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Allerhand Geister – Auf dem Lichtenfels – Teil 1

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Auf dem Lichtenfels – Teil 1
Eine Festungsgeschichte

Der Lichtenfels ist ein altes Bergschloss, das nach dem Absterben seiner ursprünglichen Besitzer, aber schon vor unvordenklichen Zeiten, an den Landesherrn fiel. Seitdem gilt er, vielfältig aus- und umgebaut, für eine kleine Festung, wohin man in unruhigen Zeiten die Schätze und Archive brachte und wo die Staatsverbrecher ein sicheres Unterkommen fanden. Von ihrer Uneinnehmbarkeit war viel die Rede, bis sie sich zu Ende des vorigen Jahrhunderts auf die erste Aufforderung an ein vorüberziehendes französisches Streifkorps ergab. Von der Zeit an redete man von der Festung Lichtenfels nicht mehr, sondern nahm den Platz eben nur für ein festungsartiges Staatsgefängnis, wo die militärischen und zivilistischen Sünder der besseren Stände ihre Strafe verbüßten, die Strafkompanie untergebracht wurde und die kleine Besatzung Gelegenheit fand, sich im strengeren Wach-, ja in einer Art von Festungsdienst auszubilden. Endlich, die Kommandantenstelle eignete sich vortrefflich für einen älteren, verdienten Offizier, dem man einen guten Ruheposten gönnte, ohne ihn völlig zur Ruhe zu setzen.

Die Besatzung bestand aus einer Kompanie der nächsten größeren Garnison und wurde alle Vierteljahre abgelöst. Dass dieser Dienst bei den Truppen so gut wie bei den Offizieren nichts weniger als beliebt war, ist selbstverständlich. Er war nicht nur verhältnismäßig streng, sondern auch erschreckend eintönig! Das alte Nest lag völlig einsam und abgeschieden auf seiner Höhe. Die paar Beamtenfamilien, welche oben hausten, reichten für das, was man Umgang nennt, nicht im Entferntesten aus. Andere gebildete Leute lebten weder in dem am Fuße der Höhe gelegenen kleinen Ort noch sonst wo in der Umgegend, endlich die Jagd war nicht der Rede wert. Dazu waren die Quartiere eng und unwohnlich, der Tisch schlecht und selbst von den allergewöhnlichsten Bequemlichkeiten wenig zu finden. So suchten die Offiziere sich denn auch diesem Dienst nach Kräften zu entziehen, und zwar so häufig, dass zuletzt in dem betreffenden Truppenteil für das bestimmte Vierteljahr niemals mehr ein Urlaub bewilligt oder ein Krankheitsattest angenommen wurden. Oben sei die gesundeste Luft, da würden sie am schnellsten wieder genesen, hieß es.

Neuerdings, das heißt, seit zwei bis drei Jahren, war der Dienst noch viel unbeliebter geworden, denn der Kommandant war der Oberstleutnant Boilar, ein geradezu schrecklicher Mensch, vor dem schon früher in seinen Garnisonen alle Welt, die nicht notgedrungen in seiner Nähe aushalten musste, so schleunig wie möglich das Feld räumte. Er war der denkbar schlimmste Gamaschenknopf und Kleinigkeitskrämer, von außerordentlicher Reizbarkeit, von schauderhafter Grobheit und ein Flucher ersten Ranges. Außer dem Dienst konnte man ihm eine gewisse natürliche Gutmütigkeit, ja eine Art von mürrischer Spaßhaftigkeit nicht absprechen. Er wäre trotz allem am Ende noch ein erträglicher Mensch und Kamerad gewesen, hätte nicht eine andere Eigenheit, oder wie man es sonst nennen will, jeden Verkehr mit ihm zu einer Qual gemacht. Denn er besaß einen unstillbaren Wissens- oder sage man Bildungsdurst, las Tag und Nacht alles, was ihm erreichbar wurde, verstand nicht die Hälfte davon und überschüttete hinterher in jedem freien Augenblick, bei jeder Gelegenheit, jeden, den er zu fassen vermochte, mit förmlichen Lawinen von Fragen, unter denen das unglückliche Menschenkind schier erstickte. Man wich ihm aus, wie man konnte, aber auch die Flucht war bedenklich. Denn wo der Alte bei den Entweichenden etwas wie eine Absicht ahnte, war er äußerst empfindlich und wurde gelegentlich gröber als je.

