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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis zweier Ozeane 33

Drittes Buch
Achtes Kapitel

Kochau-Rongo-Rongo

Vor vielen Jahren, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, entwickelte Dr. Hans Goldschmidt eine chemische Reaktion, die später nach ihm benannt wurde. Die Wirkung dieser Reaktion besteht darin, dass ein Gemisch von Metalloxid und Aluminiumpulver beim Abbrennen Temperaturen bis zu 3000 Grad Celsius liefert, indem sich das Aluminiumpulver unter großer Wärmeentwicklung mit dem Sauerstoff des Oxids verbindet. Dabei bildet sich flüssiger Stahl, der den zu schweißenden Gegenstand umgibt, und ein flüssiges Aluminiumoxid als Schlacke, das sich später verhärtet und danach abgebrochen wird.

Dieses Gemenge aus Metalloxid und Aluminiumpulver heißt Thermit. Als die »Goldschmidt-Reaktion« bekannt geworden war, diente sie vorerst nur zur Gewinnung einiger einfacher Eisenlegierungen und zum Schweißen von Bahngeleisen.

Vierzig Jahre lang wurde das Thermit in sehr beschränktem Maße in Laboratorien und in der metallurgischen Praxis verwendet, bis schließlich sowjetische Wissenschaftler die vielseitigen Möglichkeiten des Thermits entdeckten. Es stellte sich heraus, dass jedes beliebige Metalloxid reduziert werden kann, und zwar in einem einfachen Tiegel, ohne besondere Vorrichtungen, nur unter Hinzufügung bestimmter Elemente wie Aluminium, Lithium, Natrium, Silizium. Besonders kennzeichnend für den Verlauf der »Thermit-Reaktion« sind die außergewöhnlich hohen Temperaturen, die sich dabei entwickeln. Die Reaktion Wolfram-Aluminium liefert eine Wärme von 7500 Grad Celsius, also mehr als die Oberflächentemperatur der Sonne, die bei 6000 Grad Celsius liegt.

Als Krepin sein U-Boot baute, hatten sowjetische Wissenschaftler schon erreicht, dass die Thermit-Reaktion sogar unter Wasser ebenso angewendet werden konnte wie unter normalen Bedingungen autogenes Schweißen und Schneiden, jedoch viel einfacher und gefahrloser.

Diese Thermitschweißung wollte sich nun Kosyrew zunutze machen, um den Düsenring wieder an seinen Platz zu versetzen. Der Ring war aus einer so schwer schmelzbaren Legierung angefertigt, dass kein anderes Schweißverfahren wirksam gewesen wäre.

Als Skworeschnja, Romejko und Matwejew am frühen Morgen des 6. August in der Druckkammer Rohre, Stahltrossen, Bleche und anderes Material zur Errichtung eines Gerüstes am Heck des U-Bootes bereitstellten, hatte Kosyrew mit dem Kapitän alle Berechnungen über die Montage des Düsenringes bereits beendet. Er ging ebenfalls in die Druckkammer, wo Skworeschnja und seine Begleiter schon auf ihn warteten. Sie legten ihre Taucheranzüge an, und auf ein Signal an den Steuerraum füllte sich die Kammer mit Wasser. Danach war das Knirschen der Trossen zu hören, die die Plattform herunterließen. Doch diese klappte mit ihrem oberen Rand nur einen halben Meter von der Schiffswand zurück, und das Knirschen verstummte.

»Teufel noch mal!«, schimpfte Skworeschnja, vor Ungeduld hin und her laufend. »Feine Elektriker haben wir! Alles nur halbe Arbeit!«

»Die Plattform klappt nicht gänzlich herunter!«, meldete Kosyrew in den Steuerraum. »Woran mag es liegen?«

»Das verstehe ich nicht«, antwortete der Kapitän erstaunt. »Gestern war sie ja noch in Ordnung. Ich werde den Elektrotechnikern gleich den Befehl geben, das Getriebe zu untersuchen. Warten Sie noch etwas!«

»Während Marat die Kabel untersucht, wollen wir mal hier nachsehen«, schlug Skworeschnja vor. »Vielleicht haben sich nur die Trossen festgeklemmt.«

»Wie soll ich denn darankommen?«, fragte Matwejew, den schmalen Spalt zwischen Schiffswand und Plattform betrachtend.

