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Der Detektiv – Band 26 – Die Gesellschaft der roten Karten – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Gesellschaft der roten Karten

Teil 4

Harst schwieg. Durch die offenen Fenster war plötzlich vom Garten her lautes Rufen, Gelächter und Stimmengewirr zu uns hereingedrungen.

Nun vor der Veranda eine heisere, helle Stimme: »Wreeden – hallo! Wir sind hier zu viert und haben Durst auf Ihren alten Rheinwein, kommen gerade aus dem Klub …! Wreeden – raus aus dem Bett, aufgemacht! Hier stehen vier Halbvolle, die ganz voll werden wollen.«

Offenbar war dieser Herr stark bezecht.

»Der Prinz!«, flüsterte Wreeden.

»Ah – wie schlau!«, meinte Harst. »Lassen Sie sie ein! Aber nicht hier. Der Zigarrenrauch könnte verraten, dass Sie schon Gäste haben. Können Sie uns irgendwo verbergen?« Harst hatte noch mehr Wünsche. Wreeden verstand schnell, worauf es ankam.

Zehn Minuten später. Harst und ich hatten in der Bibliothek Wreedens hinter einem indischen Vorhang Platz gefunden, der eine Tür verbarg und durch einen Stern von Lanzen eingeborener Stämme halb verdeckt wurde. Drei Meter vor uns saßen Wreeden und die vier Klubmitglieder um den großen Tisch in Ledersesseln und tranken aus grünen Römern goldgelben Rheinwein.

Dass der Prinz nur Trunkenheit vortäuschte, merkte ich an Kleinigkeiten. Und dass er nur hierhergekommen, war, um zu sehen, ob wir, seine Opfer (denn nur auf seinen fraglos der Jacht vorausgeschickten Befehl waren wir ja hier in Batavia in solcher Weise empfangen worden) bei Wreeden bereits nach unserer geglückten Flucht eingetroffen seien, war ebenso offensichtlich.

Harst und ich hatten in den Vorhang kleine Löcher in Augenhöhe gebohrt. Nichts entging uns – kein Wort, keine Miene des Prinzen, den wir gerade vor uns hatten.

Wreeden machte seine Sache sehr gut. Er begann von unserem Verschwinden zu sprechen.

»Ich wette, die beiden Deutschen sind der Gaunerbande sehr dicht auf den Fersen«, sagte er jetzt. »Ich habe zwar von Harst seit diesen vier Tagen – nein fünf sind es ja – weder etwas gesehen noch gehört, aber eine ganz bestimmte Tatsache gibt mir die Gewissheit, dass ich mich nicht irre.«

»Tatsache?«, fragte Blönheelm ironisch. »Welche denn?«

»Nun die Tatsache, dass ich jetzt herausgefunden habe, dass irgendjemand absichtlich am linken Hinterrad meines Wagens die Buchsenschraube gelockert hat, damit der Wagen nach einiger Zeit das Hinterrad verlöre und unbrauchbar würde. Ich nehme nun an, dass Harst dies auch argwöhnt und dass er jetzt den Mann sucht, der am Hafen, als der Wagen dort wartete, sich an diesem zu schaffen machte.« Wreeden war wirklich ein gelehriger Schüler. Genauso hatte Harst ihm diese Sätze vorher in den Mund gelegt.

»Aber bester Wreeden, weshalb sollte denn jemand Ihren Wagen haben beschädigen wollen?«, rief der Prinz überlaut und lachte abermals ironisch auf.

»Ja – das weiß ich nicht. Aber eins weiß ich, dass ich jetzt, wo Harst in Batavia ist, endlich wagen werde, meine Sammlung ungeschliffener Edelsteine nach Amsterdam zum Schleifen zu senden. Morgen Nachmittag um 5 Uhr verlässt der große Frachtdampfer Antje von Grooningen den Hafen. Der nimmt den kleinen Lederkoffer mit, in dem mein steinerner Schatz in einer Stahlkassette ruht. Kein Mensch ahnt etwas davon, dass die Antje diesmal Edelsteine im Wert von einer Million davonführt. Sie, meine Herren, werden ja schweigen.«

Die Falle war gestellt! Nun sollte sich zeigen, ob sie auch nach Wunsch zuklappen würde.

