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Der goldene Fels – Kapitel 8

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Achtes Kapitel

Karl Georg de la Motte hatte Besuch von Herrn von Dellwitz gehabt. Es war kein Gespräch von angenehmer Art gewesen, das die beiden miteinander geführt hatten. Dellwitz war sehr dringend geworden mit einem, durch schweren Spielverlust in letzter Nacht begründeten, Verlangen. Karl Georg sollte sofort jene Summe zurückzahlen, die sein Versucher ihm kurz zuvor am Spieltisch geliehen hatte. Da der andere sich im Augenblick unfähig erklärt hatte, zu zahlen, war Dellwitz mit einer Drohung herausgekommen, zum Kommerzienrat Helbig zu gehen und ihn für seinen Schwiegersohn zahlen zu lassen. Schließlich hatten die beiden sich dahin geeinigt, das de la Motte in zwei Tagen bestimmt seine Schuld bezahlen, Dellwitz aber so lange warten solle.

De la Motte begleitete seinen Besucher über den Flur bis an die Haustür. Dann ging er in sein Arbeitszimmer zurück. Und hier in der Einsamkeit fiel eine bisher künstlich bewahrte Selbstbeherrschung von ihm ab. Seine Figur schien kleiner zu werden, indem sie die künstliche Spannung verlor, und er legte die Hand mit einem Ausdruck von Müdigkeit und Hilflosigkeit auf sein Gesicht. So stand er ein paar Sekunden, die bunte Welt umher verhüllend, als ob er ihren Anblick nicht mehr ertrage. Doch dauerte die Schlaffheit nur kurze Zeit. Gleich darauf war er wieder ganz er selbst. Sein Gesicht gewann die Rundung und Frische zurück, er zog seine Kleidung zurecht, als ob er dem Körper mit ihr einen Halt geben wollte, und verließ in Eile sein Zimmer. Auf dem Flur nahm er Hut und Mantel, trat aus dem Haus und schlug außerhalb des Gartens den Weg talaufwärts ein, wo seines Vaters Behausung zur Linken vor ihm auf einem Waldhügel sichtbar wurde.

Nach einer halben Stunde kam er zurück. Er war sehr bleich und sein Gesicht hatte den Ausdruck unheimlicher Entschlossenheit.

Für eine Viertelstunde ging er in sein Arbeitszimmer im Erdgeschoss. Dann stieg er mit wieder lächelndem Gesicht die Treppen zu seiner Wohnung hinauf und sang dabei leise vor sich hin. Oben trat er leicht und heiter in Marthas kleinen Salon, wo der Kommerzienrat, noch übler gelaunt als am Tage zuvor, knurrend und brummend seinen Rheumatismus pflegte. Zu Marthas Erleichterung hatte Helbig herausgefunden, dass ihr Vorlesen seine Nerven und mit ihnen seine Schmerzen aufregte. Darum saß er jetzt allein, in einen Haufen von Zeitungen und Briefschaften vergraben.

»Du musst verzeihen, Schwiegerpapa«, sagte de la Motte, »wenn ich dich ganz ergebenst erinnere, dass wir heute den ersten Oktober haben.«

»Und weil wir ihn haben, verlangt mein edler Herr Schwiegersohn als Erster am ersten Oktober seinen Gehalt. Ich denke, darauf läuft es doch wohl hinaus, nicht wahr?«

»Ich will es nicht leugnen, dass ich das Geld gebrauchen könnte.«

»Du bist wahrhaftig ein Gemütsmensch! Die verkörperte Rücksicht! Ich sitze hier, winde mich in Schmerzen und soll hinuntergehen, um dir dein Gehalt ja recht pünktlich auszuzahlen. Denn das muss ich dafür … an meinen Geldschrank darf niemand heran.«

