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Fantomas – Kapitel 1-2

Fantomas – Kapitel 1-2

Baronne de Vibray brachte das Gespräch auf das Thema Fantômas zurück.
»Welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser unheimlichen Kreatur und das Verschwinden von Lord Beltham, von dem wir beim Abendessen gesprochen haben, Président?«
»Ich würde Ihnen natürlich zustimmen und dachte zunächst, dass es keinen gibt«, antwortete der alte Richter, »wenn Lord Belthams Verschwinden nicht durch irgendwelche mysteriösen Umstände begleitet gewesen wäre. Aber es gibt einen Punkt, der Ihre Aufmerksamkeit verdient: Der La Capitale, aus welcher ich eben erst einen Ausschnitt gelesen habe, lenkt die Aufmerksamkeit darauf und betrachtet diesen Umstand betreffend als äußerst wichtig. Es wird gesagt, dass Lady Beltham am Morgen des folgenden Tages aufgrund des Verschwindens ihres Mannes sehr beunruhigt war. Sie erinnerte sich, bemerkt zu haben, dass er, bevor er das Haus verließ, einen sonderbaren Brief las, dessen seltsame quadratische Form sie überraschte. Sie hatte auch bemerkt, dass die Schrift des Briefes sehr schwer zu lesen war. Nun, sie fand den fragwürdigen Brief auf dem Schreibtisch ihres Mannes und musste feststellen, dass die gesamte Schrift verschwunden war. Sie nahm den Brief in Augenschein und sah ein paar kaum erkennbare Flecke, die bewiesen, dass es sich in der Tat um das gleiche Dokument handelt, welches ihr Mann erst vor Kurzem in den Händen hielt. Lady Beltham hätte nicht weiter darüber nachgedacht, hätte nicht der Redakteur des La Capitale den Détective Juve, der berühmte Inspektor der Sûreté Nationale, interviewt. Sie wissen, derjenige, welcher so einige berüchtigte Verbrecher hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Eben dieser Monsieur Juve offenbart nunmehr seine größte Begeisterung über die Entdeckung und die Art des Dokuments. Er habe auch nicht gegenüber dem Redakteur versucht, seine Überzeugung zu verbergen, dass dieser ungewöhnliche Brief ein Beweis für das Eingreifen von Fantômas war. Sie wissen sehr wahrscheinlich, dass Juve es sich zur besonderen Aufgabe gemacht hat, Fantômas zu verfolgen. Er hat geschworen, dass er ihn ergreifen wird, dass er hinter seinen Körper und seiner Seele her ist. Lassen Sie uns hoffen, dass er Erfolg haben wird! Es ist jedoch nicht gut, vorzutäuschen, dass Juves Job nicht so schwierig sein kann, wie es sich einige vorstellen. Allerdings ist dies eine plausible Schlussfolgerung, die Juve gegenüber dem Vertreter des La Capitale aussprach. Er wollte nicht, dass er zu weit geht, als er erklärte, dass ein Verbrechen hinter dem Verschwinden von Lord Beltham liegen würde und dieses vor Fantômas’ Haustür zu finden sein müsste. Wir können nur hoffen, dass in nicht zu ferner Zeit auch in dieser geheimnisvollen Angelegenheit der Gerechtigkeit genüge getan wird und wir uns für immer von diesem schrecklichen Verbrecher befreien können!«
Président Bonnet hatte sein Publikum voll überzeugt, und seine letzten Worte verursachte bei allen Anwesenden einen kalten Schauer.
Die Marquise de Langrune hielt es für angebracht, für eine Ablenkung zu sorgen. »Wer sind diese Leute, Lord und Lady Beltham?«, erkundigte sie sich.
»Oh, meine Liebe«, antwortete die Baronne de Vibray, »es ist offensichtlich, dass Sie in Ihrem abgelegenen Landhaus ein Einsiedlerleben führen und das, was aus der Pariser Welt zu uns dringt, Sie häufig nicht erreicht! Lord und Lady Beltham gehören zu den bekanntesten und populärsten Personen der Gesellschaft. Früher war er an der englischen Botschaft tätig, verließ jedoch Paris, um in Transvaal zu kämpfen. Seine Frau ging mit ihm und bewies großartigen Mut und Barmherzigkeit bei der Führung von Ambulanz und Krankenhaus. Sie gingen dann nach London zurück und ließen sich vor ein paar Jahren noch einmal in Paris nieder. Sie lebten in Neuilly-sur-Seine am Boulevard Inkermann in einem herrlichen Haus, in welchem sie viele Gäste empfingen. Ich war oft einer der Gäste von Lady Beltham. Sie ist eine faszinierende Frau, distinguiert, groß, schön und ausgestattet mit einem Charme, der den Frauen des Nordens eigen ist. Ich bin von dem Problem, welches sie beschäftigt, sehr erschüttert.«
»Nun gut«, sagte die Marquise de Langrune abschließend, ich meine zu glauben, dass die düsteren Prognosen unseres Freundes Président Bonnet durch dieses Ereignis nicht gerechtfertigt werden.«
»Amen!«, murmelte der Abbé mechanisch, durch die letzten Worte der Marquise aus seinem sanften Schlummer geweckt.

