Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 8. Kapitel
Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
8. Kapitel
Am Sterbebett des Wucherers
Der Arzt erklärte den Zustand Harrys für nicht ungefährlich. Er meinte, der junge Mann habe eine so gewaltige Erschütterung der Nerven erlitten, dass, durch die Nässe und durch die Körperqualen begünstigt, leicht ein Typhus entstehen könnte.
»Er will durchaus ins Greenwich-Hospital überführt werden«, meinte Sherlock Holmes sorgenvoll, »aber ich ziehe es vor, ihn in meiner Wohnung zu behalten.«
»Well, Mr. Sherlock Holmes«, antwortete der Doktor, »ich werde Ihnen hierüber morgen Mittag Bescheid sagen, wenn ich wieder nach meinem Patienten sehen komme.«
Sherlock Holmes hatte plötzlich alle Lust verloren, an dem Fall Elisabeth Aberdeen weiterzuarbeiten, obwohl er sicher war, sich auf der besten Fährte zu befinden.
Aber die Möglichkeit, dass ihm sein Liebling, sein treuer Gehilfe, dass ihm Harry, den er wie einen Sohn liebte, durch den Tod entrissen werden könnte, machte es selbst diesem sonst so willensstarken Mann fast unmöglich, an etwas anderes zu denken als an seinen Kranken.
Den ganzen Rest der Nacht brachte er am Lager seines Schützlings zu. Gegen morgen übergab er Mrs. Bonnet, seiner Wirtschafterin, die Pflege, denn es war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, dass er unbedingt eine Pflicht erfüllen müsse.
Er fuhr zum Polizeihauptquartier.
Hier hatte er eine Unterredung mit einem der höchsten Beamten und erreichte, dass sogleich sämtliche Bandagisten Londons den Befehl erhielten, einen Mann, der etwa im Laufe des Tages zu ihnen komme, um einen künstlichen Arm bei ihnen zu bestellen, sofort durch den nächsten Policeman verhaften zu lassen.
Als Sherlock Holmes in seine Wohnung zurückkehrte, war er sichtlich unangenehm überrascht, ein Telegramm vorzufinden, das folgenden Wortlaut hatte:
Mr. Phineas Aberdeen, mein Gatte, beschwört Sie, zu ihm zu eilen. Er wünscht Sie vor seinem Tode nochmals zu sehen.
Arabella Aberdeen.
»Das ist eine Bitte, die ich nicht unerfüllt lassen kann«, sagte Sherlock Holmes. »Mrs. Bonnet, bringen Sie mir schnell das Frühstück, ich werde so lange bei unserem Patienten bleiben.«
Und wieder beugte sich Sherlock Holmes sorgenvoll und zärtlich über den bleich daliegenden jungen Mann und lauschte auf jedes Wort, das sich seinem irr redenden Mund entrang.
»Sandsackmänner – ein Brett schwimmt, helft, helft – das Greenwich-Hospital!«
»Seltsam ist es doch im höchsten Grade, dass er dieses Greenwich-Hospital immer in Verbindung mit dem Schwimmen eines Brettes in seinen Fantasien vorbringt«, sagte sich Sherlock Holmes, »ich werde darüber nachdenken müssen.«
Nachdem Sherlock Holmes in größter Eile gefrühstückt hatte, eilte er zu Mr. Phineas Aberdeen.
Die Gefühle, welche Sherlock Holmes für diesen Mann hegte, waren sehr geteilter Natur.
Einerseits bedauerte er ihn, um des Verschwindens seiner Tochter willen, andererseits wusste er aber, dass Aberdeen so manches im Geschäftsleben getan hatte, was hart an Verbrechen gestreift war.
Nun hatte der Detektiv das alte, aber elegant eingerichtete Haus in der Cannon Street erreicht.
Kaum war er eingetreten, so eilte ihm Arabella schon entgegen.
Sie berührte die Vorfälle der vergangenen Nacht mit keinem Wort, sondern drückte ihm nur innig die Hand.
»Die Ärzte sagen, Mr. Aberdeen müsse sterben«, rief sie aus. »Er will Sie aber unbedingt sehen und sprechen. Augenblicklich ist sein Advokat, Mr. Potter, bei ihm, ich glaube, es handelt sich um sein Testament. Folgen Sie mir, denn er hat befohlen, Sie jederzeit an sein Bett zu führen!«
Die schöne Frau durchschritt mit Sherlock Holmes einige prachtvoll eingerichtete Zimmer, bis sie eine Tür öffnete, durch welche man in das Krankenzimmer trat.
In einem prächtigen Bett lag der Mann, welcher der Wucherer von Cannon Street genannt wurde.