»Aber ich bin es doch nicht allein, der heute Gehalt von dir bekommt.«

»Allerdings nicht. Und weil das ist, bin ich auch entschlossen, mir das Martyrium aufzuerlegen und noch einmal die Treppen zu steigen. Für meine braven, fleißigen Arbeiter will ich mich opfern. Wer arbeitet, soll auch essen. Deinetwegen täte ich es nicht. In einer halben Stunde will ich unten sein, eher nicht. So lange wird es doch wohl noch Zeit haben?«

»Gewiss. Ich werde nur erlauben, mich dann zu melden. Also in einer halben Stunde.«

Karl Georg sprach im Hinausgehen, abgewendet vom Kommerzienrat. Sein Gesicht hatte wieder den starren, gespannten Ausdruck wie beim Nachhausekommen, und seine Stimme klang merkwürdig hohl.

Für eine Weile blieb Helbig allein, stöhnte, las und stöhnte wieder. In diesem Zustand war es ihm erfreulich, als Hofen gemeldet wurde. Sein Besuch versprach etwas Abwechselung in der Monotonie des Tages.

»Sie verzeihen, Herr Kommerzienrat, wenn ich störe«, sagte Hofen beim Eintreten. »Aber ich war vorgestern schon einmal hier, um Ihnen meinen Besuch zu machen und Ihnen …«

»Jawohl, ich habe sehr bedauert. Vorgestern … ja, da konnte ich noch ausgehen. Und heute sitze ich hier als armer, schmerzgeplagter Lazarus.«

Hofen wollte bedauernd ein paar Worte sagen, musste jedoch noch eine sehr eingehende Schilderung von den Schmerzen Helbigs, ihrer ganz besonderen Art und ihrer ganz ungewöhnlichen, heimtückischen Heftigkeit über sich ergehen lassen, bevor er dazu kam.

Dann sagte der Kommerzienrat: »Und nun zerstreuen Sie mich armen Dulder ein wenig. Erzählen Sie mir, was es Neues in der Stadt gibt.«

»Etwas Neues kann ich erzählen. Der schöne Herr Zebosek hat sich verlobt.«

»Mit wem denn?«

»Mit einer, wie man sagt, mit allerlei Glücksgütern, Bergwerken, Hammelherden und Lebertranfabriken gesegnete Russin. Er hat sie vor drei Tagen kennengelernt.«

»Donnerwetter, so schnell?«

»Mit Luxuszuggeschwindigkeit. Aber dafür macht er nun ein Gesicht, noch dreimal so melancholisch wie vorher.«

»Ist sie so garstig?«

»Sie schielt ein wenig mit dem linken Fuß. Übrigens ist nicht allzu viel an ihr auszusetzen.«

Helbig lachte. »Na, da hört man doch wenigstens mal was Lustiges aus der Stadt. Was im Übrigen da jetzt passiert, ich danke. Diese Schwindeleien, Einbrüche, die dort an der Tagesordnung sind, hat man denn noch immer keinen von den Kerlen gefasst?«

»Nein. Optimistische Leute behaupten, die Polizei wartet vorsichtig ab, um dann auf einmal ein ganzes Gaunernest auszuheben. Einstweilen aber wird fleißig weiter gestohlen, geschwindelt, chloroformiert …«

»Es ist ja schauderhaft, rein schauderhaft!«

»Herr Kommerzienrat haben ja so recht. Schauderhaft ist es. Aber ich für meine Person kann den Burschen doch nicht sehr böse sein. Sie haben wenigstens noch Fantasie. Und ich liebe sie schwärmerisch, diese hohe, himmlische Göttin, die das Aschenbrödel unserer Zeit ist. Wahrhaftig, wenn wir nicht noch Verbrecher, Kinematografen und Kriminalromane hätten, wir wüssten es nur noch vom Hörensagen als graues Märchen, dass es einmal etwas wie Fantasie gegeben hat.«

»Ich danke gütigst für solche Fantasie. Und wenn Sie vorige Nacht in meinem Bett gelegen und gehört hätten, wie das in der Wand neben mir gekratzt hat, Sie dankten ebenso dafür.«

»Das müssen Sie mir erzählen, Herr Kommerzienrat«, sagte Hofen lebhaft interessiert.

