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Der Spion – Kapitel 24

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 24

Sicherheitsmaßregeln

Zwei Wochen waren verstrichen, seitdem Oliva und Nicodemo sich von Martin Findegern verabschiedeten. In gewohnter Ordnung spannen die Tage sich im Haus wie in der Werkstatt ab. Übrigens hatten die beiden alten Knaben neben der täglichen, oft recht vernachlässigten Werksbeschäftigung alle Hände voll zu tun. Das Sternen- und Streifenbanner kam kaum noch von seinem Mast herunter, so schnell folgten kleinere und größere Siege der Unionsarmee aufeinander, welche solcher Art zu feiern Martin Findegern sich für berufen und verpflichtet hielt. Doch auch Krehle offenbarte trotz seiner unerschütterlichen Gemütsruhe insoweit eine gewisse patriotische Anwandlung, dass er häufiger den zum Lackieren dienenden breiten Borstenquast mit Pinsel, schreienden Ölfarben und Palette vertauschte, um so viel wie nur angänglich dem alten Bau ein neues triumphierendes Feiertagskleid anzulegen. Namentlich hatte er sich zu Findegerns Entzücken auf Schlachtenbilder verlegt, die über ältere Darstellungen hinweg unter seiner geübten Hand förmlich hervorflogen. Es ließ sich nicht leugnen, dass Flammen und Rauchwolken, durchweht mit sprühenden Granaten, Resten von Pulverkarren und abgerissenen menschlichen Gliedern, den Hauptbestandteil dieser aus Wänden, Türen und Fensterläden entstehenden wilden Kriegsszenen bildeten, allein selbst für Nichtkenner leuchtete aus jedem Pinselstrich hervor, dass das Unionsbanner überall voranwehte und die in schwer zu entwirrende Massen zusammen gedrängten Truppen von Sieg zu Sieg führte.

Mit Ergötzen überwachte Houston zu Zeiten diese wie durch Zauber sich entwickelnden Kunstleistungen. Dabei teilte er seine Aufmerksamkeit ziemlich gleichmäßig zwischen der regsam schaffenden Hand, dem in Falten der Erhabenheit gezwängten runden Antlitz Krehles und der stolzen Erscheinung Martin Findegerns, der, den hohen Hut kriegerisch zum einen Ohr hinübergeschoben und die Fäuste hinter der Schürze mit den gespitzten Lippen die Bewegungen des Pinsels gleichsam nachahmte, sogar gelegentlich mit Worten sich an der Malerei beteiligte. Wohl schüttelte Houston zuweilen den Kopf, wenn hier ein halbes Dutzend flüchtig entworfener Unionisten mindestens eine Kompanie Rebellen in die Flucht schlugen, dort ein einzelner Dragoner vier, fünf auf ihn eindringende Angreifer kaltblütig niedersäbelte. Seine Bedenken über derartige Heldentaten auszusprechen, wagte er nicht in der Besorgnis, sich gleich darauf selbst gegen zwei erbitterte Feinde wehren zu müssen. Denn mochten die beiden zusammen alt gewordenen Sonderlinge immerhin in steter Fehde miteinander leben, so waren sie auf dem Feld der Kunst dennoch ein Herz und eine Seele.

Nur einmal verstieg er sich zu der Bemerkung, dass es von Krehle unvorsichtig sei, den bösen Willen seiner heimlichen Feinde herauszufordern, indem er den gewiss tapferen südstaatlichen Soldaten nicht nur keine Gerechtigkeit widerfahren ließ, sondern sie auch als Feiglinge darstellte. Allein dadurch erzielte er nur, dass Krehle einen seiner Pinsel in knallrote Farben tauchte, unten rechts auf den mit verstümmelten Leichen bedeckten giftgrünen, blutbesprenkelten Rasen in kräftigen Zügen Dr. Arminius Krehle fecit niederschrieb und die Beendigung seines Kunstwerks auf eine andere Stunde verschob.