Blönheelm hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen, gähnte dauernd und sagte dann beim Abschied zu Wreeden: »Sie müssen mir sofort mitteilen, wenn Harst sich bei Ihnen sehen lässt. Im Vertrauen: Ich glaube ihm einen Weg angeben zu können, wie er der Gaunerbande auf die Spur zu kommen vermag.«

»Was Sie so alles behaupten, Durchlaucht!«, meinte Wreeden kopfschüttelnd. »Sollten Sie nicht etwas renommieren?«

»Darüber mag Harst entscheiden. Jedenfalls: Sobald er sich hier einfindet, telefonieren Sie mich an, und wenn es mitten in der Nacht ist.«

Der Prinz wohnte im östlichsten Teil der Europäerstadt, in Weltevreden. Wir waren ihm dicht auf den Fersen geblieben. Nachdem er sich von seinen drei Freunden getrennt hatte und wir drei, freilich in Abständen von fünfzig Schritt, in eine genau nach Nordost verlaufende Straße eingebogen waren, bemerkten wir in weiter Ferne einen Feuerschein. Blönheelm blieb bei einem der eingeborenen Polizisten stehen. Als wir denselben Beamten dann fragten, wo es brenne, erwiderte er, danach hätte soeben auch Seine Durchlaucht gefragt. Nun, das Feuer wüte schon zwei Stunden, und zwar sei es ein dem chinesischen Millionär Lian Tschio gehöriges Gehöft, das dort in Flammen stehe. »Der Verwalter seiner Reispflanzungen wohnt dort, auch ein Chinese«, fügte er hinzu.

Wir dankten bescheiden und ging weiter. Der Polizist hielt uns sicher für chinesische Kulis, die hier noch fremd waren.

Eine halbe Stunde drauf – es war genau 2 Uhr morgens – verließ ein dicker Chinese das elegante Haus des Prinzen und wanderte gemächlich der Altstadt von Batavia zu. Ihm folgten zwei schmierige andere Chinesen bis vor das Gartentor eines am Hauptkanal gelegenen Grundstücks.

Inzwischen war es bereits hell geworden und in der Altstadt herrschte ein so lebhafter Verkehr, wie dies nur in einem so buntscheckigen Ameisenhaufen wie Batavia möglich ist, wo die farbigen Bewohner sehr früh ihre Tagesarbeit beginnen.

Wir mit unseren nur ungenügend gefärbten Gesichtern mussten nun doch fürchten, dass wir bei zunehmender Tageshelle auffallen würden. Nachdem wir von einem kleinen chinesischen Bengel, der einen einräderigen Karren mit Früchten vor sich herschob und seine Waren in allen Sprachen mit schriller Stimme anpries, allerlei eingekauft und dabei erfahren hatten, dass das Grundstück dem großmächtigen, sehr ehrenwerten und sehr reichen Lian Tschio gehörte, wählten wir eine verfallene leerstehende Bambushütte in einer Seitengasse als vorläufiges Quartier, aßen und streckten uns zum Schlaf aus. Wir waren beide nun mehr tot als lebendig. Nach den Aufregungen der verflossenen Tage folgte nun der Rückschlag. Entkräftet wie wir waren, musste dieser Rückschlag sich auch in vollständiger Erschöpfung bemerkbar machen. Ich schlief schon während unserer bescheidenen Mahlzeit ein, hörte nur noch halb hin auf das, was Harst sprach, obwohl doch einige seiner Bemerkungen gewiss derart waren, dass man aufmerksam werden musste. Als Letztes hörte ich noch, wie Harst seine Taschenweckuhr aufzog und sagte »Um elf Uhr müssen wir den Polizeidirektor aufsuchen.«

Harst weckte mich. So schlaftrunken ich auch noch war: Ich hörte sofort, dass sich gerade nun eines der hier so häufigen schweren Gewitter über Batavia entlud. In strömendem Regen eilten wir nun auf die Straße, fanden einen der leichten, einspännigen Mietwagen und ließen uns von dem javanischen Kutscher, der von zwei so fragwürdigen Gestalten Vorausbezahlung verlangte, nach Weltevreden fahren, wo am Waterlooplein das Regierungsgebäude und die Polizeidirektion liegt. Als wir den Herrn Polizeidirektor zu sprechen wünschten, lachte uns der Pförtner ins Gesicht. Dreckige Kulis und diese Bitte – eine Frechheit!