Helbig war mit Vergnügen bereit, von diesem neuen Leiden, das ihn heimgesucht hatte, ganz ausführlich zu berichten, wurde jedoch durch die Meldung des Dieners unterbrochen, dass Herr Ebisberg ihm seinen Besuch zu machen wünsche.

»Ebisberg, warten Sie einmal. Sehen muss ich ihn, er kommt in Geschäften. Aber Sie dürfen mir auch nicht wieder fortlaufen, Herr von Hofen. Halt, ich habe es.«

Er wandte sich an den Diener. »Sagen Sie dem Herrn Ebisberg, ich lasse bitten, in meinem Arbeitszimmer unten ein wenig zu warten. Ich käme in zehn Minuten hinunter, das hab’ ich nämlich versprochen. Und, warten Sie«, rief er dem Diener noch nach. »Gehen Sie dann in den Keller und holen Sie mir eine Flasche von dem Lafitte herauf. Die müssen Sie nachher mit mir trinken«, er sprach nun wieder zu Hofen, als der Diener gegangen war. »Aber jetzt muss ich Ihnen erst einmal erzählen, was mir vorige Nacht passiert ist.«

Nun ging es los. Von den Krankheiten, an denen er unschuldigerweise litt, von der durch übermäßiges Arbeiten erzeugten Schwäche der Nerven, von Plagenbeschwerden, schwieriger Verdauung machte Helbig zunächst noch einmal eine weitläufige Reise bis zu dem gegenwärtig ihn peinigenden Rheumatismus. Von den Krankheiten kam er auf die Schlaflosigkeit, von der Schlaflosigkeit auf die Schrecken der vergangenen Nacht. Mit aufgeregter Lebhaftigkeit, mit beschreibenden Gesten, die wieder mehrfache Schmerzensrufe zur Folge hatten, wurden sie mit breiter Ausführlichkeit geschildert. Reichlich schon waren die zehn Minuten verflossen, die für den Bericht von ihm selbst bestimmt worden waren, als Helbig stöhnend ein Ende fand.

Hofen hatte nur, wie der Chor im griechischen Trauerspiel, mit eingestreuten, mitleidsvollen Ausrufen die Leidenstragödie des Kommerzienrats begleiten können. Jetzt erst kam er zu eigener Meinungsäußerung.

»Dass die Sache für Sie höchst unbehaglich war, kann ich mir denken. Sie dürfen mir es aber nicht übel nehmen, wenn ich hinzufüge, dass ich solche grauenvolle Geschichten mit wahrer Wonne höre. Das hängt wohl mit meiner Verehrung für die viel verlästerte Fantasie zusammen. Und ich wäre ganz besonders dankbar, wenn ich den Ort einmal besichtigen dürfte, wo die schreckensvollen Geräusche der letzten Nacht sich haben vernehmen lassen.«

»Aber selbstverständlich, Herr von Hofen. Die Herren von der Polizei lassen ohnedies auf sich warten. Sie werden freilich nichts entdecken. Ich selbst habe die Wand schon mit aller Sorgfalt untersucht. Aber wenn es Ihnen Spaß macht, ich muss jetzt hinuntergehen. Das Volk meiner Arbeiter schreit nach Brot …«

Mühsam und umständlich, ein paar Mal zusammenknickend, erhob sich Helbig von seinem Sessel und nahm dankbar Hofens willig dargebotenen Arm. Langsam ging es die Treppe hinunter.

Gleich neben dem Treppenhaus zur Linken lag sein Schlafzimmer, dahinter folgte in gleicher Flucht ein Arbeitsgemach, dem das von Karl Georg auf derselben Seite sich anschloss. Neben ihm endete der Flur an der schweren Holztür, die zur Brücke hinausführte.