Und die andere Stunde kam, eine Stunde, in welcher Krehle, durch Houstons Tadel verletzt, seiner ausschweifenden Fantasie die Zügel vollends schießen ließ und den beiden Giebelwänden mehrere Klans-Brüder in Talar und Schleierkappen, wie Tommy ihm solche geschildert hatte, weithin sichtbar auftrug, und zwar jeden an einem um seinen Hals geschlungenen Strick von einem Baumast niederhängend. Weder Margarethas noch Houstons Vorstellungen gegen diese barbarische Malerei, die nebenbei die Spottlust der Nachbarn entfachte, fruchteten. Die beiden kriegerisch gesinnten alten Sonderlinge waren eben unverbesserlich. Mit seltener Einmütigkeit beriefen sie sich darauf, in einem freien Land zu leben, in welchem man sich um absprechende Urteile anderer nicht zu kümmern brauche, so lange man alle Ursache habe, mit sich selbst zufrieden zu sein, und dabei blieb es. Zu sicher fühlten sie sich innerhalb des Palisadenzauns, zu fest wurzelte ihre Überzeugung, hinter demselben allen Rebellen und Klans-Brüdern der Welt trotzen zu können.

 

Eine Reihe von Tagen ging wieder dahin. Zu seinem heimlichen Missvergnügen beobachtete Martin Findegern, dass Houston beim Gehen sich kaum noch eines Stockes bediente, als den Bewohnern des Schneckenhauses dennoch eine ernste Mahnung an die Unversöhnlichkeit ihrer heimlichen Feinde zugehen sollte.

Die Nacht war weit vorgeschritten. Wie Findegern, Margaretha und Krehle in ihren Betten, schlief Fegefeuer sanft in der Werkstatt zwischen fertigen und halbfertigen Särgen in einem Haufen Hobelspäne. Es war das Lieblingslager des unstet umherschweifenden Burschen, welches er durch mehrere wollene Decken nach seinem eigenen seltsamen Geschmack auf das Behaglichste vervollständigt hatte. Die Nächte waren bereits kühl, was ihn dazu bewog, sein Lager mit Hobel zu teilen, der sich verständnisvoll fest an ihn schmiegte. Zugleich verscheuchte er durch seine Anwesenheit die Geister Verstorbener, die nach Fegefeuers Beteuerung des Nachts vielfach zwischen den Särgen polterten und klopften.

Wie lange er bereits geschlafen hatte, wusste er selbst am wenigsten, als das leise Regen und Knurren des Hundes ihn ermunterte. Als derselbe sich aber nicht beruhigen wollte, packte ihn die Furcht vor unsichtbaren Feinden. Um durch sein Bellen nicht verraten zu werden, zog er die Decke über Hobels Kopf, durch einen festen Griff zugleich dessen Rachen schließend. Mehrere Minuten ängstlich lauschend, unterschied er endlich das Geräusch vorsichtiger Schritte, die sich um die Werkstatt herum bewegten. Zitternd vernahm er, dass eine Hand sich auf die Schlossklinke legte und mit behutsamem Griff die von innen verriegelte Tür zu öffnen versuchte. Ebenso wurden die beiden Fenster geprüft. Es war ersichtlich, dass man in die Werkstatt hinein zu gelangen wünschte, jedoch, um kein auffälliges Geräusch zu erzeugen, von dem gewaltsamen Einbrechen abstand. Die geheimnisvollen Bewegungen auf der Außenseite nahmen unterdessen ihren ungestörten Fortgang. Bald unterschied Fegefeuer schleichende Schritte, dann wieder das Rascheln zwischen den Hobelspänen, die in dem Winkel zwischen Werkstatt und Haus angehäuft lagen, und endlich das kaum vernehmbare Scharren, mit welchem vorsichtige Hände auf der Rückseite des Schuppens zwischen den Bretterabfällen wühlten. Bei diesen unheimlichen Anzeichen perlte dem sonst so unverzagten Burschen der Angstschweiß auf der Stirn. Doch hinter der verriegelten Tür sich vorläufig sicher wähnend, ermannte er sich allmählich so weit, dass er den Hund, ihn dadurch zum Schweigen zwingend, fest in die Decke einwickelte, deren Zipfel verknotete und demnächst zu Martin Findegerns Hobelbank hinauskroch. Dort lag das eine Fenster dicht vor ihm, durch welches er, vom schwarzen Hintergrund gegen Entdeckung geschützt, mit angehaltenem Atem ins Freie hinausspähte.