Im Übrigen war er ein fast unerlaubt solider Mensch, ohne Ansprüche, Leidenschaften und, mit einer einzigen Ausnahme, auch ohne Liebhabereien und Schwächen. Er war nämlich ein großer Musikfreund, ja er liebte diese Kunst mit aller Seelen- und Herzenskraft und mit allem Verständnis, die es in ihm gab. Sein eigenes Geigenspiel wollte nicht viel heißen, aber er legte auch keinen Wert darauf. Wo er aber in seiner Umgebung oder Bekanntschaft irgendein Talent witterte, zog er es hervor und versuchte es in jeder Weise zu unterstützen — er plagte den Betreffenden mit seiner Protektion. Ein Konzert versäumte er nie, und wenn irgendwo im Land, gleichviel ob nah oder fern, ein Künstler von Ruf auftrat, musste er trotz aller Kosten dabei sein, obwohl er im übrigen Leben von einer an Geiz grenzenden Sparsamkeit war. Endlich, um auch dessen zu gedenken, verheiratet war er nicht; eine alte, verwitwete Schwester führte ihm die kleine Wirtschaft.

Hiernach glauben wir einer besonderen Erklärung der erwähnten Schrecklichkeit des Kommandanten nicht mehr zu bedürfen, denn es versteht sich von selbst, dass alle seine schlimmen Eigenschaften – seine Strenge, seine Pedanterie und Kleinigkeitskrämerei, sein ewiges Nörgeln, Plagen und Poltern, seine Bildungs- und Fragewut endlich – in der Enge des Lichtenfels noch viel beschwerlicher wurden, als in den Garnisonsstädten, wo man ihm mit der nötigen Vorsicht doch auszuweichen vermochte. Wer hinaufmarschierte, hatte das Gefühl, als gehe es geradeswegs ins Fegefeuer, und wer herabzog, kam sich wie erlöst vor.

Nun, wo es wieder einmal zum Wechsel ging, trug der Tag selber noch dazu bei, die Stimmung auch der Abziehenden nach Möglichkeit zu verschlechtern. Denn es war ein erster November, wie er im Buche steht – seit wann und weshalb der Garnisonswechsel nicht auf die richtigen Quartalstage, sondern je um einen Monat später verlegt war, wurde uns nicht bekannt. Bald nebelrieselte es nur, bald regnete es wirklich und zeigten sich dazwischen auch Schneeflocken.  Die Erde war nass und der Himmel grau. In der Nähe war es unheimlich und von der Ferne sah man nichts. Dazu wehte auch noch der Wind in der allerunerquicklichsten Weise. Kurz, wer im Freien verweilen musste, konnte gar nicht bei guter Laune bleiben, und wer obendrein auf dem Lichtenfels stand oder auf ihn zumarschierte und die alten düsteren unschönen Gebäude und Werke desselben um sich her oder vor sich sah, musste schon durch diesen Anblick zum Hypochonder werden.

Die bisherige Garnison hatte es im Grunde noch schlimmer als die heranziehende neue. Sie stand schon seit einer Stunde und darüber auf dem großen Hof zum Aufbruch parat, schwer bepackt, ohne Schutz gegen die Regenschauer und den in solcher Höhe empfindlich scharfen Wind, und obendrein ohne Gelegenheit oder Erlaubnis, sich durch Bewegung zu erwärmen. Der Kommandant hatte diese frühe Marschbereitschaft verlangt und trotz des Widerspruchs der Offiziere durchgesetzt – angeblich, weil er genau wisse, dass die neue Kompanie früher eintreffen werde als gewöhnlich. Die Offiziere und Mannschaften witterten indessen etwas von einer Schikane, da der alte Herr mit ihnen sehr unzufrieden gewesen und während der drei Monate gar nicht aus dem Zanken und Fluchen gekommen war. Der Grund war unschwer zu entdecken: Der Oberstleutnant konnte es nicht lassen, sich überall in den inneren Kompaniedienst zu mischen, und war dabei diesmal auf noch entschiedenere Abweisungen gestoßen als bei den anderen Kompanien. Dazu kam, dass die Offiziere seiner Fragelust in keiner Weise genügt hatten und obendrein auch keine Spur von musikalischem Talent verrieten. Kurz, es war die schlechteste Truppe, die er jemals kennen gelernt hatte!

