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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Marone – Quaco, der Führer

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 35

Quaco, der Führer

Quaco war höchst schweigsamer Natur und machte deshalb durchaus keinen Versuch, Herberts Nachdenken zu unterbrechen, bis sie zusammen mehr als eine Viertelmeile gegangen waren. Dann brachte eine besondere Erwägung den Mann zum Stillstehen und führte folgende Unterhaltung herbei.

»Zwei Wege von hier, Buckra, beide können wir einschlagen, aber dieser zur Rechten ist der kürzeste und auch der beste Weg.«

»Warum denn diesen nicht nehmen?«

»Oh, Herr, dafür sprechen verschiedene Gründe.«

»Wie so? Warum ihn meiden?«

»Ja-a!«, erwiderte Quaco mit nachdenklichem, gedehntem Ton.

»Was für Gründe denn, Freund?«

»Sehen Sie da nicht das Dach eines Hauses, gerade über den Spitzen jener Pawpaws?«

»Ja, was ist damit?«

»Das ist die Baracke.«

»Die Baracke?«

»Ja, das Haus des Juden Jessuron.«

»Und was macht das aus?«

»Oh, Buckra, was das ausmacht? Wenn wir den Weg zur Rechten einschlagen, müssen wir an diesem Haus vorbei, und einige von seinen Leuten werden uns gewiss sehen. Jessuron ist Friedensrichter und wir können viel Unannehmlichkeiten haben.«

»Oh, wegen des Flüchtlings, meinst du? Der Hauptmann sagte, er gehöre einem Herrn Jessuron.«

»Eben so viel wegen der Hunde, als wegen des Menschen. Der Hauptmann hatte ein Recht, den Flüchtling als seinen Fang zu betrachten. Aber diese spanischen Schufte werden Lärm wegen der Hunde machen. Sie werden sagen, der Hauptmann tötete sie ihnen zum Schabernack, und sie werden das beschwören. Da es überhaupt bekannt ist, dass wir Gebirgsmänner solche Tiere nicht leiden können, die sich in unser Geschäft einmischen.«

»Aber weder ich noch du haben ja die Hunde getötet?«

»Oh, Buckra, das ist alles gleich … Sie halfen … Ihre Flinte half die Hunde zu töten. Außerdem haben Sie die Schelme abgehalten, dem Adler seinen Fang abzujagen.«

»Was ich tat, kann ich ganz gut vor einem Friedensrichter verantworten, mag es nun dieser Jessuron oder irgendein anderer sein«, sagte der junge Engländer im Bewusstsein, durch die Teilnahme an dem Streit recht getan zu haben.

»Vom Richter Jessuron wird gerade nicht viel Gerechtigkeit zu erwarten sein. Mein Rat ist, sich von der Gerichtsbarkeit so lange wie möglich fernzuhalten. Das können wir nur, wenn wir den Weg zur Linken einschlagen.«

»Ist denn der Umweg bedeutend?«, fragte Herbert, der nicht gerade sehr viel Gewicht auf die von seinem Begleiter vorgebrachten Gründe legte.

»Nicht bedeutend«, antwortete Quaco, obgleich er keineswegs ganz die Wahrheit sprach, denn der Weg, den er einschlagen wollte, war in der Tat viel länger, als der, welcher bei Jessurons Haus vorbeiführte.

»In diesem Fall«, erwiderte Herbert, »nimm den Weg, der dir gefällt.«

Ohne weiteres Reden schritt Quaco auf dem zur Linken abführenden Weg fort, ganz, wie zuvor, schweigend von Herbert gefolgt.

Der nun eingeschlagene Weg führte unausgesetzt durch Wälder und war stellenweise wegen des dornigen Dickichts sowie wegen der Unebenheit des Bodens schlecht zu gehen. Endlich erreichten sie den Gipfel eines hohen Bergrückens und gingen nun zwischen Pimenthainen hin, die nicht so dicht wie der frühere Wald waren.

Von dem Gipfel des Bergrückens sah Herbert ein großes, aus der grünen Landschaft hervorschimmerndes Haus, das er sofort als das Gutshaus von Willkommenberg wiedererkannte.

Auf dieses Haus gingen sie nicht gerade zu, sondern in einer davon schrägen Richtung, die sie zu der großen Allee nahe bei dem Eingangstor hinführen musste.

Herbert rief seinem Führer zu, haltzumachen.