Sein erster Blick fiel auf zwei Männer, die, hintereinander gehend, aus Bretterabfällen bestehende Bürden unter den Armen trugen und zum Wohnhaus hinüberschlichen. Dieselben waren kaum aus seinem Gesichtskreis getreten, als aus entgegengesetzter Richtung mehrere Männer mit leeren Händen sich näherten. Dieselben hatten offenbar ihre Holzlasten abgelegt und befanden sich auf dem Weg, neue Vorräte herbeizuschleppen. Sie sprachen leise zueinander. Nur als gedämpftes Murmeln drangen ihre Stimmen zu Fegefeuer herein. Erst als zwei Männer sich gerade vor dem Fenster begegneten, verstand er: »Der Hund muss im Haus sein.« Und von einer anderen Stimme: »So achtet auf die Ausgänge; ob Hund oder Mann: Wer herauskommt, den schießt über den Haufen.«

Fegefeuer fühlte es eiskalt über seinen Rücken rieseln. Aber noch immer neigte er zu dem Glauben, dass es sich nur um das Entwenden von Holz handle, dessen Wert zu gering, um deshalb die Leben der Hausbewohner zu gefährden oder selbst auf den Kopf geschlagen zu werden. Wunderbar erschien ihm nur, dass das erbeutete Holz anstatt zu dem Palisadenzaun, in entgegengesetzter Richtung davongetragen wurde. Eine dumpfe Ahnung drohenden Unheils erwachte in ihm. Die Hobelbank verlassend, begab er sich zunächst zum Hund. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass derselbe, seinen Willen verstehend, in dem engen, warmen Versteck geduldig ausharrte, erstieg er die zur Balkenlage hinaufführende Leiter. Dort oben lag ein größerer Vorrat zum Trocknen bestimmter Bretter, und auf diesen schlich er nach dem fast an das Wohnhaus stoßenden Giebel hinüber, wo eine offene Luke es ihm ermöglichte, zwischen Haus und Werkstatt hinabzuspähen. Auf den ersten Blick überzeugte er sich, dass mehrere Männer damit beschäftigt waren, oberhalb der Hobelspäne Holzabfälle anzuhäufen, während andere fortfuhren, ihre Last um das Haus herumzutragen. Als aber nach einer längeren Pause einer der unten befindlichen Männer ein Schwefelholz anzündete, da begriff er die drohende furchtbare Gefahr in ihrem ganzen Umfang. Aber noch immer in Furcht, durch das Erheben von Feuerlärm Martin Findegern und Krehle vor die Tür zu locken, wo ein sicherer Tod ihrer harrte, nahm er einen der in seinem Bereich liegenden Stab, wie solche die aufeinander ruhenden Bretter voneinander trennten. Weit ausholend, schleuderte er ihn nach Margarethas Fenster hinüber, dass mehrere Scheiben klirrend zersprangen. Zu derselben Zeit leckten unten aus den Hobelspänen die ersten Flammen hervor, um bald an den darüber geschichteten Bretterabfällen empor zu kriechen. Wenn aber das Klirren der Scheiben Margaretha aus dem Schlaf aufschreckte, so diente die zu ihr hereindringende Helligkeit dazu, sie ganz zu wecken. Zum Fenster hinübereilend, riss sie beide Flügel auf. Sich hinauslehnend wurde sie nicht nur des entstehenden Brandes ansichtig, sondern auch mehrerer Männer, die, den Schatten der Werkstatt suchend, eiligst davonschlichen. Zugleich ertönte Hobels Bellen, dem es gelungen war, sich von seiner Umhüllung zu befreien, und der nunmehr mit wahrer Todesverachtung unter wütendem Gebell durch die nächste Fensterscheibe auf den Hof hinaussprang und den flüchtigen Brandstiftern nachsetzte. Doch auch Margarethas Feuerruf ertönte durch das Haus. Keine Minute dauerte es, bis die beiden alten Knaben ins Freie hinausstürmten. Weder auf sie noch auf den Hund wurde ein Schuss abgefeuert. Nicht einmal einen Blick auf die Frevler gewannen Findegern und Krehle, zumal ihr ganzes Trachten darauf gerichtet war, den entstehenden Brand vor seinem weiteren Umsichgreifen zu löschen. So trafen sie früh genug an der gefährdeten Stätte ein, um, entschlossen zugreifend, die bereits glimmenden Bretterabfälle auseinanderzureißen und demnächst die den Hobelspänen noch immer lustig entsteigenden Flammen mittels des von Fegefeuer und Margaretha herbeigetragenen Wassers gänzlich zu ersticken.