»Klettere doch an den Rohren hoch, du komischer Kauz! Oder noch besser – steig auf meine Schultern.«

Auf den breiten Schultern Skworeschnjas fühlte sich Matwejew so sicher wie auf einer Stehleiter. Unter der Decke der Kammer sah er sich die Rolle mit dem aufgewickelten Drahtseil an, untersuchte in der Schiffswand die Öffnung für die Trossen und steckte dann den Kopf in den Spalt zwischen dem Rand der Plattform und dem Schiffskörper.

»Hier ist alles in Ordnung«, teilte er Skworeschnja mit. »Halt!«, schrie er plötzlich. »Heb mich höher! Noch höher! – Nanu, was ist denn das? Komische Sache …!«

Der sonst so ruhige und wortkarge Matwejew war ganz aufgeregt. Mit dem Oberkörper über den Rand der Plattform geneigt, bewegte er die Laterne hin und her.

»Was ist denn da los? Warum fackelst du so lange?«, rief Skworeschnja wütend.

»Es scheint Land zu sein, Andrej Wassiljewitsch«, antwortete Matwejew, von Skworeschnjas Schultern herunterspringend. »Ohne Zweifel ist es Land. Ein Felsen … ein richtiger Felsen! Er blockiert die Plattform und hindert sie daran, aufzuklappen. Das U-Boot berührt mit der Seite einen Felsen.«

Diese Entdeckung rief eine große Aufregung hervor. Der Kapitän befahl Matwejew, durch den Spalt hinauszukriechen und den Felsen zu untersuchen. Der junge Taucher war bald zurück und meldete, dass der Felsen, an den die Pionier durch die Meeresströmung gedrückt worden war, ein großer unterseeischer Berghang sei, der sich weithin erstrecke und wahrscheinlich bis über die Ozeanoberfläche hinaufgehe. Daraufhin schickte der Kapitän Skworeschnja und zehn Mann hinaus. Sie nahmen einige Wickel dünner elastischer Drahtseile mit. Daraus machten sie drei riesige Schlingen, befestigten sie am Bug, und mit einer vierten Schlinge wurde das Heck am Felsen verankert. Dann packten die Männer die Enden der Bugtrossen und ließen auf Skworeschnjas Kommando ihre Schrauben mit voller Kraft gleichzeitig an. Fünfhundert PS zogen den Bug des U-Bootes in fünfzehn Minuten vom Felsen weg, sodass die Druckkammer frei war. Damit die Strömung nicht wieder das Schiff forttrieb und an den Felsen drückte, wurde das Ende einer Bugschlinge auf dem Meeresboden mit einem großen Felsstück beschwert.

Die Pionier lag jetzt fest und sicher verankert. Nun konnte mit der Arbeit an den Düsen begonnen werden.

Unterdessen hatte der Kapitän Professor Schelawin in den Steuerraum gerufen und ihn gebeten, den unterseeischen Berg genauestens zu erforschen.

»Wir sind vorläufig noch nicht in der Lage, unsere Koordinaten zu bestimmen«, sagte der Kapitän. »Noch kann keiner der Infrarot-Aufklärer eingesetzt werden. Eine Untersuchung des Berges kann Ihnen, einem erfahrenen Ozeanografen, vielleicht den Hinweis geben, von welcher Beschaffenheit er ist, wo er sich befindet, ob er vielleicht die Böschung einer Bank, ein Korallenriff oder ein Atoll1 ist. Atolle können bewohnt sein, und das wäre für unsere Lage sehr unangenehm. Vorsicht kann nicht schaden. Ich bitte Sie, nach Einbruch der Nacht zur Oberfläche zu schwimmen und festzustellen, ob Lichter, Schiffe oder Eingeborenenkanus zu sehen sind. Nehmen Sie, falls es nötig ist, einen Begleiter mit.«

»Warum soll man jetzt jemanden von der Arbeit wegnehmen, Nikolai Borissowitsch? Ich schaffe es auch allein, obwohl ich, wenn Sie es gestatten, ganz gern Pawlik mitnehmen möchte. Er kann hier gut entbehrt werden und wird sich bestimmt sehr freuen, mich begleiten zu können.«

Der Kapitän gab seine Einwilligung. Pawlik freute sich ungemein. Er hatte schon lange nicht mehr das Schiff verlassen, und eine Exkursion unter Wasser versprach neue Eindrücke, neue Entdeckerfreuden.