Der junge Mann wollte nicht gern in die Allee gehen, weil er leicht jemandem von seines Onkels Leuten begegnen konnte. Er nicht wünschte, dass dies dann im großen Haus erzählt würde. Er forderte deshalb Quaco auf, ihn auf einen etwas mehr zur Rechten liegenden Weg zu führen, sodass er die Hauptstraße erreichen könne, ohne von Willkommenberg aus gesehen zu werden.

Der Führer willigte ein, aber nicht ohne einiges widerstrebendes Murren, denn beim Drehen murmelte er einige Worte über die »Baracke«, und dass man ihr so weit wie möglich entfernt bleiben müsse. Dessen ungeachtet schlug er eine andere Richtung ein, und nach einem abermaligen Gang durch die Wälder befand Herbert sich zu seiner Zufriedenheit auf der nach Montego Bay hinführenden Hauptstraße.

Er würde dies schwerlich gewusst haben, hätte der Führer es ihm nicht gesagt, da er auf dieser Hauptstraße nur bis zum Tor von Willkommenberg geritten war und der Punkt, auf welchem er sie nun erreichte, eine ziemliche Strecke weiter entfernt lag. Jedenfalls hätte er besser getan, er hätte Quaco alles anheimgegeben und sich von ihm auf dem ursprünglich von ihm beabsichtigten Wege führen lassen. Auf diese Weise würde er die Hauptstraße auf einem der Stadt näher gelegenen Punkt erreicht und wahrscheinlich einen höchst unangenehmen Vorfall vermieden haben.

Auf der Hauptstraße bedurfte er nun des Führers nicht mehr, und Quaco war gerade im Begriff, ihn zu verlassen, als in dem Augenblick plötzlich ein Trupp Reiter um eine Biegung des Weges herumkam, als hätten sie ein höchst dringendes Geschäft.

So wie er diese Fremden erblickte, schoss Quaco wie ein Pfeil in das Unterholz und rief dem Buckra zu, dass er ihm folgen möchte.

Herbert verschmähte, sich zu verbergen, und blieb mitten auf dem Weg stehen.

Als Quaco diesen Entschluss sah, kehrte er an seine Seite zurück, nicht ohne gegen die Unklugheit seines Schützlings laut Einspruch zu erheben.

»Mag ihr Aussehen nicht leiden«, murmelte der Marone, als er vorsichtig nach den Reitern sah. »Das muss – nein, das ist wahrhaftig der gierige Ravener, der Aufseher Jessurons. Nun, Buckra, nun sitzen wir in der Patsche! Es hilft nichts, ihnen entfliehen zu wollen!«

Während Quaco dies ausrief, hatten die Reiter sich genähert und hielten sämtlich auf dem Platz still, wo die Fußgänger standen.

»Hier ist unser Mann!«, schrie der bärtige Mann an ihrer Spitze, den Herbert sofort erkannte. »Just ihn getroffen, wie die Ente den Maikäfer! Nun, Herr Tharpey, tun Sie Ihre Schuldigkeit! Wir wollen doch einmal hören, was dieser junge Mann wohl vor Gericht sagen wird.«

»Ich verhafte Sie, Herr«, sagte die als Herr Tharpey angerufene Person. »Ich bin Oberconstabler der Gemeinde, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.«

»Aus welchen Grund?«, fragte Herbert unwillig.

»Herr Ravener hier wird die Anklage machen. Ich habe damit nichts zu tun. Sie müssen sich vor dem nächsten Richter stellen, und ich denke, der nächste hier wird wohl der Custos Vaughan sein?«

Diese halbe Frage des Constablers war nicht an Herbert, sondern an seine eigenen Begleiter gerichtet.

Obgleich nur mit leiser Stimme gesprochen wurde, hörte der junge Mann es doch ganz genau, und zwar mit großem Missvergnügen. Zu seinem Onkel zurückgeführt zu werden, dem er erst gestern Trotz geboten hatte, und zwar als ein Missetäter zurückgeführt zu werden. Unter solchen neuen dringenden Umständen den schönen Augen seiner reizenden Cousine ausgesetzt zu sein, wie dem eingekniffenen Augenglase seines früheren Reisegenossen, das waren in der Tat alles höchst unangenehme Aussichten. Darum gewährte es ihm wirklich einige Erleichterung, als Ravener, der auf den Constabler und sein bewaffnetes Gefolge keinen geringen Einfluss auszuüben schien, die Behauptung, dass Herr Vaughan die nächste Gerichtsperson sei, als unbegründet bestritt, und diese Ehre entschieden für Jacob Jessuron, Gutsbesitzer in dem Glücklichen Tal, beanspruchte.

