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Das Gespensterbuch – Siebente Geschichte – Teil 2

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Die Spinne
Von Hanns Heinz Ewers

2. Teil

Das Tagebuch des Richard Bracquemont, Student der Medizin

Montag, 28. Februar

Ich bin gestern Abend hier eingezogen. Ich habe meine zwei Körbe ausgepackt und mich ein wenig eingerichtet, dann bin ich zu Bett gegangen. Ich habe ausgezeichnet geschlafen; es schlug gerade neun Uhr, als mich ein Klopfen an der Tür weckte. Es war die Wirtin, die mir selbst das Frühstück brachte. Sie ist wohl sehr besorgt um mich, das merkt man an den Eiern, dem Schinken und dem ausgezeichneten Kaffee, den sie mir brachte. Ich habe mich gewaschen und angezogen, dann zugeschaut, wie der Hausknecht das Zimmer machte. Dabei habe ich meine Pfeife geraucht.

So, nun bin ich also hier. Ich weiß recht gut, dass die Sache gefährlich ist, aber ich weiß auch, dass ich gemacht bin, wenn es mir gelingt, ihr auf den Grund zu kommen. Und wenn Paris einst eine Messe wert war – so billig gewinnt man es heute nicht mehr –, so kann ich wohl mein bisschen Leben dafür aufs Spiel setzen. Hier ist eine Chance – nun gut, ich will sie versuchen.

Übrigens waren andere auch so schlau, das herauszufinden. Nicht weniger als 27 Leute haben sich bemüht, teils mit der Polizei, teils direkt bei der Wirtin, das Zimmer zu bekommen; es waren drei Damen darunter. Es war also genug Konkurrenz da; wahrscheinlich alles ebenso arme Teufel wie ich selbst.

Aber ich habe die Stelle bekommen. Warum? Ah, ich war wahrscheinlich der Einzige, der der weisen Polizei mit einer Idee aufwarten konnte. Eine nette Idee! Natürlich war es ein Bluff.

Diese Rapporte sind auch für die Polizei bestimmt. Und da macht es mir Spaß, den Herren gleich im Anfang zu sagen, dass ich ihnen hübsch was vorgemacht habe. Wenn der Kommissar vernünftig ist, wird er sagen. »Hm, gerade deshalb scheint der Bracquemont geeignet!« Übrigens ist es mir gleichgültig, was er später sagt: Jetzt sitze ich ja hier. Und mir scheint es ein gutes Omen, dass ich meine Tätigkeit damit begonnen habe, die Herren so gründlich zu bluffen.

Ich war auch zuerst bei Frau Dubonnet, die schickte mich zum Polizeirevier. Eine ganze Woche lang habe ich jeden Tag da herumgelungert, immer wurde mein Anerbieten in Erwägung gezogen und immer hieß es, ich solle morgen wiederkommen. Die meisten meiner Konkurrenten hatten die Flinte längst ins Korn geworfen, hatten auch wohl etwas Besseres zu tun, als in der muffigen Wachtstube stundenlang zu warten. Der Kommissar war schon ärgerlich über meine Hartnäckigkeit. Endlich sagte er mir kategorisch, dass mein Wiederkommen keinen Zweck habe. Er sei mir wie auch den anderen dankbar für meinen guten Willen, aber man habe absolut keine Verwendung für dilettantische Laienkräfte. Wenn ich nicht irgendeinen ausgearbeiteten Operationsplan habe …

Da sagte ich ihm, ich hätte einen solchen Operationsplan. Ich hatte natürlich gar nichts und hätte ihm kein Wörtchen erzählen können. Aber ich sagte ihm, dass ich ihm meinen Plan, der gut sei, aber recht gefährlich, und wohl auch denselben Schluss finden könne wie die Tätigkeit des Schutzmannes, nur dann mitteilen wolle, wenn er sich ehrenwörtlich bereit erkläre, ihn selbst auszuführen. Dafür bedankte er sich, er meinte, dass er durchaus keine Zeit für so etwas habe. Aber ich sah, dass ich Oberwasser bekam, als er mich fragte, ob ich ihm nicht wenigstens eine Andeutung geben wolle …

Und das tat ich. Ich erzählte ihm einen blühenden Unsinn, von dem ich selbst eine Sekunde vorher noch gar keine Ahnung hatte. Ich weiß gar nicht, woher mir plötzlich dieser seltsame Gedanke kam. Ich sagte ihn, dass unter allen Stunden der Woche es eine gäbe, die einen geheimnisvollen, seltsamen Einfluss habe. Das sei die Stunden, in der Christus aus seinem Grab verschwunden sei, um niederzufahren zur Hölle: die sechste Abendstunde des letzten Tages der jüdischen Woche. Und er möge sich erinnern, dass es diese Stunde gewesen sei, Freitag zwischen fünf und sechs Uhr, in der alle drei Selbstmorde begangen worden seien. Mehr könne ich ihm nun nicht sagen, verweise ihn aber auf die Offenbarung St. Johannis.