Mit den nötigen Vorräten an flüssigem Sauerstoff, Strom in den Akkus, Proviant, Wasser in den Thermosflaschen und mit voller Ausrüstung zum Schürfen und Jagen unter Wasser verließen Schelawin und Pawlik das U-Boot. Sie bestiegen den Hang in südlicher Richtung. Der Weg war mühsam, der Hang ziemlich steil und steinig, die Füße versanken im Schlamm, und Tang hemmte die Schritte. Man hätte über dem Hang weh langsam schwimmen können, aber Schelawin tat es nicht, uni, wie er Pawlik sagte, den geologischen Bau des Berges zu erforschen. Die Geologie aber lüfte ihre Geheimnisse nur Fußgängern.

Unterwegs sah man viele Fische. Pawlik nannte ihre Namen, wofür er ein anerkennendes Murmeln des Ozeanografen erntete.

Nach einer Viertelstunde ununterbrochenen Fußmarsches stolperte Pawlik plötzlich, bückte sich und zog etwas aus dem Schlamm hervor. Er reichte Schelawin seinen Fund. Es war ein roh und primitiv gearbeitetes krummes Messer mit unförmigem Griff und mattglänzender schwarzer Schneide.

Schelawin rief erstaunt aus: »Ein Messer aus Obsidian! Ein Messer aus reinem vulkanischem Glas! Die Sache verspricht ja hochinteressant zu werden. – Wir wollen hier noch etwas graben.«

Nach kurzer Zeit zog Schelawin noch einen Gegenstand aus dem Schlamm.

»Tatsächlich!«, rief er erfreut. »Eine Obsidianspeerspitze. Suche weiter, Pawlik!«

Aber sie fanden nichts mehr.

Nach kurzer Rast setzten sie ihren Weg fort. Schelawin war schweigsam und schien in Gedanken versunken zu sein. Nur ab und zu sagte er einige Worte zu Pawlik.

»Schau unter die Füße. Pass gut auf! Vielleicht findest du noch etwas.«

Und wieder schwieg Schelawin, betrachtete aufmerksam den Meeresboden und murmelte nur ab und zu etwas vor sich hin. Nach einer halben Stunde blieb der Ozeanograf plötzlich vor einem großen flachen Felsen stehen. Seine Augen weiteten sich vor Staunen; dann rief er voller Begeisterung: »Ein Boot! Ein Eingeborenenkanu!«

Mit erstaunlicher Gewandtheit kletterte er auf den Basaltfelsen. Vor ihm lag, wie auf einem Sockel, ein mit Schlamm gefülltes, langes, flaches Boot, dessen eigenartig geformter Bug mit bizarren Schnitzereien verziert war.

»Hierher, Pawlik!«, schrie Schelawin aufgeregt. »Leg es mit der Schaufel frei!«

Von Schlammwolken umhüllt, arbeiteten beiden fast eine Viertelstunde fieberhaft. Als der Schlamm sich abgesetzt hatte und das Wasser wieder klar geworden war, lag vor ihnen eine Piroge2 mit durchlöchertem Boden. Reste verfaulter Fischernetze lagen darin. Schelawin und Pawlik wühlten in den Netzen und zogen immer neue Dinge hervor: einen menschlichen Schädel, Holzfigürchen mit Menschen- oder Vogelköpfen, beinerne Angelhaken und seltsame rötliche Holztafeln, ein bis zwei Meter lang, mit rätselhaften Schriftzeichen bedeckt.

Gleich die erste Holztafel versetzte Schelawin in höchste Erregung. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die langen Reihen der Schriftzeichen und vollführte plötzlich einen wilden Tanz.

»Kochau! – Kochau-Rongo-Rongo!« schrie er mit überschnappender Stimme. »Das sind sie! Das sind sie! Kochau-Rongo-Rongo der Rapa-Nui-Insulaner!«

Starr vor Staunen und mit offenem Munde blickte Pawlik auf den hüpfenden Gelehrten.

»Begreifen Sie, junger Mann, was das bedeutet? Nein! – Nein! Das begreifen Sie nicht! Das ist … das ist …«

»Was ist es denn?«, fragte Pawlik, der die Sprache wiedergefunden hatte.