Helbig ließ Hofen in sein Schlafzimmer eintreten. Sein Bett stand rechts an der Wand, auf deren Rückseite sein Büro lag. In dieser Wand, ohne jeden Zweifel in dieser Wand, hatte der Kommerzienrat es in der Nacht rumoren hören. Hofen bat um Erlaubnis, das Bett abrücken zu dürfen und schob es dann mit kräftigem Ruck beiseite.

»Dazu haben meine Kräfte freilich nicht gelangt«, murmelte der Kommerzienrat. Sein Besucher kniete nieder und befühlte, beklopfte die Wand von unten herauf mit einer fast fachmännischen Fertigkeit. Aber sein Kopfschütteln besagte, dass er nichts Absonderliches entdecken könne, und seine Worte bestätigten dann seine verneinende Bewegung.

»Hier ist keine Spur von irgendetwas Außergewöhnlichem. Aber um sicherzugehen, müsste man auch die Wand von der anderen Seite her untersuchen, ebenso dann im Keller und in den oberen Räumen. Solche Geräusche pflanzen sich im Stein wie der elektrische Funken im Draht fort.«

»Wenn Sie wollen, können wir das machen. Sie müssen sich nur für eine Weile drüben in meinem Wohnzimmer gedulden. Ich kann jetzt Herrn Ebisberg nicht länger warten lassen.«

Sie gingen wieder hinaus in den Flur und begegneten Martha, die gerade, zum Ausgehen angekleidet, von oben herunterkam.

»Du, Marthchen, das trifft sich gut«, rief Helbig. »Wenn du es nicht gar zu eilig hast, leiste dem Herrn von Hofen im Wohnzimmer etwas Gesellschaft. Ich muss jetzt einmal ins Büro zu dem Herrn Ebisberg, der dort wartet.«

Frau de la Motte erklärte sich höflich bereit und öffnete die Tür zum gegenüberliegenden Wohnzimmer für den Besucher. Helbig humpelte davon. Er hatte jede weitere Hilfeleistung abgelehnt, indem er sagte: »Lasst mich, die Pflicht ruft mich. Ich habe keine Zeit, müde zu sein.«

Martha führte Hofen in das bezeichnete Gemach, nötigte zum Sitzen und begann ein gesellschaftliches Gespräch. Aber sie brachte den ersten Satz nicht einmal zu Ende. Gerufen, geschrien ertönte draußen von ihres Vaters Stimme dreimal ihr Name: »Martha, Martha, Martha!«

Sie sprang empor, die Tür tat sich auf. Mit bleichem Gesicht und vorquellenden Augen, von Schrecken geschüttelt, erschien der Kommerzienrat in ihr, sich anklammernd an den Pfosten.

»Um Gotteswillen, kommt einmal her, in meinem Zimmer, der Herr Ebisberg, er liegt am Boden, ich glaube, der Mann ist tot!«

»Vater, tot?«

»Rasch, wir müssen sehen, ob wir nicht helfen können.« Es war Hofen, der die Worte sprach.

Martha war im tödlichen Erschrecken noch bleicher geworden als ihr Vater. Aber sie nahm all ihre Kräfte zusammen und stützte mit Hofen den bebenden Kommerzienrat. So eilten sie mit ihm hinein ins Arbeitszimmer. Was er ihnen gesagt hatte, bestätigten ihre Augen. Gerade vor dem Geldschrank, rechts, an der Scheidewand zu dem Arbeitsgemach von Karl Georg, lag auf dem Teppich, der den ganzen Fußboden überdeckte, Herrn Ebisbergs Gestalt lang ausgestreckt, bewegungslos. Er war nach links hin anscheinend gegen den Lehnstuhl aus Eschenholz gefallen, der von seinem Platz vor dem alten Schreibtisch des Kommerzienrates verrückt schien. An der linken Schläfe des Liegenden war eine kleine, blutende Wunde sichtbar. Auf dem verzerrten Gesicht zeigte sich ein Ausdruck des Entsetzens, der darin eingemeißelt schien. Hofen eilte zu dem regungslosen Körper hin und kniete neben ihm nieder, befühlte Stirn und Hände, horchte am Herz, um dann mit gedämpfter Stimme zu sagen: »Da wird kaum noch jemand helfen können. Soweit ich es verstehe, der Mann ist tot.«