Schließlich wurde ein vorübergehender, breitschultriger Holländer auf uns aufmerksam. Wir standen noch mit dem Pförtner in der Vorhalle. Der in tadellos weißes Leinen gekleidete Holländer fixierte uns scharf. Dann trat er näher. Ich hörte, wie Harst hastig ihm zuflüsterte – auf Deutsch: »Harald Harst. Bitte unauffällig. Möchte Sie allein sprechen.«

Der Herr schickte den Pförtner weg, winkte uns und ging uns voran in den ersten Stock hinauf.

Wir hatten Glück gehabt: Es war der Leiter der Kriminalpolizei der Residentschaft Batavia, der Polizeirat Baron van Zeerten.

In van Zeertens Dienstzimmer gab es dann eine sehr lebhafte Unterhaltung zwischen dem Polizeirat und Harst, nachdem der liebenswürdige, lebhafte Holländer unverhohlen seiner Freude darüber Ausdruck gegeben hatte, dass er Harst nun endlich auch persönlich nähertreten dürfte, von dem er schon so viel gehört hätte.

Harst ging sofort auf sein Ziel los, fragte, was der Baron von dem Prinzen Blönheelm hielte.

Zeerten wurde stutzig. »Dass Sie hier beruflich tätig sind, Herr Harst«, meinte er, »beweist ja schon Ihr und Ihres Freundes Kostüm. Hat der Prinz mit Ihrer hiesigen Aufgabe etwas zu tun? Blönheelm ist nämlich ein guter Bekannter von mir. Und Ihre Frage nach ihm macht ja fast den Eindruck, als ob Sie …«

»… ja – als ob ich diesem Blönheelm nicht ganz traute. Es ist auch so. Der Mann ist ein Verbrecher, sogar das Oberhaupt der berüchtigten roten Karten

Zeerten lächelte ein wenig überlegen. »Herr Harst, wenn Sie auch Weltruf als Detektiv besitzen, hier sind Sie auf falscher Fährte. Blönheelm ist ein harmloser – na, sagen wir – Schwätzer. Nichts weiter. Dabei aber eine Seele von Mensch.«

»Hat er mit Ihnen nicht recht oft über die Gesellschaft der roten Karten gesprochen? Haben Sie ihm nicht jedes Mal mitgeteilt, wenn die Hilfe der hiesigen Kriminalpolizei von einem der Geschädigten angerufen worden war?«

»Allerdings. Blönheelm ist ja so absolut verschwiegen, dass …«

»Schon gut. Hat der Prinz nach seiner Übersiedlung hierher Ihre Bekanntschaft gesucht? Besinnen Sie sich bitte genau. Ich vermute nämlich, dass er nur Ihr Freund wurde, um Sie aushorchen zu können.«

Der Baron machte plötzlich ein ganz anderes Gesicht.

»Donner noch eins, Herr Harst, Sie verstehen es, einen misstrauisch zu machen!«, rief er leise. »Allerdings – ich wunderte mich damals, dass der Prinz gerade mir so sehr liebenswürdig entgegenkam und …«

»Danke. Das genügt mir. Gibt es hier einen Herrn, der den Prinzen bereits von Holland her kennt?«

»Allerdings. Der Verwaltungsrat van Druysen ist Blönheelm mal im Haag flüchtig vorgestellt worden.«

»Hm – da war Seine Durchlaucht seiner Sache ziemlich sicher, zumal er ja stets ins Innere reist, sobald sich hier Verwandte von ihm sehen lassen. Nun, ich will Ihnen jetzt offen alles mitteilen, Baron. Mein Verdacht gegen den Prinzen stützte sich auf Folgendes.«