Aber Schelawin schwieg plötzlich, dachte angestrengt nach und murmelte: »Was das bedeutet? Hm … warten wir noch etwas. Man muss sich erst überzeugen. – Wir wollen sehen … Ich bin überzeugt, dass wir auch noch ein Achu finden. Gehen wir weiter! Leg alles in das Boot. Auf dem Rückwege nehmen wir es mit.«

Schelawin rannte jetzt fast; Pawlik konnte ihm kaum folgen. So verging noch eine halbe Stunde. Der Junge war schon fast außer Atem, als der Ozeanograf plötzlich stehen blieb.

Vor ihnen, quer zum Hang, erhob sich eine zwei Meter hohe und etwa fünfzig bis sechzig Meter lange, aus mächtigen Steinquadern gefügte Terrasse. Aber weder Schelawin noch Pawlik beachteten sie. Schweigend und wie verzaubert starrten sie auf einige riesengroße Steinfiguren, die in großartiger Monumentalität fünfzehn bis zwanzig Meter hoch über der Terrasse emporragten. Die Lichtkegel der Stirnlaternen bestrahlten ihre seltsam geformten, mit zwei Meter hohen zylinderähnlichen Aufbauten geschmückten Köpfe. Von ihren Gesichtern mit der schmalen, fliehenden Stirn, der langen, vorspringenden Nase, den tiefen, leeren Augenhöhlen, den dünnen, zusammengepressten Lippen und dem spitzen Kinn ging eine seltsame Wirkung aus und hinterließ bei dem Beschauer einen unauslöschlichen Eindruck.

Die steinernen Bildwerke wuchsen mit ihrem verlängerten Torso aus der Terrasse heraus, ihre Arme waren nur angedeutet. So standen sie, kraftvoll in ihrer Einfachheit, stumm und drohend, und schauten in die Ferne, über die Köpfe der Taucher hinweg.

Zwischen diesen Steinriesen, die auf Wache zu stehen schienen, lagen zahlreiche andere von den Gewalten des Ozeans in den Schlamm niedergeworfene Standbilder mit abgespaltenen Kopfzylindern.

»Rapa-Nui …«, murmelte der Ozeanograf. »Rapa-Nui. Das alte Waigu. – Es stimmt also, der Ozean hat es verschlungen. Schau dir die Figuren genau an, Pawlik! Präge sie dir gut ein.«

Lange standen die beiden Menschen vor den Giganten. Schließlich sagte Schelawin, wie aus einem Traum erwachend: »Jetzt müssen wir weiter, um die Erforschung der Insel zu beenden.«

Der Ozeanograf warf noch einen letzten Blick auf die unterseeischen Wächter des Berges, brachte die Schraube in Gang und schwamm südwärts. Pawlik folgte ihm. Nach längerem Schweigen fragte er Schelawin:

»Iwan Stepanowitsch, warum haben Sie ›Insel« gesagt? Das ist doch ein Berg unter Wasser.«

»Hast du schon einmal einen unterseeischen Berg mit Booten, Messern, Speerspitzen und solchen Bauwerken wie diese Terrassen mit den Kolossalstatuen gesehen?«

»Nein, aber …«

»Na, siehst du … doch halt! Was ist denn das?«, unterbrach sich plötzlich Schelawin und zeigte auf einen großen dunklen Fleck am Berghang.

»Der Eingang zu einer Höhle, das sieht man ganz genau«, antwortete Pawlik, der sich in solchen Dingen auszukennen glaubte.

»Es ist sogar eine sehr große Höhle«, bestätigte der Ozeanograf. »Schauen wir sie uns einmal an.«

Pawlik schwamm als Erster hinein. Die Grotte war tatsächlich sehr groß und schien, nach ihren Basaltwänden zu urteilen, vulkanischen Ursprungs zu sein. Möglich, dass in weit zurückliegenden geologischen Epochen durch diesen Krater oder durch einen seitlichen Spalt aus dem Innern der Erde flüssige Lava herausgeflossen war. Der Boden der Höhle war mit Schlamm bedeckt, in dem es von Muscheln, Stachelhäutern und Hohltieren wimmelte; Wände, Felstrümmer und Lavablöcke waren von einem dichten Kalkalgenpolster überzogen.