So wurde die letzte Gefahr binnen kurzer Frist abgewendet. Dann erst überzeugte man sich, mit welcher Hinterlist die verbrecherische Bande ihre Vorbereitungen getroffen hatte, dass der Brand, wenn einmal entzündet, alle Baulichkeiten beinahe zu gleicher Zeit ergreifen musste. Denn nicht nur auf der noch dampfenden Stelle war mittels Hobelspänen und Holzwerk ein Scheiterhaufen errichtet worden, sondern auch noch auf drei anderen Seiten, von welchen zwei auf das Wohnhaus entfielen, die nur des zündenden Funkens bedurften, um alles in Flammen zu sehen, bevor die Bewohner Zeit gefunden hatten, sich zu retten.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Konnte doch niemand ahnen, ob nicht dennoch in irgendeinem Winkel Brennstoff verstohlen glimmte, um von dem ersten stärkeren Lufthauch zu einem verheerenden Brand entfacht zu werden. Anstatt aber durch den heimtückischen Angriff eingeschüchtert zu sein, bewahrten die beiden alten Knaben ihren heiteren verbissenen Gleichmut. Als der Tag erst heraufgezogen war, da hätte weder Martin noch seinem Hausgenossen jemand angesehen, dass sie mit knapper Not der Gefahr entronnen waren, obdachlos vor einem rauchenden Schutthaufen zu stehen.

Zu ihrem Befremden stellte Houston sich an dem heutigen Tag nicht zur gewöhnlichen Stunde ein. Der Vormittag verstrich, ohne dass er sich blicken ließ; ebenso der halbe Nachmittag. Dann traten die beiden alten Freunde, des weiteren Harrens überdrüssig, in der Werkstatt zu einer kurzen Beratung zusammen. Nachdem sie zu einem festen Entschluss gelangt waren, verschwand Martin Findegern auf kurze Zeit im Haus, um sonntäglich gekleidet wieder im Freien zu erscheinen. Ein schwarzer faltenreicher Rock schlang sich um seine Schultern. Kriegerisch thronte der bessere spiegelblank gebürstete Hut mehr auf seiner Stirn, als auf dem Haupt. Bedenklich wies auch das spitz gedrehte Kinnbärtchen nach vorn. Wer aber sein Antlitz aufmerksamer betrachtet hätte, der wäre über die mit Bosheit geeinte Entschlossenheit erstaunt gewesen, die aus jeder Runzel hervorlugte und sich in der Art kundgab, in welcher er die Brauen zu der Stirn hinaufgeschraubt hatte. So schritt er, in Ermangelung der blauen Schürze beide Daumen in die Armlöcher der Weste gezwängt, feierlich über den Vorplatz dem Torweg zu. Seine fest aufeinandergepressten Lippen verschwanden fast vor dem Eifer, mit welchem er irgendeinen ihm vorschwebenden Plan von allen Seiten beleuchtete. Als er die Pforte erreichte und die Hand eben zum Schloss ausstreckte, wurde dieselbe von außen geöffnet. Vor ihm stand Captain Houston. Durch einen schnellen Blick auf dessen Antlitz überzeugte er sich, dass Ungewöhnliches ihn bewegte, worauf er ihn mit den Worten anredete: »Den ganzen Tag wartete ich vergeblich auf Sie. Und jetzt noch mit der Arbeit zu beginnen, dürfte es doch wohl etwas zu spät geworden sein.«

Houston ergriff die Hand seines wunderlichen Lehrherrns. Dieselbe kräftig drückend, antwortete er mit einem Gemisch von Bedauern und verhaltener Freude: »Dienstliche Angelegenheiten verschuldeten meine Unpünktlichkeit. Ich befinde mich nämlich in der Lage, meine Lehrzeit unterbrechen zu müssen. Schon morgen reise ich zu meinem Regiment ab und bin daher gekommen, um mich von Ihnen allen zu verabschieden.«

Wie von einer unsichtbaren Waffe getroffen, prallte Martin einen Schritt zurück.

»Was!«, rief er aus, »fort und gerade jetzt, da man im Felde alle Vorbereitungen trifft, sich gegenseitig die Hälse zu brechen? Fort, um sich die kaum zusammengeflickten Knochen wieder entzwei schießen zu lassen? Bless you! Bedenken Sie denn nicht, dass Sie auf dem besten Weg sind, ein brauchbarer Tischler und berühmter Möbelfabrikant zu werden?«

Houston lächelte ergötzt. »Es gibt Dinge, die beim besten Willen nicht zu umgehen sind«, sprach er darauf ernst. »Die Pflicht des Soldaten ragt über alle anderen Rücksichten weit hinaus. Neue Schlachten stehen tatsächlich bevor. Beteilige ich mich aber jetzt, da ich wieder fähig bin, ein Pferd zu besteigen und meinen Dienst zu verrichten, nicht an denselben, so würden die Leute mit Fingern auf mich zeigen. Werde ich wirklich zusammengeschossen, so trifft mich kein anderes Los, als es über dem Haupt jedes einzelnen ehrlichen Soldaten schwebt. Ist der Krieg dagegen beendet und ich kehre wohlbehalten zurück, so wird wohl noch eine Stelle in Ihrer Werkstatt offen für mich sein.«