Seine hohe Gestalt war abgezehrt, das Gesicht, von einem grauen Bart umrahmt, verfallen, große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
An einem kleinen Tischchen saß Mr. Potter. Vor ihm lagen einige Schriftstücke.
»Mr. Sherlock Holmes ist da«, sagte Mrs. Arabella mit leiser Stimme. »Du willst ihn doch sehen?«
»Sherlock Holmes,« rief der Sterbende mit leiser Stimme, »willkommen, herzlich willkommen! Erfahren Sie denn, Mr. Sherlock Holmes, ich habe soeben 5000 Pfund Sterling für Sie in meinem Testament ausgesetzt, für den Fall, dass es Ihnen gelingt, meine Tochter zu finden. Man hat mir erzählt, dass Sie sich anheischig gemacht haben, in drei Tagen diesen geheimnisvollen Fall aufzuklären. Ach, mein armes, unglückliches Kind, ich glaube, man wird dich nur als Leiche wiederfinden!«
»Das haben wir vorläufig nicht zu fürchten, Mr. Aberdeen«, erwiderte Sherlock Holmes. »Ich glaube, Ihnen auch die gute Hoffnung machen zu können, dass Sie Ihre Tochter wiedersehen werden.«
»Ich werde sie wiedersehen?«, murmelte der Sterbende mit schmerzlicher Stimme, »ich nicht, ich fühle, dass ich in wenigen Stunden mein Leben ausgehaucht haben werde. Liebe Arabella, habe die Güte und lass die beiden Herren allein; mein Testament ist gemacht. Ich habe dir die Güte und die Liebe, die du mir in den letzten zwei Jahren gewidmet hast, glaube ich, reichlich vergolten. Für deine Zukunft ist gesorgt.«
Arabella neigte sich nieder und küsste die kalte, abgezehrte Hand ihres Gatten, dann presste sie das Tuch vor die Augen und verließ das Gemach.
»Mr. Sherlock Holmes«, nahm Aberdeen mit keuchender Stimme das Wort, als er sich mit dem Advokaten und dem Detektiv allein befand, »ich habe soeben Mr. Potter mein Testament diktiert. Ich habe versucht, alles gut zu machen, was ich im Leben Schlechtes getan habe. Ich habe viele Familien bedacht. Die durch mich Schaden gelitten haben, sind in meinem Testament entschädigt worden, nur ein Fall liegt mir besonders am Herzen. Es gibt einen Mann – im Angesicht des Todes muss man aufrichtig sein – den ich durch meine wucherischen Manipulationen vollständig zugrunde gerichtet habe. Diesem Mann habe ich in meinem Testament 5000 Pfund Sterling ausgesetzt, aber er ist verschwunden. Man muss ihn suchen, und das … das sollen Sie übernehmen, Sherlock Holmes.«
»Und wie heißt dieser Mann?«, fragte der Detektiv.
»Es war ein schottischer Gutsbesitzer – ein gewisser Jaques Delauny. Ich will, dass auch er mir nicht mehr verflucht – ich will mit dem Menschen versöhnt sein!«
»Mr. Aberdeen«, rief Sherlock Holmes, »geben Sie sofort dem Advokaten Mr. Potter den Auftrag, die Bestimmung, die sich auf Jaques Delauny bezieht, aus dem Testament zu streichen. Dieser Mann hat sich bereits bezahlt gemacht, er hat sich furchtbar an Ihnen gerächt!«
Der Sterbende hob ein wenig das Haupt aus den Kissen heraus; aus weit geöffneten Augen blickte er Sherlock Holmes fragend an.
»Ich behaupte«, fuhr Sherlock Holmes fort, »dieser Jack Delauny ist es gewesen, der Ihnen Ihr Kind, Ihre Elisabeth, entführt hat. So hat er seinen Hass befriedigt, den er gegen Sie hegte.«
Ein Schrei zitterte von den Lippen Aberdeens, dann sank er stöhnend zurück und gurgelnd brachte er die Worte aus seiner keuchenden Brust hervor: »Das also ist … des Rätsels Lösung. Sie mögen recht haben, Mr. Sherlock Holmes. Jack Delauny hat mein Glück zertrümmert, meinen Frieden zerstört, mein Leben vernichtet. Jetzt denke ich daran, dass er mir einst zugerufen hat: Du hast mir das Beste genommen, mein Heim, ich werde dir einst das Beste nehmen, was du dein Eigen nennst!«
Schweigend durchstrich der Advokat den Passus im Testament, der von Jaques Delauny handelte. Dann drückte er dem Sterbenden die Feder in die Hand und dieser hatte noch Kraft genug, seinen Namen unter das Testament zu setzen.
Eine halbe Stunde später war der Wucherer von Cannon Street gestorben. Durch seinen letzten Willen machte er vieles gut, was er im Leben verschuldet hatte.