Nachdem Schelawin und Pawlik alles oberflächlich untersucht hatten, verspürten sie Hunger und Müdigkeit. Sie ließen sich auf einem Felsstück nieder und tranken Kakao. Pawlik wollte das Gespräch fortsetzen.

»Iwan Stepanowitsch, wenn dies kein gewöhnlicher unterseeischer Berg ist, was ist es dann?«

»Das ist die Insel Rapa-Nui. Eine geheimnisvolle, rätselhafte Insel, die bis zum heutigen Tage den Geografen, Ethnologen und Kulturgeschichtsforschern der ganzen zivilisierten Welt viel Kopfzerbrechen gemacht hat. Hast du schon von dieser Insel gehört?«

»Rapa-Nui? Nein!«, gestand Pawlik. »Ich höre zum ersten Mal davon.«

»Hm … Komisch! Vielleicht kennst du sie unter dem Namen Waigu, wie man sie manchmal nennt?«

»Nein«, antwortete Pawlik verlegen. »Auch Waigu kenne ich nicht.«

»Das verstehe ich nicht … Nun sage mir bloß, was man euch in euren hochberühmten Gymnasien oder – na, wie heißen sie nur – in euren amerikanischen Colleges lehrt. Nichts von der Insel Rapa-Nui oder Waigu oder der Osterinsel zu wissen! Das ist ungeheuerlich!«

»Osterinsel?«, rief Pawlik lebhaft. »Davon habe ich schon gehört. Ich erinnere mich. Das ist eine winzige Insel im Stillen Ozean. Sie ist im achtzehnten Jahrhundert entdeckt worden. Damals lebten auf der Insel Götzenanbeter, aber später erschienen dort Mönche und bekehrten die Insulaner zum Christentum.«

»Dann hat man dir aber noch nicht das Interessanteste über diese seltsame Insel erzählt. Dieses winzige Eiland, das man in einer Stunde von einem Ende zum anderen zu Fuß durchqueren kann – ein einsames Fleckchen Erde, verloren in den unendlichen Weiten des Ozeans, fast viertausend Kilometer von Südamerika und ebenso weit von den nächsten Inseln Polynesiens entfernt -‚ dieses Inselchen ist voller Rätsel und Geheimnisse. Stell dir das nur vor, Pawlik: Von den vielen Volksstämmen Polynesiens, die auf zahllosen Inseln verstreut leben, hat nur das kleine Völkchen, das die Osterinsel bewohnte, eine Schrift entwickelt, erhalten auf den langen rotbraunen Holztafeln, den Kochau-Rongo-Rongo, die wir im Kanu gefunden und in den Händen gehalten haben. Nicht nur das! Diese Holztafeln mit der Schrift der alten Bevölkerung der Osterinsel sind bis heute noch nicht entziffert worden.«

Schelawin schwieg und trank etwas Kakao.

»Und dann diese Terrassen oder Achu, wie sie von den Eingeborenen genannt werden! Diese ungewöhnlichen, erstaunlichen Steindenkmäler!«, fuhr der Ozeanograf fort. »Wie konnte ein solch kleines, primitives Völkchen derartige Bauwerke errichten? Einige dieser Statuen erreichen dreiundzwanzig Meter Höhe, haben eine Schulterbreite von fast drei Metern, einen zwei Meter hohen Kopfschmuck und wiegen fast zweitausend Zentner! Als die ersten Europäer die Insel besuchten, gab es hier nicht weniger als zweihundertsechzig Achu und mehr als fünfhundert Steinfiguren, die alle ihre zornigen Gesichter dem Ozean zukehrten. Ist es nicht klar, dass diese gewaltige Leistung nur ein anderes, größeres und kultivierteres Volk hatte vollbringen können?