»Um Gottes willen, tot? Wirklich tot? Hier in meinem Zimmer? O mein Gott, mein Gott, was kommt alles über mich!«

Anklagend und Hilfe suchend zugleich hob Helbig seine Hände zum Himmel. Hofen nahm wieder das, Wort. »Auf alle Fälle müssen wir so rasch wie möglich einen Arzt haben. Darf ich telefonieren?«

»Aber natürlich. Draußen im Flur. Gleich gegenüber an der Wand.«

Hofen eilte hinaus, und Helbig begann laute Klagen über das ihn rastlos verfolgende Missgeschick. Zu all den Schmerzen und Qualen jetzt auch noch dies! Aber der Ton einer geöffneten Tür unterbrach ihn. Es war die von Karl Georgs nebenan gelegenem Gemach, und er selbst erschien in der Öffnung.

In der Heiterkeit seines auch in diesem Augenblick lächelnden Gesichtes lag ein unheimlicher Gegensatz zu den bleichen, aufgeregten Mienen der Übrigen. Und nicht einmal dann verschwand sein Lächeln ganz, als Martha für ihren Vater das Wort nahm und ihm eilig erzählte, was geschehen war.

Beim Anblick der hingestreckten Gestalt aber ging auch über sein Gesicht ein jähes Erschrecken. »Ebisberg!«, rief er aus. »Wie kommt Ebisberg hierher?« Gleich aber war er wieder gefasst und setzte ruhiger hinzu: »Vielleicht ist es ein Ohnmachtsanfall. Ist kein Wasser hier? Ich will rasch ein Glas Wasser holen.«

Er eilte fort in sein Zimmer und kam, im selben Augenblick wie Hofen von der anderen Seite, gleich darauf zurück, ein gefülltes Wasserglas in der Hand haltend. Aber ob er nun stolperte, ob er doch aufgeregter war, als er scheinen wollte, das Glas entfiel seiner Hand, indem er niederkniete, um es dem bewegungslosen Körper an die Lippen zu sehen. Es fiel auf den weichen Teppich, ohne zu zerbrechen, das Wasser floss darüber hin.

De la Motte schalt sich selbst. »Wie ungeschickt! Aber im Augenblick, als ich ihn so aus der Nähe sah, vielleicht habt ihr doch recht, und er ist wirklich tot.«

Sie bemühten sich weiter um den Liegenden, der kein Zeichen wiederkehrenden Lebens gab. Auch Hofen war wieder neben ihm niedergekniet und betastete den bewegungslosen Körper. Eine tiefe, furchtbare Stille breitete sich über das Gemach, nicht einmal der Kommerzienrat wagte mehr, sich in Klagen zu ergehen. Es war die feierliche Nähe des Todes, die den Lebenden Schweigen gebot neben dem stumm Gewordenen am Boden. Martha klammerte sich mit bebenden Armen an einen Tisch, um nicht auch niederzusinken.

In die tiefe Stille klang der Ton eines Klopfens an der Tür zum Flur merkwürdig laut hinein. Helbig schrak zusammen, er musste die Hand auf das Herz pressen, bevor er ein »Herein!« stammeln konnte.

Die Tür tat sich auf. Burkhardt wurde sichtbar in ihr, ein Paket von Schriftstücken in der Hand. Martha stand ihm am nächsten, und seine Blicke hafteten auf ihr. Ohne sich im Zimmer umzusehen, sprach er mit heiserer Stimme:

»Wenn ich störe, Herr Kommerzienrat, ich wollte die Lohnlisten bringen.«

»Aber so sehen Sie doch her«, schrie Helbig ihn an. »Sie sprechen von Lohnlisten, und hier am Boden liegt Ebisberg tot!«

Ein Ton des Entsetzens kam von Burkhardts Lippen. »Tot! Um Gottes willen! Das ist ja nicht möglich, das darf nicht sein!«

Er stürzte zu dem daliegenden Körper hin und starrte darauf nieder. Aber dann war es plötzlich, als ob er von einer unsichtbaren, unwiderstehlichen Gewalt herumgezogen würde.

