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Rübezahl – Der Wegweiser

Rübezahl
Der Berggeist des Riesengebirges
Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang
Der Wegweiser

Zwei Handwerksburschen waren auf dem Gebirge angelangt und unterhielten sich laut und lebhaft, um sich die Zeit zu verkürzen, aber auch, um sich gegenseitig zu belehren und, wenn es nottäte, zu bekehren. Es waren keine von der gewöhnlichen Sorte, sie trugen sich fein, hatten gute Manieren und wollten für etwas Besseres gelten.

Dabei war der eine ein Schneider, der andere ein Buchdrucker, der Erstere aus Sachsenhausen vor Frankfurt am Main, der andere aus Erfurt in Thüringen. Beide hatten mancherlei gelesen, führten auch Bücher mit sich und entwickelten eine gewaltige Beredsamkeit. Sie unterhielten sich auch nicht über die Wanderschaft, über Städte, die sie gesehen, über Meister, bei denen sie gearbeitet hatten, und deren Schrullen, über gute und schlechte Quartiere, über Mädchen, Kirmessen und Jahrmärkte, sondern über Staatswohl, Regierung und Politik. Ein Doktor der Weltweisheit hätte da viel lernen können.

»Das ist in Frankfurt wie in anderen Ländern im Reich auch, alles verpfuschter Kram. Sie verstehen nicht zu regieren, die Herren. Sie meinen, wenn einer so eine weiße Lockenperücke aufsetzt, eine feierliche Miene macht und eine goldene Kette über den Amtsmantel hängt, dann ist er was Besonderes, und alle anderen sollten auf den Knien vor ihm rutschen. Und dabei hat mancher einfache Handwerksgesell mehr Verstand als er. Nur ein Beispiel für tausend. Bei dem letzten großen Umzug am Sankt Michaelistag, was meinst du, Landsmann, wohin sie da die Schneider gesteckt haben? Zu drittletzt! – Zu drittletzt, Landsmann! Die Weinpanscher, die Küfer, die Flickschuster, die Maurer, diese Klatschmannen, die Bäcker, selbst die Gerber – alles war uns voraus. Die ganze Zunft war wütend, und einige hitzige Leute schlugen schon vor, mit der Zunftfahne alle zusammen aufs Rathaus zu rücken. Aber so geht’s.«

»Mehr Ordnung, Gevatter, und mehr Freiheit müsste sein. Warum schaffen sie bei uns die Meisterprüfungen nicht ab? Wozu die Plackerei mit dem Meisterstück? Mag doch jeder zusehen, wie er mit den Kunden fertig wird. Und die vielen Zölle, die sie auf das englische Papier gelegt haben. Wozu die Zölle?, frage ich. Bloß damit die Buchdrucker einen schweren Stand haben.«

»Wozu denn überhaupt Steuern und Auflagen? Die mögen die Junker und Bauern bezahlen. Wenn ich zu befehlen hätte, schaffte ich alle Steuern, Zölle und Auflagen ab.«

»Und ich den Rat und den Bürgermeister.«

»Und die Polizei müsste weg und die Richter.«

»Die Bäcker müssten die Semmeln noch einmal so groß backen, die Schelme verdienen genug daran.«

»Die Bauern müssten die Butter um drei Kreuzer billiger geben. Übrigens, da wir einmal vom Essen reden, so muss ich dir doch sagen, Landsmann, dass ich einen Mordshunger habe.«

»Es geht mir genau so, Gevatter, nur dass ich obendrein noch sehr müde bin. Es müsste eben mehr Ordnung sein. Wenn ich zu befehlen hätte, dann müsste in den Gebirgen im ganzen Römischen Reich nach jeder Wegstunde ein Schrank dastehen, in dem jeder Reisende wenigstens Brot fände und einen kleinen Schnaps. Und das wäre sehr einfach zu machen. Wer keinen Hunger hat, der geht eben vorbei und sieht die Futterkiste gar nicht an, wer aber einen Happen herausnimmt, der legt dafür einen Pfennig hinein oder zwei, wenn er so viel hat, und für das Geld wird dann wieder frisch angeschafft, und was daran fehlt, das legen die Junker und die Bauern zu. Das wäre so mein Vorschlag.«