»Zwei Mann, bless you, zwei«, beteuerte Martin förmlich begeistert, »und willkommen sollen Sie mir ebenfalls sein. Doch jetzt gehen Sie zum Doktor und lassen Sie sich von dem erzählen, was wir in dieser letzten Nacht erlebten. Ich befinde mich nämlich auf dem Weg zu einer Auseinandersetzung, die nicht aufgeschoben werden darf, soll nicht dennoch eines Nachts das Haus über unseren Köpfen in Flammen aufgehen. Bin bald zurück, da mögen wir noch eine Weile miteinander verplaudern. Also auf Wiedersehen – die Grethe wird sich recht wundern.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schlüpfte er auf die Straße hinaus, die Tür grimmig hinter sich ins Schloss schmetternd. Kopfschüttelnd blickte Houston auf die geschlossene Pforte. Er erriet, dass Martin sich auf einem Weg befand, welchen er, um keinen Einwendungen zu begegnen, vor ihm zu verheimlichen wünschte, und fürchtete auf Grund seiner Leidenschaftlichkeit für ihn. Da entsann er sich seiner letzten Worte, die offenbar ein böses Geheimnis betrafen. Sich umkehrend, schlug er ungesäumt die Richtung zur Werkstatt ein. Wie so oft spähte er auch heute während des Einherschreitens zu den Fenstern des in erneuerter wilder Bilderpracht prangenden Hauses hinüber, allein vergeblich. Nirgends entdeckte er eine Spur von Margaretha.

Kaum eine Viertelstunde war seitdem verstrichen, als Martin Findegern durch herrisches Ziehen am Glockengriff Einlass in Palmers Garten forderte. Noch ein wenig später, da stand er in dem bekannten Empfangszimmer vor Palmer selbst. Dieser betrachtete ihn befremdet. Allmählich aber ging die auf seinen farblosen Zügen sich ausprägende, an Verachtung grenzende Geringschätzung in Unwillen über. Derselbe wurde dadurch erzeugt, dass die unscheinbare Arbeitergestalt in dem wenig anmutig kleidenden Philister mit einem unbeschreiblichen Ausdruck hohen Selbstgefühls die rechte Hand bis an die Knöchel hinter die Weste geschoben, die linke Hand mit dem Hut auf die Hüfte gestützt und die Füße gespreizt, seinen eiseskalten Blicken mit freundlichem Blinzeln begegnete.

Da Martin nach einer herablassenden Verneigung nicht sogleich mit seinem Anliegen vortrat, bemerkte Palmer in der ihm eigentümlichen schroffen Weise: »Sagen Sie, was Sie zu mir führt. Meine Zeit ist zu kostbar, um sie den Nichtigkeiten eines Fremden opfern zu dürfen.«

»Bless you«, entgegnete Martin wohlgemut, »um Nichtigkeiten möchte ich selbst keine halbe Minute d‘rangeben. Ich bin nämlich der Tischlermeister und Sargfabrikant Martin Findegern, und obendrein jemand, der auf seinen eigenen Füßen steht, wenn Sie je von ihm hörten.« Scharf in Palmers Antlitz spähend, entging ihm nicht, dass bei Nennung seines Namens ein düsterer Schatten über dasselbe hinglitt. »Da bin ich denn in einer Angelegenheit gekommen, die nicht aufgeschoben werden darf, sollen einzelne Leute nicht in recht große Unannehmlichkeiten geraten. Wie ich sehe, sind wir hier ohne Zeugen, da mag ich wohl frei heraus bekennen, dass Sie als einer der verbissensten Sezessionisten bekannt sind, der jemals Ränke gegen die Union schmiedete …«

»Was soll das heißen?«, fragte Palmer scharf. Die Röte des Zornes breitete sich über sein farbloses Antlitz aus. »Wissen Sie weiter nichts, als in elender Anmaßung sich über die Ihnen angewiesene Grenze zu erheben, so ist dort die Tür.«

»Ganz recht«, versetzte Martin sorglos, »die weiß ich sogar ohne Ihre Beihilfe zu finden. Wer aber am meisten dabei verliert, wenn unsere Zusammenkunft verfrüht in die Brüche geht, das bin ich selbst am wenigsten. Doch vielleicht schenken Sie mir geneigteres Gehör, nachdem Sie diesen Wisch gelesen haben.« Die Hand hinter dem Westenflügel hervorziehend, überreichte er Palmer ein in Briefform zusammengelegtes Papier.