***

Die Uhr schlug zehn, und ihre Pflichten als Gastgeberin durften die Marquise nicht von denen als Großmutter abhalten.
»Thérèse«, rief sie, »es ist Schlafenszeit und schon sehr spät, Liebling.«
Das Kind beendete gehorsam ihr Spiel, sagte der Baronne de Vibray und dem Président Bonnet Gute Nacht und zu guter Letzt dem alten Priester, welcher sie väterlich umarmte.
»Werde ich dich in der Sieben-Uhr-Messe sehen, Thérèse?«, fragte er.
Das Mädchen wandte sich an die Marquise. »Lassen Sie mich morgen früh Charles zum Bahnhof begleiten? Auf meinem Rückweg werde ich in die Acht-Uhr Messe gehen.«
Die Marquise schaute zu Charles Rambert. »Ihr Vater wird vermutlich mit Zug, der um 06:55 Uhr Verrières erreicht, ankommen.«
Als dieser dies bejahte, zögerte sie einen Moment, bevor sie auf Thérèses Frage antwortete. »Ich denke, meine Liebe, es wäre besser, unserer junger Freund allein gehen zu lassen, um seinen Vater zu treffen.«
Aber Charles Rambert erhob dagegen Einspruch. »Oh, ich bin mir sicher, dass mein Vater hoch erfreut wäre, Thérèses an meiner Seite zu sehen, wenn er aus dem Zug steigt.«
»Sehr gut«, sagte die freundliche alte Dame, »arrangiere es so, wie du es möchtest, Thérèses. Bevor du nach oben gehst, sage bitte unserem guten Diener Dollon, dass um 06:00 Uhr die Kutsche bereitstehen soll. Es ist ein langer Weg zum Bahnhof.«
Thérèses versprach es, und die beiden jungen Leute verließen den Salon.
»Ein hübsches Paar«, bemerkte Baronne de Vibray und fügte mit einem typischen Hauch von Arglist hinzu: »Sie meinen, dass beide eines Tages zusammenpassen, Marquise?«
Die alte Dame hob protestierend die Hände. »Was für ein Gedanke, Thérèses ist noch nicht mal fünfzehn!«
»Wer ist dieser Charles Rambert?«, fragte der Abbé. »Ich sah ihn vorgestern mit Dollon und zermarterte mir das Hirn, wer er sein könnte.«
Die Marquise begann zu lachen. »Es überrascht mich nicht, dass es Ihnen nicht gelungen ist, dies herauszufinden. Aber vielleicht haben Sie von ihm gehört, als ich einmal meinen alten Freund Etienne Rambert erwähnte, mit dem ich bereits vor langer Zeit zu tun hatte. Ich hatte ihn bis vor zwei Jahren völlig aus den Augen verloren. Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Paris bin ich ihm wieder begegnet. Der arme Mann hatte ein wechselhaftes Leben. Vor zwanzig Jahren heiratete er eine Frau, die sehr reizend, aber, wenn ich mich nicht irre, an einer besorgniserregenden Krankheit leidet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht verrückt ist. Erst vor Kurzem fühlte sich Monsieur Etienne Rambert veranlasst, sie in eine Anstalt einweisen zu lassen.«
»Das erklärt uns nicht, wie es dazu gekommen ist, dass sein Sohn Ihr Gast ist«, resümierte Président Bonnet.
»Es ist ganz einfach. Etienne Rambert ist ein tatkräftiger Mann, der stets in Bewegung ist. Er ist zwar bereits fast sechzig, doch findet man ihn oft auf seinen Kautschukplantagen in Kolumbien, und er geht häufig nach Amerika. Er denkt nicht mehr an die Reise, die wir nach Paris unternommen hatten. Nun ja, erst vor Kurzem verließ der junge Charles Rambert die Pension in Hamburg, in welcher er gelebt hatte, um sein Deutsch zu vervollkommnen. Ich wusste aus den Briefen seines Vaters, dass Madame Rambert eingeliefert werden musste, und dass Etienne Rambert gezwungen war, seinen Verpflichtungen nachzugehen. Ich bot ihm an, Charles bei mir aufzunehmen, bis er nach Paris zurückkehren würde. Charles kam vorgestern an, und das ist die ganze Geschichte.«
»Und Monsieur Etienne Rambert trifft sich morgen mit ihm?«, sagte der Abbé.
»Dem ist so …«