Martha war es, die seine Blicke suchte, und in den Augen, die sich nun begegneten, war das gleiche, sie versteinernde Grausen.

Jetzt kam der Diener herein und meldete den Arzt. Es war ein Herr in mittleren Jahren, von ruhig sicherem, vertrauenerweckendem Wesen. Er brauchte zu seiner Untersuchung nur kurze Zeit, um dann sein Urteil abzugeben. »Hier ist menschliche Hilfe vergebens. Das Leben kommt in diesen Körper nicht mehr zurück. War er allein im Zimmer, als er starb?«

»Jawohl, er wartete hier auf mich«, sagte Helbig.

»So war also kein Zeuge bei seinem Tod zugegen, und wir müssen uns mit Vermutungen behelfen. An der Schläfe hier ist eine Wunde, Sie sehen das Blut. Und ein wenig Blut ist auch hier am Bein von dem Sessel. Ich glaube, dass der Tote durch einen Schlaganfall niedergestreckt worden ist und sich im Fallen die Wunde zugezogen hat. Allerdings …« Er schwieg überlegend einen Augenblick, bevor er weitersprach. »… allerdings bleibt noch eine zweite Möglichkeit.«

»Welche denn? Welche denn?«

»Die Wunde kann von einem Schlag herrühren, der Stuhl kann als Waffe gedient haben.«

Helbig stöhnte laut auf, Martha taumelte zurück. Aus den Augen Karl Georgs flog ein rascher Blick zu Burkhardt hinüber, dessen Gesicht sich seltsam verzerrte. Nur Hofen bemerkte diesen Blick.

»In meinem Haus gibt es doch keine Mörder!«, schrie der Kommerzienrat beinahe weinend.

»Ich rede ja nur von Möglichkeiten«, sagte der Arzt besänftigend. »Wie schon bemerkt, ich selbst glaube, dass ein Schlaganfall vorliegt. Vermutlich war der Verstorbene herzleidend, was ja kein Wunder wäre, weil unser Kurort hauptsächlich von solchen Patienten besucht wird.«

Der Kommerzienrat schüttelte den Kopf. »Er war kein Kurgast, er war der Sohn eines alten Geschäftsfreundes von mir. Mein Gott, wie soll ich dem guten Mann das Entsetzliche beibringen? Aber mit seinem Herzen war der Verstorbene wirklich nicht in Ordnung, sein Vater hat es mir öfter geklagt.«

»Nun also. Vermutlich ein Herzinfarkt. Ich werde, wenn Sie gestatten, gleich von hier aus an die Polizei telefonieren und veranlassen, dass alles geschieht, was nötig ist, auch um Sie von diesem traurigen Anblick zu befreien.«

»Ach ja, tun Sie das«, bat Helbig in kläglichen Tönen.

Der Arzt nickte zustimmend und ging auf den Flur hinaus. Martha und Burkhardt standen immer noch wortlos, bewegungslos, erstarrt vor Entsetzen.

Hofen war nach dem Fortgehen des Arztes noch einmal neben Ebisberg niedergekniet und beschaute, betastete mit angespannter Aufmerksamkeit wieder und wieder den toten Körper, den mit leichten Blutspuren befleckten Stuhl, den Teppich.

In das neue, tiefe, angstvolle Schweigen klang auf einmal die Stimme de la Mottes merkwürdig schrill und hoch hinein, indem er Hofen zu rief: »Kommen Sie, Herr von Hofen, Sie bemühen sich vergeblich. Den da weckt keiner mehr auf.«