Die Blicke durchdringend auf die Augen Martins geheftet, nahm Palmer das Schreiben zögernd, wie durch dessen Berührung angewidert, in Empfang. Mechanisch öffnete er es, bevor er auf dasselbe blickte. Dann aber hätte Martin Findegern weniger scharfsinnig sein müssen, um nicht zu entdecken, dass seine schmalen Lippen sich fester aufeinanderlegten, offenbar um den Eindruck zu verheimlichen, welchen das Schriftstück auf ihn ausübte. Um Zeit zu gewinnen, betrachtete er es länger, als Zeit erforderlich, sich mit dessen Inhalt vertraut zu machen. Dann gab er es mit einer nachlässigen Bewegung an Martin zurück; aber schneidend klang seine Stimme, indem er anhob: »Was soll ich damit? Was bezwecken Sie überhaupt mit Ihren Belästigungen?«

»Weiter nichts, als Ihnen zu beweisen, dass ich auf festen Füßen stehe. Sie schütteln den Kopf, als ob es mit meiner Vernunft nicht recht bestellt wäre? Bless you, da muss ich schon deutlicher reden, um Sie zu überzeugen. Einige Wochen ist es her, da besuchte jemand im Auftrag eines gewissen Kampbell einen abgedankten Dampfer, auf welchem eine Anzahl Männer der verrufensten Sorte ihre nächtlichen Zusammenkünfte abzuhalten pflegten. Den durchforschte er von oben bis unten. Bevor er ihn anzündete, wozu anderweitige Entdeckungen ihn berechtigten, nahm er ein Päckchen Papiere an sich, welche jene Männer bei sich zu Hause wohl nicht gut genug aufbewahrt glaubten und daher dort versteckt hatten. Diese Schriftstücke sind mir also auf den Rat dieses Kampbell für außergewöhnliche Fälle anvertraut worden, und das hier ist nur eins davon. Ich war nämlich schlau genug, die ganze Sammlung an zuverlässige Freunde zu verteilen, sodass, wenn ich oder ein anderer von uns nachts plötzlich einmal Schaden nehmen sollte, immer noch jemand da ist, mittels der verhenkert feinen Schriften ein schweres Verhängnis auf eine Gesellschaft verkappter Rebellen und sogenannter Klans-Brüder herab zu beschwören. Daraus ersehen Sie, dass ich mich hier so sicher fühle, wie an jedem anderen Ort der Welt. Denn verschwände ich wirklich einmal, so würde das mindestens ein halbes Dutzend Gentlemen an den Galgen liefern, die heute noch als unbescholtene Leute auf den Straßen einherschreiten.«

Während dieser Erklärung hatte Palmer Gelegenheit gefunden, die schwankende Selbstbeherrschung wieder einigermaßen zu verfestigen und jeden anderen Ausdruck, als den einer durch Widerwillen gezügelten Ungeduld von seinem Antlitz zu verdrängen. Sobald Martin aber eine Pause eintreten ließ, sprach er unter dem vollen Eindruck des Bewusstseins der ihn und seine Freunde bedrohenden furchtbaren Gefahr mit offen zur Schau getragener Entrüstung. »Mit Ihren mir unverständlichen Erzählungen sind Sie vor die unrechte Tür geraten. Ich fordere Sie daher auf, mein Haus sofort zu verlassen. Ich kenne weder Sie noch Ihre Klans-Genossen oder Kampbells …«

»Bless you, Mann«, fiel Martin nunmehr erregter ein, »Ihr Haus werde ich auch ohne Ihre Aufforderung hinter mich legen, rate Ihnen aber, mich zuvor zu Ende anzuhören, oder Sie und all diejenigen, deren Namen ich als Nummern verzeichnet in meinen Händen halte, möchten Ursache finden, Ihre Weigerung zu bereuen …«

»Sie wagen, mich zu bedrohen?«, unterbrach Palmer ihn. Er trat ihm einen Schritt näher, sodass Martin die Feuchtigkeit auf seiner hohen Stirn unterschied. »Mich zu bedrohen aufgrund elenden Geschreibsels, welches mir ebenso unverständlich ist, wie Ihre auf mich gemünzten heimlichen Absichten sind?«