Er berichtete von dem Abend bei Lord Wolpoore, von dem Stern mit den aramäischen Buchstaben und von allem anderen, schilderte auch unsere Gefangennahme und Kerkerhaft und fügte hinzu: »Der Millionär Lian Tschio hielt Wreeden damals in jenem Dorf so lange auf, bis der Wagen mit dem scheinbar so leicht scheuenden Pferd mit uns davongefahren war. Demselben Lian Tschio gehörte das Gehöft, in dem wir gefangen waren. Dasselbe Gehöft ist in der verflossenen Nacht niedergebrannt. Es musste abbrennen, da wir dort eingekerkert waren. Es musste besonders der Stall verschwinden, den wir doch nach unserer Flucht wiedererkannt hätten. Er musste so gänzlich zerstört werden, dass unser Kerkermeister nachher frech behaupten konnte, wir hätten uns geirrt: Wir wären anderswo eingesperrt gewesen und irrten uns in der Örtlichkeit, die wir ja nur bei der Dunkelheit gesehen hätten. Diese Chinesen verstehen das Lügen wie selten ein Volk. Gewiss – wir sind am Tage dort in das Gehöft mit dem Wagen hineingerast. Aber der Chinese, dieser große Schweiger, hätte trotzdem alles abgeleugnet, hätte es auch können, da es dort jetzt nur noch verbrannte Trümmer und fraglos eingerissene Mauern gibt. Er hätte leugnen können! Er wird es nicht mehr tun, wenn sein Herr und Meister Lian Tschio entlarvt ist; er wird durch seine jetzige Haft bei Wreeden schon genügend mürbe gemacht sein.«

Der Polizeirat hatte bisher geschwiegen. Er war wohl förmlich benommen durch diese Fülle von Neuigkeiten, besonders durch diese Tatsachen, die so klar eine Schuld des Prinzen an unserer Einkerkerung und eine enge Verbindung zwischen Lian Tschio, Blönheelm und dem Verwalter der Reispflanzung bewiesen. Nun aber sagte er ganz erregt: »Sie haben ganz recht, Herr Harst: Nur Blönheelm kann für Sie hier diesen brutalen Empfang, diese hinterlistige Falle, vorbereitet haben! Nur eine sehr hochstehende Intelligenz konnte auch aus jenem Schreiben an Lord Wolpoore den geheimen Text herausfinden. Der Prinz ist bei aller Renommiersucht ein feiner Kopf. Das habe ich oft gemerkt. Und jetzt durchschaue ich auch sein falsches Spiel mit mir. Das Motorboot der Gesellschaft der roten Karten konnte deshalb nie erwischt werden, wenn es das Lösegeld in Empfang nahm und das Diebesgut wieder aushändigte, weil Blönheelm stets wusste, ob die Polizei benachrichtigt war. Ja – er ist der Leiter dieser Diebesbande. Das sehe ich nun selbst ein! Er – ein holländischer Prinz!«

Harst lächelte nun in besonderer Weise.

»Und doch ist er es nicht!«, meinte er. »Blönheelm ist nicht der Obermacher. Ich habe meine Ansicht geändert. Er ist unbeteiligt bei alledem – ganz!«

Der Baron und ich riefen gleichzeitig: »Unmöglich! Er muss es sein!«

Harst schüttelte den Kopf. »Ein großer Irrtum. Auch hierfür werde ich den Beweis erbringen, und zwar nachmittags um 4 Uhr am Hafenkai, wenn Wreeden wie vereinbart den kleinen Lederkoffer an Bord der Antje van Grooningen trägt, in dem angeblich für eine Million Diamanten liegen. Lassen wir jetzt alle weiteren Erörterungen. Ich bitte Sie, Baron, dass Sie unsere Masken als chinesische Kulis etwas verbessern und dass Sie sich dann persönlich, aber gleichfalls verkleidet vor dem Liegeplatz des Dampfers einfinden. Einige Ihrer Detektivbeamten aber mögen den Gefangenen im geschlossenen Wagen von Wreeden abholen und eben dorthin schaffen. Sollten Sie Zeit haben, Baron, so sehen Sie sich mal in aller Stille des Prinzen Motorboot genauer an. Es dürfte sehr kräftige Motoren haben, wenn es auch nur 15 Knoten für gewöhnlich läuft, so kräftige Motoren, dass es damit in Wahrheit fast die doppelte Schnelligkeit erreicht und jeden anderen Fahrzeug deshalb entkommt – wie das Boot der roten Karten es stets tut.«

Der Polizeirat machte ein sehr ungläubiges Gesicht und sagte zögernd: »Ich denke, Blönheelm hat mit der Diebesbande nichts zu schaffen?! Und jetzt behaupten Sie wieder, Herr Harst, dass …«

»Ganz recht – dass der Prinz kein Verbrecher ist!«, vollendete Harald. Dann wurde diese Angelegenheit nicht weiter berührt.