***

Die Marquise de Langrune hätte andere Information über ihren jungen Freund kundgetan, wäre dieser nicht gerade ins Zimmer gekommen. Er war ein attraktiver Junge mit kultivierten und hervorragenden Eigenschaften, klaren intelligenten Augen und anmutiger Gestalt. Die anderen Gäste waren still, und Charles Rambert näherte sich ihnen mit jugendlicher Unbeholfenheit. Er wandte sich an Président Bonnet und fasste sich Mut.
»Und was dann, Monsieur?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Ich verstehe nicht, mein Junge«, sagte der Richter.
»Oh«, sagte Charles Rambert, »haben Sie aufgehört, über Fantômas zu sprechen? Es war so amüsant!«
»Ich für meinen Teil«, antwortete der Président trocken, »finde die Geschichte über Verbrecher nicht amüsant
Doch der Junge nahm die Nuance des Vorwurfs in den Worten nicht wahr.
»Aber dennoch ist dies sehr sonderbar, sehr außergewöhnlich, dass solche mysteriösen Gestalten wie Fantômas heutzutage existieren können. Ist es wirklich möglich, dass ein einzelner Mann solch eine Anzahl von Verbrechen begehen und sich der Entdeckung entziehen kann? Sie sagen, dass Fantômas dies kann und imstande ist, die cleversten Polizeimaßnahmen zu vereiteln. Ich glaube, es ist …«
Das Verhalten des Président wurde sarkastischer, als die Neugierde und Begeisterung des Jungen wuchs und er ihn schroff unterbrach.
»Ich kann Ihre Einstellung nicht verstehen, junger Mann. Sie scheinen mir hypnotisiert, ja regelrecht fasziniert zu sein. Sie sprechen über Fantômas, als wäre er etwas Interessantes. Dies ist fehl am Platze, gelinde gesagt.« Er wandte sich an den Abbé Sicot. »Dort, Monsieur, ist das Ergebnis der modernen Erziehung und der geistige Zustand der jungen Generation, von der Presse und sogar von der Literatur hervorgerufen. Verbrechern gibt man Heiligenscheine und proklamiert dies von den Dächern. Es ist erstaunlich!«
Doch Charles Rambert war nicht im Geringsten von diesen Worten beeindruckt.
»Das ist das Leben, Monsieur, das ist Geschichte, das ist das einzig Wahre«, betonte er. »Warum haben Sie selbst mit wenigen Worten eine Atmosphäre rund um diesen Fantômas geschaffen, die ihn absolut faszinierend macht! Ich hätte alles gegeben, um Vidocq, Cartouche und Rokambole begegnen und sie hautnah sehen zu können. Das waren Männer!«
Président Bonnet betrachtete mit Erstaunen den jungen Mann, seine Augen blitzten ihn an und er rief aus: »Sie sind verrückt, Junge, absolut verrückt! Vidocq – Rokambole! Sie vermischen Legende und Geschichte, werfen Mörder und Detektive in einen Topf und machen keinen Unterschied zwischen richtig und falsch! Sie würden nicht zögern, die Helden des Verbrechens und die Helden von Recht und Ordnung auf ein und dieselbe Stufe zu stellen!«
»Sie haben diese Worte gesagt, Monsieur«, rief Charles Rambert, »und dass sie alle Helden sind. Aber noch besser sei Fantômas …«
Die emotionale Reaktion des Jungen war so heftig, spontan und aufrichtig, dass sie unter seinen Zuhörern eine einhellige Empörung hervorrief. Selbst die Marquise de Langrune hatte zu lächeln aufgehört. Charles Rambert merkte, dass er zu weit gegangen war, und beendete seinen Disput.
»Ich bitte um Verzeihung, Monsieur«, murmelte er. »Ich sprach, ohne dabei zu denken. Bitte vergeben Sie mir.«
Er hob seine Augen, errötete bis zu den Spitzen seiner Ohren und sah den Richter so verlegen an, dass dieser im Grunde genommen gutherzige Mann versuchte, ihn zu beruhigen.
»Ihre Fantasie ist viel zu lebendig, junger Mann, sie ist mit Ihnen durchgegangen. Aber Sie werden aus diesem herauswachsen. Kommen Sie, es ist schon in Ordnung. Jungs in Ihrem Alter reden manchmal ohne Sachverstand.«