»Ja, bedrohen«, bestätigte Martin, seine Füße noch ein wenig weiter auseinanderstellend und die rechte Hand wieder in seine Weste schiebend, »und zwar zu Ihrem eigenen Besten. Denn ich bin nicht der Mann, dem es gefiele, ein Lynchgericht zu vermitteln, so lange er nicht dazu gezwungen wird. Sie wollen Ihre Sicherheit, und ich will die meine. Die gewinne ich allein dadurch, wenn unter den heimlichen Rebellen hier am Ort bekannt wird, dass ich in meiner Faust den Hals von so und so viel Schurken halte, deren Gewerbe es ist, mit Strick, Messer und Revolver denjenigen zu Leibe zu gehen, die getreu zu der Union stehen.«

»Dem Wahnwitz entsprossene Märchen. Sind Sie noch nicht fertig damit?«, fragte Palmer. Obwohl es ihn nur einen Wink gekostet hätte, den unheimlichen Gast durch seine Diener entfernt zu sehen, wagte er doch nicht, denselben zum Äußersten zu treiben.

»Noch nicht ganz«, antwortete Martin in dem Gefühl seines Übergewichts. Mit der ganzen ihm möglichen Würde richtete er sich etwas höher auf. »Nein, Herr, nicht ganz, denn noch fehlt die Hauptsache. Haben Sie die erst gehört, und zwar zu Ihrem eigenen Segen – ich bin nämlich kein Bluthund, der sich an den Leiden anderer ergötzte – so werden Sie es mir danken, dass ich überhaupt zu Ihnen kam.«

Eine kurze Pause ließ er hier eintreten. Mit innerer Befriedigung betrachtete er den stolzen, über Millionen gebietenden Südländer, wie derselbe langsam auf und ab wandelte und mit den Zähnen auf seinen Lippen nagte. In dem gleichsam krampfhaften Trachten, sich keine Blöße zu geben, sah er, trotz der wiederholten Merkmale von Ungeduld, mit heimlichem Beben den weiteren Kundgebungen Martins entgegen. Er wollte ermessen, was noch daran fehlte, um das über seinem Haupt und dem manches Gesinnungsgenossen schwebende Damoklesschwert zum Fallen zu bringen. Erst als er stehen blieb und den alten Sargfabrikanten mit Blicken prüfte, die er zuvor in schnell tötendes Gift getaucht zu haben schien, hob dieser wieder an: »Die Menschen können über Politik denken, wie es ihnen gefällt, ohne dass es sie hindert, sich gegenseitig ungeschoren zu lassen. Bless you! Soll gekämpft werden, so ist das Sache der Armeen und nicht der einzelnen friedlichen Bürger. Wird man hingegen heimtückisch angegriffen, so gibt das die Berechtigung, sich nachdrücklich zu wehren, und so ergeht es mir. Ich kenne nämlich keinen anderen Wunsch, als auf meinem Grund und Boden ungestört so zu leben, wie es mir am besten behagt, und das scheint anderen ein Dorn im Auge zu sein. Denn wie man versuchte, zwei rechtschaffene Männer, die einige Tage unter meinem Dach ehrliche Gastfreundschaft genossen, im Missouri-Bottom aufzuknüpfen, so traf man in verflossener Nacht Anstalt, mein Haus nebst Werkstatt in Asche zu legen. Dergleichen muss ich mir ein für alle Male ernstlich verbitten. Dass Sie selber eine Hand mit drinnen hatten, traue ich Ihnen nicht zu. Wohl aber weiß ich aus den erbeuteten Papieren, dass Sie einen großen Einfluss auf die Schurken besitzen, die in ihrer Wut vor keinem Verbrechen zurückschrecken. Denen also erzählen Sie, wenn es Ihnen gefällt: Sofern auch nur eine Miene gemacht wird, mich und die meinen an Gut und Blut zu schädigen, wandern die in meinen und meiner Freunde Hände befindlichen Papiere noch zur selbigen Stunde zum Richter und unters Volk. Da wollen wir sehen, ob nicht einige von den Schurken an die Laterne oder den Galgen wandern.«

Palmer trat dichter vor Martin hin. Sein Antlitz war totenbleich. Große Tropfen perlten auf seinen Schläfen. Dem einfachen Handwerker gegenüber fühlte er sich in einer entsetzlichen Lage. Von ihm abhängig zu sein, war mehr, als er glaubte, ertragen zu können. Zu der Besorgnis um seine Zukunft gesellte sich unbezähmbare Wut, die fürchterlichsten mittelbaren Anklagen ungestraft über sich ergehen lassen zu müssen, zumal von einem Mann, der in seinen Augen nicht mehr wert war, als der Staub unter seinen Füßen.