Der Kommissar machte ein Gesicht, als ob er davon etwas verstehe, bedankte sich und bestellte mich für den Abend wieder. Ich trat pünktlich in sein Büro; vor ihm auf dem Tisch sah ich das Neue Testament liegen. Ich hatte in der Zwischenzeit dieselben Studien gemacht wie er; ich hatte die Offenbarung durchgelesen und – nicht eine Silbe davon verstanden. Vielleicht war der Kommissar intelligenter als ich, jedenfalls sagte er mir sehr verbindlich, dass er trotz meiner nur sehr vagen Andeutungen glaube, meinen Gedankengang zu verstehen. Und dass er bereit sei, auf meine Wünsche eizugehen und sie in jeder Weise zu fördern.

Ich muss anerkennen, dass er mir in der Tat sehr behilflich gewesen ist. Er hat das Arrangement mit der Wirtin getroffen, demzufolge ich während der Dauer meines Aufenthaltes in Hotel alles frei habe. Er hat einen ausgezeichneten Revolver und eine Polizeipfeife; die diensttuenden Schutzleute haben Befehl, möglichst oft durch die kleine Rue Alfred Stevens zu gehen und auf ein kleinstes Zeichen von mir hinaufzukommen. Die Hauptsache ist aber, dass er mir in dem Zimmer ein Tischtelefon hat anbringen lassen, durch das ich mit dem Polizeirevier in direkter Verbindung stehe. Da dieses kaum vier Minuten entfernt ist, kann ich also jederzeit schnellste Hilfe haben. Bei alledem verstehe ich nicht recht, vor was ich Angst haben sollte.

Dienstag, 1. März

Vorgefallen ist nichts, weder gestern noch heute. Frau Dubonnet hat eine neue Gardinenschnur gebracht aus einem anderen Zimmer – sie hat ja genug leer stehen. Sie benutzt jede Gelegenheit, um zu mir zu kommen; jedes Mal bringt sie etwas mit. Ich habe mir noch einmal in allen Einzelheiten die Vorkommnisse erzählen lassen, aber nichts Neues erfahren. Bezüglich der Todesursachen hat sie ihre eigene Meinung. Was den Artisten angehe, so glaube sie, dass es sich um eine unglückliche Liebschaft handele; als er im letzten Jahr bei ihr gewesen war, sei häufig eine junge Dame zu ihm gekommen, die sich aber diesmal nicht habe blicken lassen. Was dem Schweizer Herrn seinen Entschluss eingegeben habe, wisse sie nicht – man könne ja aber auch nicht alles wissen. Aber der Sergeant habe ganz gewiss den Selbstmord nur begangen, um sie zu ärgern.

Ich muss sagen, dass diese Erklärungen der Frau Dubonnet etwas dürftig sind. Aber ich habe sie ruhig schwatzen lassen; immerhin unterbricht sie meine Langeweile.

Donnerstag, 3. März

Noch immer gar nichts. Der Kommissar klingelt ein paarmal am Tage an, ich sage ihm dann, dass es mir ausgezeichnet gehe; offenbar befriedigt ihn diese Auskunft nicht ganz. Ich habe meine medizinischen Bücher herausgenommen und studiere; so hat meine freiwillige Haft doch einen Zweck auf alle Fälle.

Freitag, 4. März, zwei Uhr nachmittags

Ich habe ausgezeichnet zu Mittag gespeist; dazu hat mir die Wirtin eine halbe Flasche Champagner gebracht; es war eine richtige Henkersmahlzeit. Sie betrachtet mich als schon dreiviertel tot. Ehe sie ging, hat sie mich weinend gebeten, mitzukommen; sie fürchtete wohl, dass ich mich auch noch aufhängen würde, um sie zu ärgern.

Ich habe mir eingehend die neue Gardinenschnur betrachtet. Daran also soll ich mich gleich aufhängen? Hm, ich verspüre wenig Lust dazu. Dabei ist die Schnur rau und hart und zieht sich sehr schlecht in der Schlinge, man muss schon einen recht guten Willen haben, um das Beispiel der anderen nachzuahmen. Nun sitze ich an meinem Tisch, links steht das Telefon, rechts liegt der Revolver. Furcht habe ich gar nicht, aber neugierig bin ich.

Sechs Uhr abends

Nichts ist passiert, beinahe hätte ich geschrieben – leider! Die verhängnisvolle Stunde kam und ging – und sie war wie alle anderen. Freilich kann ich nicht leugnen, dass ich manchmal einen gewissen Drang verspürte, zum Fenster zu gehen – o ja, aber aus anderen Gründen! Der Kommissar klingelte zwischen fünf und sechs wenigstens zehnmal an, er war ebenso ungeduldig wie ich selbst. Aber Frau Dubonnet ist vergnügt: Eine Woche hat jemand auf Nr. 7 gewohnt, ohne sich aufzuhängen. Fabelhaft!