Es war bereits sehr spät geworden, und wenige Minuten nach diesem Vorfall machten sich die Gäste der Marquise de Langrune auf den Heimweg.
Charles Rambert begleitete die Marquise bis zur Tür ihrer Privaträume und wollte ihr respektvoll eine gute Nacht wünschen. Bevor er sich jedoch in sein Schlafzimmer, welches unmittelbar daneben lag, begeben konnte, bat ihn die Marquise, ihr zu folgen.
»Kommen Sie herein und Sie erhalten das Buch, welches ich Ihnen versprach, Charles. Es sollte auf meinem Schreibtisch liegen.« Sie warf einen Blick auf das Möbelstück, als sie den Raum betrat, und ging weiter. »Oder vielleicht in ihm. Ich könnte es weggeschlossen haben.«
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, protestierte er, aber die Marquise bestand darauf.
»Stellen Sie den Leuchter auf diesen Tisch«, sagte sie. »Außerdem muss ich meinen Schreibtisch öffnen, da ich die Lotteriescheine überprüfen möchte, die ich Thérèse vor ein paar Wochen gab.« Sie schob das Rollpult ihres Empire-Schreibtisches zurück und blickte zu dem jungen Burschen auf. »Es wäre ein wunderbarer Glücksfall, wenn meine kleine Thérèse den ersten Preis gewinnen würde. Nicht wahr, Charles? Eine Million Franc! Das würde der Gewinn wert sein.«
»Vielmehr!«, sagte Charles Rambert mit einem Lächeln.
Die Marquise fand das Buch, welches sie suchte, und gab es dem Jungen mit einer Hand, während sie mit der anderen mehrere bunt gemischte Papiere glättete.
»Dies sind meine Scheine«, sagte sie und brach ab. »Wie dumm von mir! Ich habe mir die Nummern der Gewinnlose, welche im La Capitale veröffentlicht wurden, nicht gemerkt.«
Charles Rambert bot sofort an, wieder nach unten zu gehen, um die Zeitung zu holen, aber die Marquise ließ ihn nicht.
»Es nutzt nichts, mein lieber Junge, sie ist nicht da. Sie wissen – oder können es eher nicht wissen, dass der Abbé jeden Mittwoch die Zeitungen der vergangenen Woche mitnimmt, um alle politischen Artikel zu lesen.« Die alte Dame wandte sich von ihrem weit geöffneten Schreibtisch ab, führte den jungen Mann zur Tür und reichte ihm die Hand. »Es ist bereits schon früh am Morgen«, sagte sie. »So, jetzt aber Gute Nacht, lieber Charles!«
In seinem Zimmer, das Licht gelöscht und die Vorhänge geschlossen, lag Charles Rambert hellwach, ein Opfer der anormalen Aufregung. Er wälzte sich ängstlich im Bett hin und her. Vergeblich hatte er die Dinge, über die Président Bonnet im Verlaufe des Abends gesprochen hatte, aus seinem Kopf zu verbannen versucht. In seiner Fantasie sah Charles Rambert allerlei unheimliche und dramatische Szenen, Verbrechen und Morde. Außerordentlich interessiert, ungemein neugierig und wissbegierig versuchte er sich Pläne auszudenken und die Rätsel zu lösen. Nickte er für einen Moment ein, sah er das Bild von Fantômas, wie er es sich vorstellte, aber niemals das gleiche. Manchmal sah er kolossale Gestalt mit bestialischem Gesicht und muskulösen Schultern, manchmal ein blasses dünnes Wesen mit seltsamen und stechenden Augen, manchmal nur eine vage Form, ein Phantom – Fantômas!
Charles Rambert schlief, wachte auf und schlief wieder ein. In der Stille der Nacht dachte er, seltsame und schwere Geräusche zu hören. Dann spürte er plötzlich einen Atemzug über seinem Gesicht – und wieder nichts! Plötzlich summten wieder die seltsamen Geräusche in seinen Ohren. In kaltem Schweiß gebadet wachte Charles Rambert auf, saß aufrecht im Bett, jeden Muskel angespannt, und lauschte. Träumte er oder war er wirklich wach? Er wusste es nicht. Und dennoch besann er sich an Fantômas … an das Geheimnisvolle … von Fantômas!

Charles Rambert hörte die Uhr vier schlagen.

Fortsetzung folgt …

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