»Mir ist übrigens, als ob hier in der Nähe eine Schenke wäre. Richtig, da steht ein Haus, und zwar ein Gasthaus, und da, denke ich, ruhen wir uns aus.«

»Furchtbar altmodisches Gebäude! Wenn ich zu regieren hätte, Gevatter, mit den alten Buden räumte ich auf. Solche Mauselöcher! Ich müsste alles in italienischem Stil haben, oben ein plattes Dach, dass einer drauf spazieren gehen und sich sonnen kann, aber auf so einem Ziegelhaufen kann allenfalls nur ein Dachhase spazieren gehen.«

Die beiden Weltverbesserer waren in Rübezahls Reich gekommen und wussten nicht wie. Der Alte vom Berge hatte ein Wirtshaus hingesetzt und fragte sie nach ihren Wünschen.

»Aber erst will ich wissen, was der Kram kostet«, meinte der Erfurter, »denn mit den Wirten, da heißt’s aufgepasst.«

»Ich werde die Herren nicht übervorteilen«, meinte Rübezahl, brachte ihnen, was sie verlangten, und nahm nur einen mäßigen Preis.

»Das Volk ist hier zurück in der Bildung«, meinte der Schneider. »Je weiter man ins Gebirge hineinkommt, desto altfränkischer tragen sie sich, und desto weniger verstehen sie sich auf ihren Vorteil. In Köln am Rhein hätten sie uns für diese Mahlzeit das Dreifache abgeknöpft. Herr Wirt, könnten wir wohl bei Euch übernachten?«

»Warum nicht?«, antwortete er, »wenn ihr mit der Ofenbank vorlieb nehmen wollt.«

»Nun, auch gut«, meinten sie. »Dann macht nur eure Funzel bald aus und lasst uns zufrieden, denn wir sind sehr müde.«

»Ganz wie die Herren wünschen. Und ist sonst noch etwas gefällig?«

»Nein, aber da wir in der Gegend hier fremd sind, könntet Ihr uns wohl sagen, wohin wir kommen, wenn wir so weitergehen.«

»Morgen früh will ich euch zeigen, wohin ihr noch einmal kommt«, antwortete Rübezahl mit Nachdruck, blies die Kerze aus und empfahl sich sehr rasch. Es wurde stockdunkel um sie her, sodass den beiden Aufschneidern nichts übrig blieb, als sich auf der Bank auszustrecken und es sich da so bequem wie möglich zu machen. Es war ein hartes und kühles Lager, aber die Burschen waren vom Wandern und Reden müde geworden und schliefen rasch ein.

Der frische Morgenwind weckte die Schläfer. Sie sahen sich erst groß an, dann die Umgebung, und fanden, dass sie gar nicht in einem Haus, sondern im Freien lagen.

Sie blickten in die Höhe und gewahrten mit Grausen, dass sie sich unter dem Galgen befanden. Gerade über ihren Köpfen hingen zwei Diebe, die wohl gestern gehenkt worden waren.

Da sprangen sie eilig davon und hatten nicht eher Ruhe, bis sie den Ort des Grauens nicht mehr erblickten. Beständig klangen ihnen auch die letzten Worte des Wirtes in den Ohren.

»Mit dem Gastwirt und seiner Spelunke da oben war es nicht richtig«, meinte der Erfurter, als sie endlich zum Ausruhen kamen, »das war einer, der mehr konnte als Brot essen.«

»Magst recht haben, Landsmann«, sagte der andere. »Seinen Wegweiser werden wir uns wohl zeitlebens merken.«