»Ich erstaune selbst über meine Langmut«, sprach er zwischen den fest aufeinander ruhenden Zähnen hindurch. »Dass ich mich so in meinem eigenen Haus beschimpfen lasse, ohne zu den mir zu Gebote stehenden Mitteln der Abwehr zu greifen, findet seine Erklärung nur in der unsäglichen Verachtung Ihrer Person wie Ihres Auftretens. Ich wiederhole daher nochmals: Sie sind mit Ihrem sinnlosen Geschwätz an den unrechten Mann gekommen. Ich kümmere mich ebenso wenig um Ihre Papiere, wie um etwaige Brandlegungen und sonstige Verdächtigungen, die nur in einem kranken Gehirn gekeimt sein können. Und so fordere ich Sie zum letzten Mal auf, sich zu entfernen, wenn nicht Gewaltmaßregeln angewendet werden sollen.«

»Gewaltmaßregeln?«, fragte Martin Findegern. Er blinzelte freundlich verschmitzt. »Bless you, ich denke, das eilt nicht, und hinterher werden Sie sich glücklich preisen, mich nicht zum Äußersten getrieben zu haben. Es bleibt also dabei: Für die Sicherheit meines Hauses und dessen Bewohner sind diejenigen verantwortlich, deren Namen von dem verbrannten Dampfer heruntergeholt wurden. Und noch eins, zum Schluss: Ich setze voraus, Sie werden auch ohne meine Bitte Miss Harriet Palmer hindern, den Unterricht bei meiner Nichte fortzusetzen. Mir passt es ebenso wenig wie Ihnen, wenn fremde Nasen sich in meine Angelegenheiten stecken.«

Wie ein gereizter Tiger, dem Krallen und Zähne geraubt wurden, rüstete Palmer sich zu einer seinen Empfindungen entsprechenden Kundgebung, stand aber davon ab, als Martin sich höflich, jedoch etwas linkisch verneigte und mit der Haltung eines Triumphators das Zimmer verließ. Es trug ihn das begründete Bewusstsein, sich gegen alle ferneren Nachstellungen gesichert zu haben. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, lauschte Palmer ihm mit nach vorn geneigtem Haupt misstrauisch nach. Erst als seine Schritte vor dem Haus verhallten, warf er sich in den nächsten Armsessel. Mit beiden Händen das weiße Schläfenhaar ergreifend, beugte er den Nacken tief. Die Demütigungen, welche er über sich ergehen lassen musste, waren zu schwer, zu unerhört in seiner unabhängigen Lage, in seiner hohen gesellschaftlichen Stellung, um nicht unter denselben zusammenzubrechen. So saß er in ohnmächtiger Wut da, verwünschend die Stunde, in welcher verblendete Wüteriche ihn zu Unternehmungen verleiteten, die ursprünglich nicht im Einklang mit seinen Anschauungen stehend, nur zu Zeiten fanatischer Regungen seine Billigung fanden. Dann schüttelte ihn wieder die Furcht vor den Folgen, wenn die von dem verbrannten Dampfer entführten Schriftstücke eine weitere Ausnutzung erfahren sollten. Wer die äußerlich ehrwürdige Greisengestalt in ihrer Zerknirschtheit beobachtet hätte, möchte von Mitleid für sie beschlichen worden sein.

»Fort, fort von hier«, lispelte er unbewusst, während seine Blicke unstet zwischen den Arabesken auf dem Teppich suchten. »Fluch der Union! Fluch jedem einzelnen, der seine Hand zur Unterdrückung hundertjähriger Institutionen lieh! Fluch und Tod …« Er verstummte. Im Nebenzimmer war eine Tür aufgegangen. Leichte Schritte wurden vernehmbar. Es war seine Tochter.

Mit einer gewaltigen Anstrengung richtete er sich auf.

»Armes, treues Kind«, lispelte er wieder, »wenn du wüsstest, welche Deutung dein Heldenmut erfuhr.« Als Harriet bei ihm eintrat, da hatten seine Züge sich freundlich geglättet. In seinem Inneren aber fraß und nagte der von Fanatismus gebotene, von bitterem Hass genährte Giftwurm immer weiter.