Nach einigem Hin- und Herreden zwischen beiden Teilen über diesen wichtigen Gesetzespunkt wurde zuletzt die Meinung des Aufsehers als richtig anerkannt und demzufolge beschlossen, dass die Angelegenheit vor den Richter Jessuron gebracht werden solle.

Sowohl Herbert als auch Quaco wurden nun förmlich im Namen des Königs festgenommen und dann unter Bedeckung abgeführt, nicht ohne dass der Letztere einige sehr laute Einwendungen erhob, indem er zugleich heftig drohte, dass er den Constabler sowohl wie den Aufseher schon einmal für diese Gewalttat gegen einen freien Maronen zur Verantwortung ziehen werde.

Gutsbesitzer Jessuron hielt Gericht auf derselben Veranda seines schmutzigen Wohnhauses, auf der wir ihn bereits bei Gelegenheit eines von diesem gänzlich verschiedenen Schauspiels gesehen haben.

Jetzt saß er an einem kleinen runden Tische, der von einem Stück grünen Wollenzeuges bedeckt war und worauf sich eine goldene Schnupftabaksdose, ein Tintenfass, Federn und einige Bogen Papier befanden.

Zwei Bücher lagen ebenfalls auf dem Tisch, von denen eines in deutlichen Buchstaben auf dem Einband den Titel trug: Der jamaikanische Richter. Es war in schwarzes Leder gebunden, eine dem Hauptgegenstand, worüber es handelte, entsprechende Farbe, denn mindestens vier Fünftel der Gesetze und Verordnungen, die es enthielt, bezogen sich auf Geschöpfe mit schwarzer Haut.

Der Richter war, wie es die Gelegenheit erheischte, im vollen Kostüm, das heißt, er trug seinen besten blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen, dicke Tuchhosen und Stulpenstiefel. Der weiße Biberhut war beiseitegelegt, da das Ansehen des Gerichtes erfordert, dass selbst des Richters Haupt unbedeckt bleibt. Indes auch nur so weit, lediglich auf den Hut, erstreckte sich die Rücksichtnahme des Richters Jessuron, denn die weiße baumwollene Nachtmütze verblieb auf seinem Schädel, weil das Gesetz auf Jamaika nicht so streng ist, um ihre Entfernung als notwendig erscheinen zu lassen.

Mit wohl auf der Nase befestigter Brille und das dünne, magere Gesicht zu einem Ausdruck der höchsten Wichtigkeit aufgestutzt, saß Gutsbesitzer Jessuron hinter dem grünbedeckten Tisch, der das Gericht vorstellte.

Er war freilich der einzige anwesende Richter, aber es sollte ja auch nur eine vorläufige Untersuchung vor einer Amtsperson stattfinden. Und einen weißen Verbrecher wegen einer so schweren Beschuldigung, wie die gegen Herbert Vaughan vorgebrachte, wirklich vor Gericht zu stellen, wäre ein voller Gerichtshof erforderlich gewesen, mindestens drei Magistratspersonen, von denen einer ein Custos war.

Jessurons Macht konnte niemals weiter gehen, als den vermeintlichen Verbrecher ins Gefängnis zu schicken, bis ein förmlicher Prozess gegen ihn eingeleitet wurde.

Herbert war vor den Tisch hingestellt worden, und der Constabler sowie einige aus dessen Gefolge standen hinter ihm. Zur rechten Seite erschien Ravener mit den beiden spanischen Caçadores, die nun aber nicht mehr, wie früher, von ihren Hunden begleitet waren.

Quaco war unbewacht unten im Hof gelassen worden, da gegen ihn wirklich nicht das Geringste vorlag.

Noch ein anderer Zeuge war bei dieser Amtshandlung zugegen – die Tochter des Richters selbst. Ja, die schöne Judith war hier zugegen, wie bei allen wichtigeren Vorkommnissen, aber diesmal nicht ganz offensichtlich, denn sie saß in einem zur Veranda zu geöffneten Fenster, das schöne Gesicht halb hinter dem netzartigen Fransenzeug der Gardinen verborgen. Diese Stellung ließ sie alles Vorhergehende beobachten, ohne sich selbst den Blicken anderer auszusetzen.

Ihr Gesicht war keineswegs gänzlich verborgen, denn ihre glänzend weiße Stirn und ihre dunkel leuchtenden Augen strahlten durch den florähnlichen, sie verschleiernden Musselin und erschienen so noch reizender und verführerischer.

Aus ihren Bewegungen war es auch klar, dass die schöne Judith gar nicht die Absicht hatte, ungesehen zu bleiben. Es waren verschiedene gut aussehende junge Leute in der den Constabler begleitenden Gesellschaft, kecke, verwegene Burschen, die er auf seinem Weg zusammengerafft hatte und die nichts mehr liebten, als einen Vogel der Art. Von dem Augenblick an, wo diese in den Hofplatz eingetreten waren, stand die schöne Herrin des Hauses beständig am Fenster.

Erst nachdem sich sämtliche Anwesende auf der Galerie verteilt hatten, nahm sie ihren Platz hinter der Gardine ein und besah sich die verschiedenen Personen und Gesichter etwas genauer.

Hiermit war sie noch nicht lange beschäftigt, als man auf ihrem Gesicht und in ihrem Betragen eine große Veränderung hätte wahrnehmen können.

Anfänglich waren ihre Augen von einem Gesicht zum anderen mit einem fast spöttischen Lächeln gewandert, wie es die Frau sehr wohl anzunehmen verstand.

Plötzlich blieb ihr Blick an einem Gegenstand hängen, und das verächtliche Lächeln machte einem ernsteren und milderen Blick Platz. Leicht mochte der Gegenstand dieser Blicke entdeckt werden. Es war der vor Gericht stehende Gefangene!

Was hatte dieser Blick aber nur zu bedeuten? Etwa Mitgefühl mit dem Angeklagten?

Sie wusste sehr wohl, warum der junge Mann hier vorgeführt wurde. Ravener hatte ihrem Vater von allem berichtet, soviel er selbst wusste, und die Tochter hatte die Erzählung mit angehört. Regte sich jetzt in der Brust der schönen Judith ein edelmütiges Mitleid mit der traurigen Lage, in der sich dieser unbekannte Jüngling befand, und hatte dies eine solche plötzliche Veränderung in ihrem ganzen Wesen hervorgebracht? Eines solchen Gefühls war ihr Herz wohl kaum fähig.

Aber dennoch war sie offenbar von einer außergewöhnlichen Regung ergriffen, denn im Verlauf des Verhörs blickte sie nicht mehr verstohlen hinter der Gardine hervor, sondern zog diese auf die Seite, sah den Fremden geradewegs an und hielt ihre Augen fest auf ihn gerichtet, vollkommen unbekümmert über alle Bemerkungen, die ihr Betragen hervorrufen musste.

Ihr Vater, der ihr den Rücken zukehrte, sah nichts davon, obwohl es von den anderen nicht unbeachtet blieb, besonders von Ravener, den es sehr zu verdrießen schien.

Der junge Engländer, wenn auch für den Augenblick wenig aufgelegt, irgendetwas anderes als seine eigene trübe Lage zu betrachten, musste dennoch das schöne Gesicht, das sich ihm gerade gegenüber befand, bemerken, und ebenso den besonderen Blick, mit dem er angesehen wurde.

Wer war der alte Binsen, vor dem er zum Verhör stand? War er der Vater des holdseligen Geschöpfes am Fenster? So musste er sich unwillkürlich selbst fragen, während er beide abwechselnd betrachtete. War dies wirklich der Fall, so waren die Drohblicke des Vaters im grellsten Widerspruch mit den sanften, fühlenden, von der Tochter ihm zugesandten Blicken. Diese Bemerkung musste Herbert notgedrungen sich selbst machen.

Einige Zeit war damit hingegangen, dass der Aufseher die Tatsache erzählte, um die Anklage zu begründen. Hierauf sollte der Gefangene sich nun verteidigen.

»Junger Mann«, sagte der Richter, »Sie haben gehört, was dieser Zeuge gegen Sie vorgebracht hat. Was haben Sie nun zu Ihrer Verteidigung zu sagen? Und zuerst: Wie ist Ihr Name?«

»Herbert Vaughan.«

Jessuron setzte seine Brille besser zurecht und sah auf den Gefangenen mit sichtlichem Erstaunen an. Sämtliche Anwesende, sowohl der Constabler als auch die Übrigen, schienen ein wenig unangenehm überrascht. Quaco, dessen Riesengestalt hoch über die der anderen hinausragte, stieß dagegen ein Befriedigung verratendes Grunzen aus, als er des jungen Mannes Namen hörte, den er zuvor noch nicht gewusst hatte, und der nun gar der des in diesem Bezirk allmächtigen Custos selbst war.

Auf einen Anwesenden allein schien diese Enthüllung einen von bloßer Verwunderung gänzlich verschiedenen Eindruck hervorzubringen. Ein Blick des Zornes schoss aus den dunklen Augen der Jüdin, als sie den verhassten Namen vernahm, und das bis dahin in ihnen vorherrschende Mitgefühl erlosch einen Augenblick.

»Herbert Vaughan?«, wiederholte, der Richter. »Sind Sie etwa irgendein Verwandter von Herrn Vaughan in Willkommenberg

»Ja, sein Neffe,« war die kurze und trockene Antwort.

»Ah, sein Neffe! Bei meiner Seele, ist das wahr?«

Diese unerwartete Entdeckung brachte bei dem Juden plötzlich eine außerordentliche Aufregung hervor. Nach dem Wenigen, was über seine geheime Feindschaft mit seinem Nachbar von Willkommenberg bekannt war – Ravener wusste mehr davon – hätte man erwarten sollen, dass die Entdeckung der Verwandtschaft des Gefangenen ihn in große Freude versetzt haben würde. Zu Gericht über den nächsten Verwandten des Custos zu sitzen, eines schweren Verbrechens angeklagt, war für Jacob Jessuron jedenfalls eine seinen Stolz befriedigende Lage, da er sich mancher von dem stolzen Herrn von Willkommenberg ihm widerfahrenen Geringschätzung erinnern musste. Und nun, welche glänzende Vergeltung!

Offenbar schien das ganze Betragen des Richters, als er in Erfahrung gebracht hatte, wer vor ihm stand, dergleichen Überlegungen zu verraten. Er rieb sich die mageren Hände, nahm eine Prise aus seiner goldenen Schnupftabaksdose, lächelte grinsend, schielte fröhlich hinter den Brillengläsern, die noch einmal auf den scharfen Nasenrücken geschoben waren, hervor, beugte dann sein Gesicht vorwärts über den Tisch und verblieb einige Augenblicke lächelnd und freundlich, aber unverkennbar darüber nachdenkend, wie er nun weiter verfahren solle.

Nach einer Weile erhob er seine Augen und musterte abermals den Gefangenen, der auf seine letzte Frage bereits eine bejahende Antwort erteilt hatte.

»Bei meiner Seele! Ich wusste gar nicht, dass Herr Vaughan einen Neffen hat! Sie sind von England, junger Mann? Hat Ihr Onkel noch mehr Neffen in England?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Herbert unumwunden. »Meiner Meinung nach bin ich sein einziger Verwandter, in England wenigstens.«

Dieser Vorbehalt seiner Antwort verriet eine nicht unbedeutende Tatsache, dass der junge Mann nämlich mit den Familienangelegenheiten seines Verwandten in der Kolonie keineswegs ganz ausreichend bekannt war.

Der scharf sehende Richter bemerkte diesen Mangel an Kenntnis des Neffen sogleich ganz wohl.

»Wie lange sind Sie schon auf Jamaika gewesen?«, fragte er, als wünsche er eine Erklärung über etwas ihm rätselhaft Verbliebenes.

»Eine Nacht und einen Teil von zwei Tagen, im Ganzen ungefähr sechszehn Stunden«, erwiderte Herbert mit gewissenhafter Genauigkeit.

»Bei meiner Seele!«, rief der Richter wieder aus.

»Nur sechszehn Stunden! Wunderbar, dass Sie nicht in Ihres Onkels Haus sind? Sind Sie da gewesen?«

»O ja«, antwortete Herbert sorglos.

»Sie wollen sich zu Willkommenberg aufhalten, nicht wahr, he?«

Herbert antwortete auf diese Frage gar nicht.

»Sie schliefen die letzte Nacht da. Entschuldigen Sie mich, junger Mann, wegen dieser Frage, aber als Magistratsperson …«

»O, Sie können die Antwort gern hören, Ehrwürdiger Gestrengen«, sagte Herbert und legte einen satirischen Nachdruck auf die eigentümliche Titulatur, »ich schlief die letzte Nacht dort nicht?«

»Wo schliefen Sie denn?«

»Im Wald«, antwortete Herbert.

»Moses!«, rief der Jude aus und schob verwundert seine Brille in die Höhe. »Im Wald, sagen Sie?«

»Ja, im Wald«, wiederholte der junge Mann, »unter einem Baum. Auch ein vortreffliches Bett fand ich dort«, sagte er scherzhaft hinzu.

»Und wusste Ihr Onkel davon?«

»Ich glaube, mein Onkel wusste nichts davon und würde sich wohl auch wenig darum gekümmert haben«, erwiderte Herbert mit vollkommener Sorglosigkeit über die gegebenen Antworten.

Der bittere Ton, in welchem die letzten Worte nachdrücklich gesprochen waren, entschlüpften der scharfen Beobachtungsgabe Jessurons nicht. Es stieg in ihm sofort der Verdacht auf, dass in der Verwandtschaft zwischen dem jungen Mann und seinem Onkel wohl etwas nicht ganz richtig sein müsse, wozu ihm die Antwort des Ersteren, zusammen mit der Kenntnis des Charakters und der Verhältnisse des Letzteren, den richtigen Schlüssel verlieh. Deshalb glänzte eine heimliche Freude in seinen eingesunkenen Augen, als er die zuletzt gegebene Antwort hörte.

Sofort unterbrach er die Befragung des Gefangenen, gab Ravener und dem Constabler einen Wink, näher heranzutreten, und war mit diesen beiden würdigen Leuten alsdann bald in einem leisen Gespräch begriffen.

Was unter diesen Dreien vorging, vermochte weder der junge Engländer, noch irgendjemand anderes der zufällig Gegenwärtigen zu sagen. Das Ergebnis war indes für Herbert eben so angenehm als unerwartet.

Als Jessuron sich nun wieder zu ihm wandte und ihn anredete, schien eine vollkommene Umänderung in seinem Benehmen stattgefunden zu haben, und an der Stelle des drohenden Richters sah Herbert jetzt mehr einen freundschaftlichen Beschützer vor sich, mild, sanft lächelnd, ja fast gehorsam.

»Herr Vaughan«, sagte er, stand von seinem Magistratssitz auf und reichte seine Hand dem Gefangenen, »Sie müssen die grobe Behandlung, die Sie von dem Volk erfahren hoben, entschuldigen. Es ist freilich ein großes Verbrechen hierzulande, einem flüchtigen Sklaven zu helfen, aber da Sie gerade erst hier gelandet sind und man nicht wohl annehmen kann, dass Sie unsere Gesetze gleich kennen, so behandelt das Gesetz eine solche erste Übertretung sehr milde. Übrigens ist in diesem Fall der Flüchtling, der einer meiner Sklaven ist, nicht entwischt. Er ist in den Händen der Maronen und wird hier wohl bald wieder eingebracht werden. Die Strafe, die ich Ihnen auferlege, und ich muss auf Ihre genaue Vollstreckung bestehen, ist, dass Sie bei mir zu Mittag essen, und ich denke, das ist hinreichend bestraft. Herr Ravener,« fügte er hinzu, rief seinen Aufseher und zeigte zugleich auf Quaco, »nehmt den guten Burschen mit Euch und sorgt für ihn. Nun, Herr Vaughan! Treten Sie gefälligst in mein Haus und erlauben Sie mir, Sie meiner Tochter Judith vorzustellen!«

Sicher wäre es allem menschlichen Wesen entgegen gewesen, hätte Herbert Vaughan sich nicht sehr über die glückliche Wendung befriedigt gefühlt, die diese unangenehme Angelegenheit für ihn genommen hatte. Diese Befriedigung wurde indes durch die ihm vorgeschlagene Vorstellung vielleicht noch vergrößert, denn wohl kein Mann, wie kalt er auch sonst von Natur sein mochte, hätte auf diese bezaubernden, ihn schon so lange vom Fenster aus bewachenden Augen blicken können, ohne eine Bekanntschaft mit deren Besitzerin zu wünschen.

Der zornige Blick war bereits verschwunden, schon lange vor dem Schluss der Untersuchung. Als der junge Engländer, der Einladung seines früheren Untersuchungsrichters Folge leistend, über die Veranda zu ihr hinschritt, erschien ihr schönes Gesicht von dem süßesten und teilnehmendsten Lächeln übergossen.

Eine Antwort auf Der Marone – Quaco, der Führer