Um diese Rätsel zu lösen, haben einige Gelehrte folgende Hypothese aufgestellt: Die Insel muss früher viel größer gewesen sein. Sie wurde von einem volkreichen Stamm bewohnt, dessen eigenartige Kultur auf einer viel höheren Stufe stand als die der kümmerlichen Stämme, die von den ersten Europäern auf der Insel angetroffen wurden. Und dann kam eine Zeit, da die alten Rapa-Nui-Insulaner merkten, wie ihr Eiland langsam, aber unaufhaltsam vom Meer verschlungen wurde. Voller Angst flehten sie ihre Götter an, sie vor dem Meer zu schützen. Sie begannen am Meeresufer riesige Terrassen zu bauen und stellten zahlreiche Götzen als Wächter und Beschützer des heimatlichen Landes auf. Aber vergebens richteten die steinernen Götter ihren zornigen Blick drohend auf die Fluten. Die Menschen verloren jedoch die Hoffnung nicht. Fieberhaft setzten sie ihre Arbeit fort. Sie meißelten neue Götzenbilder, bauten neue Achu und bewehrten sie mit immer neuen Reihen ihrer Wächter und Beschützer. Das dauerte wahrscheinlich viele Jahrzehnte lang. Vielleicht verloren die Insulaner allmählich ihren Glauben an die Macht der Götter, vielleicht bewog sie aber auch ein plötzliches Anschwellen der Fluten oder ein Erdbeben, die Insel zu verlassen. Eine Panik muss sie erfasst haben. Sie beluden die Kanus mit ihrem Hab und Gut, um Rettung in einem anderen Lande zu suchen. Solche Umsiedlungen von Insel zu Insel, wobei riesige Entfernungen auf dem Ozean zurückgelegt wurden, geschahen ziemlich oft in der Geschichte der Polynesier. Manche Wissenschaftler nehmen an, die jetzigen Bewohner der Osterinsel seien nicht Reste ihrer alten Bevölkerung, sondern Neuankömmlinge, die von der Insel, die nur langsam im Ozean versinkt, Besitz ergriffen haben.«

Schelawin schwieg und zog nachdenklich am Mundstück der Thermosflasche.

Pawlik, den die Erzählung des Ozeanografen wie ein altes Märchen anmutete, schwieg auch. Schließlich fragte er: »Nun, und diese Neuankömmlinge … wie ist es ihnen ergangen?«

»Sie haben wohl lange Zeit gar nicht schlecht gelebt – bis zu dem Tage, da sich europäische ›Zivilisatoren‹ für sie zu interessieren begannen. Die Folge waren Krankheiten, Gier nach Schnaps und Tabak. Die beklagenswerten Naturkinder bekamen die sogenannte Kultur am eigenen Leibe zu spüren.

Aber den schwersten Schlag erlitt die Insel 1862, als sie von peruanischen Sklavenhändlern überfallen wurde. Nach Verübung furchtbarer Gräueltaten, nachdem sie gemordet und geplündert hatten, verschleppten die Peruaner den größten Teil der Inselbevölkerung – fünftausend Menschen – auf die Insel Chincha vor der Küste Südamerikas. Hier mussten die Gefangenen in harter Fronarbeit Guano abbauen – mächtige Ablagerungen von Kot und Seevögelleichen -‚ der als Stickstoff und phosphorsäurehaltiges Düngemittel nach Europa exportiert wird.

Einige wenige dieser Unglücklichen wurden später freigelassen, aber sie schleppten in ihre Heimat die Pocken ein, die den Rest der Bevölkerung noch mehr dezimierte. Von da an begannen die Insulaner auszusterben, und schon im Jahre 1886 zählte die gesamte Insel nur noch einhundertfünfzig Einwohner. In der letzten Zeit ist diese Zahl etwas angewachsen – auf zweihundertfünfzig Menschen. So ist es, Pawlik! – Auch noch viele andere Geheimnisse birgt diese kleine, öde Insel für die Wissenschaft. Das alles kann man nicht auf einmal erzählen. Außerdem müssen wir nun zum U-Boot zurückkehren. Die Untersuchung dieser unterseeischen Hänge fortzusetzen, halte ich jetzt für überflüssig.«

Beide beluden sich mit den Fischernetzen, den heiligen Tafeln und den anderen Funden von der Osterinsel und machten sich auf den Rückweg.

Als sie nach zwei Stunden mit ihren Schätzen im Lichtkegel des U-Bootes erschienen, wurden sie mit Ausrufen des Staunens empfangen.

Schon auf der Plattform der Druckkammer erblickten sie den Kapitän im Taucheranzug.

Seine erste Frage an Schelawin lautete: »Wo sind wir, Iwan Stepanowitsch?«

»Am Fuße der Osterinsel!«

Der Kapitän zog die Brauen zusammen.

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  1. Ringförmige, aus Korallenriffen gebildete Insel in den tropischen Breiten des Stillen Ozeans.
  2. Ruderkahn der südamerikanischen Indianer und Südseeinsulaner.