Endlich, endlich, da es mit der Geduld schon fast völlig zu Ende war und die bisher nur gemurmelten Flüche laut zu werden anfingen, klang von der Straße ein gedämpfter Trommelschlag herauf – die Heranziehenden zu sehen, erlaubte, wie gesagt, das Wetter nicht.

»Na, so hat der Teufel sie also doch noch nicht geholt«, sagte der Oberstleutnant, der vom Wall Ausschau hielt, zu seinem Adjutanten mit einer, furchtbaren Verzerrung seines runzligen Gesichts. »Hoffte es beinahe – eine solche nichtswürdige, millionenverfluchte Lodderei ist mir in meinem gan…«

Ein gewaltiges Freudenhurra der unten harrenden Kompanie ließ ihn mitten im Wort abbrechen und so jäh herum- und zurückfahren, dass ihn nur die rasch und fest zugreifende Hand seines Begleiters vor einem schweren Sturz bewahrte. Noch grimmiger riss er sich los und eilte, glühend vor Zorn, der nächsten Treppe zu und hinab – es kam schon ein neues Hurra, denn der Trommelschlag klang immer näher.

»Äh, äh … Herr … Herr Hauptmann!«, schrie der Alte mit jenem heiseren Räuspern und Stammeln seines höchsten Zornes, das ihm unter allen Truppenteilen des Landes den Namen des alten Äh … äh eingebracht hatte, »sie … sie …«

»Ja, gottlob, Herr Oberstleutnant, sie kommen!«, unterbrach der Hauptmann ihn kaltblütig höflich, »es war bald nicht mehr zu prästieren. Die Leute sind, wie Sie sehen, außer Rand …«

»Äh … äh … Herr … Herr … dies nichtswürdige … beispiellose … insubordinationswidrige …«

»Werde es heute Abend noch pflichtschuldigst melden! Der Kamerad mag sich in Acht …«

»Herr … Herr …«

»Nehmen! … Ruhig, Leute! Kompanie stillgestanden! Gewehr auf!«

Der Alte griff sich an die Kehle, als ob er ersticken müsse. Dann schoss er, die Fäuste in der Luft schüttelnd und die lästerlichsten Flüche murmelnd, seinem alten Paradeschimmel zu, den der Bursche weiter rückwärts am Zügel hielt. Der Oberstleutnant liebte seine Pferde und behandelte sie gewöhnlich sehr freundlich, ja zuweilen fast zärtlich. Der ehrwürdige Gaul begrüßte ihn daher auch mit eifrigem Kopfnicken und lebhaftem Wedeln seines kleinen Stutzschwanzes. Allein die herkömmliche Liebkosung des Gebieters verwandelte sich, da das Tier ihm nicht bequem stand, in einen Fluch und einen Faustschlag. Und dann saßen der Herr Kommandant im Sattel und sein Gesicht glich dem schwersten Gewitterhimmel. Der alte Schimmel ließ, tief bestürzt und beschämt über die öffentliche und völlig unerklärliche Misshandlung, Schwanz und Ohren hängen. Der Einmarsch erfolgte, Meldungen, Vorstellungen, Übergabe, Ablösungen – kurz, alles Vorgeschriebene wickelte sich ab. Darauf kam der Ausmarsch und der Alte zog sich zurück. Er hatte keine Silbe mehr gesprochen, als er unumgänglich musste, und jedes Wort hervorgeknirscht. Nur zu dem einrückenden Hauptmann hatte er – gleichfalls natürlich knirschend – gesagt, dass er mit ihm nachmittags noch besonders reden werde. Nun solle er sorgen, dass seine Leute alsbald wieder wie Soldaten aussehen und nicht wie Grasteufel.

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