ging er am Abend des vierten Tages seinen Schmerz in Paulines Armen auf Augenblicke zu vergessen. Sie war zu Hause; ihre Fenster matt erleuchtet. Hugo eilte die Treppe hinauf, öffnete ungemeldet die Tür und stand von der Strafe des ewigen Vergelters getroffen, vernichtet vor Paulines Zimmer, wie Emilie vor dem seinen gestanden hatte.

Pauline lag in den Armen eines anderen. Hugo stand einen Augenblick schweigsam; dann lachte er plötzlich laut auf und ging lachend die Treppe hinab.

Das rächende Geschick hatte ihn mit Wahnsinn gestraft.

Und das ist jener bleiche junge Mann, der auf dem Kirchhofe zu L. zu allen Zeiten des Tages umherirrt und wenn er müde geworden ist, ausruht an zwei frischen Grabhügeln, deren einer seine treue Emilie, der andere seine liebe, kleine Laura bedeckt. Er gedenkt der Opfer seines Leichtsinnes; denn immer schreibt er mit dem Stock ihre Namen; aber beweinen kann er sie nicht, denn der Wahnsinn hat ihm der Tränen lindernden Balsam geraubt.

Die Kurtisane Pauline hatte wenige Tage, nachdem sie von Hugo entlarvt worden war, mit einem jungen Engländer L. verlassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert