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Der Welt-Detektiv Band 6

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Buffalo Bill Der letzte große Kundschafter – 1. Kapitel

Buffalo Bill
Der letzte große Kundschafter
Ein Lebensbild des Obersten William F. Cody, erzählt von seiner Schwester Helen Cody Wetmore
Meidingers Jugendschriften Verlag, Berlin 1902
Erstes Kapitel
Die alte Heimstätte in Iowa

Ein hübsches, geräumiges, sonnenbeschienenes Landhaus, umgeben von schattigen Wäldern und bunten Wiesen – dies ist das Bild, an das sich meine frühesten Kindheitserinnerungen knüpfen. Dorthin waren meine Eltern, Isak und Mary Cody, bald nach ihrer Heirat gezogen.

Die Besitzung trug den Namen Scottfarm und lag im Staat Iowa in der Nähe der historisch gewordenen kleinen Stadt Le Clair, die noch vor wenigen Jahren ein Indianerdorf gewesen war, wo Blank Hawk seine tausend Streiter zu ihrem letzten Kriegstanz versammelt hatte; wo General Scott sein Feldlager errichtet, den Vertrag mit den Sauk und Fox abgeschlossen und wo, infolge einer Übereinkunft mit den Häuptlingen der Sauk, der berühmte Mischling Antoine Le Clair, der Gelehrte und Dolmetscher der Indianer, seine Hütte erbaut und dem Ort den Namen gegeben hatte. Hier, in dieser vom Kriegslärm der Indianer und von den bahnbrechenden Kämpfen der Weißen geschwängerten Luft, im sonnigen, Wald umrauschten, wiesenumsäumten Landhaus erblickte mein Bruder William Frederick Cody am 26. Februar 1846 das Licht der Welt.

Unsere von einem alten irländischen Haus abstammende Familie, die ihren Stammbaum bis auf einen der ersten schottländischen Könige zurückführt, bestand aus fünf Töchtern und zwei Söhnen – Martha, Samuel, Julia, William, Eliza, Helen und May. Samuel, ein ungewöhnlich schöner und reichbegabter Knabe, verlor noch vor zurückgelegtem vierzehntem Jahr durch einen Unglücksfall sein Leben.

Er ritt Betsy Baker, eine unter den alten Ansiedlern von Iowa als edles Rassepferd bekannte Fuchsstute von feurigem, zugleich aber auch etwas bösartigem Temperament. Will begleitete seinen Bruder, und obwohl der Kleine kaum sieben Jahre zählte, so saß er doch schon mit jener Leichtigkeit und Anmut, wodurch er sich auch später als erfahrener Reiter auszeichnete, auf seinem Pony. Da plötzlich wurde Betsy Baker widerspenstig und versuchte, ihren Reiter abzuwerfen. Allein vergebens bäumte sie sich und schlug nach allen Seiten aus – Samuel blieb sattelfest. Endlich gab das Tier anscheinend den Kampf auf, und voll kindlichen Frohlockens rief Samuel: »Na, Betsy Baker, diesmal ist es dir doch nicht gelungen!«

Das waren seine letzten Worte. Als ob das Tier etwas von der sorglosen Unachtsamkeit seines Besiegers geahnt hätte, stieg es plötzlich kerzengerade in die Höhe und überschlug sich, den verwegenen Knaben unter seiner Last begrabend.

Wir jüngeren Kinder freilich konnten uns nur dunkel an Bruder Samuel erinnern, unsere Eltern aber hatten ihre ganze Hoffnung und ihren höchsten Ehrgeiz auf diesen Sohn gesetzt. Diese Gefühle übertrugen sie nun natürlicherweise auf den jüngeren, nun einzigen Sohn, und diese Hoffnungen, die hauptsächlich unsere Mutter nährte, wurden durch die Erinnerung an eine seltsame Prophezeiung, die ihr vor Jahren von einer Wahrsagerin gemacht worden war, unterstützt. Meine Mutter war zwar eine viel zu kluge und gebildete Frau, um einem törichten Aberglauben nachzuhängen, erfüllte Prophezeiungen müssen jedoch auch den starrköpfigsten Skeptiker, wenn nicht ganz bekehren, so doch immerhin etwas mildern. Unserer Mutter gemäßigte Zweifel aber vermochten gegen die wunderbare Erfüllung einer Prophezeiung nicht standzuhalten, die folgendermaßen gelautet hatte. In einer südlich gelegenen Stadt Nordamerikas, wo meine Mutter als Mädchen zu Besuch war, erregte eine berühmte Wahrsagerin, zu der die Menschen massenhaft hinströmten, großes Ansehen. Auch meine Mutter und meine Tante ließen sich aus Neugierde verleiten, die Sibylle aufzusuchen.

Beide nahmen unter ungläubigem Lachen die Prophezeiung hin, dass meine Tante mit ihren beiden Kindern innerhalb zwei Wochen vom Tode ereilt würde. Und doch traf das Entsetzliche ein, denn alle drei wurden vom gelben Fieber ergriffen und starben noch vor Ablauf der angegebenen Zeit. Diese unheimliche Bekräftigung der prophetischen Macht der Wahrsagerin veranlasste natürlicherweise meine Mutter, auch dem sie selbst betreffenden Teil der Prophezeiung mehr Glauben zu schenken. Auf dem Dampfer, der sie nach Hause zurückbringen würde, sollte sie nämlich ihrem künftigen Gatten begegnen, dann ihn nach Verlauf eines Jahres heiraten und drei Söhne zur Welt bringen, von denen nur der zweite am Leben bleiben würde. Der Name dieses Sohnes aber sollte über die ganze Welt verbreitet und eines Tages derjenige des Präsidenten der Republik werden. Der erste Teil dieser Prophezeiung erfüllte sich, und Samuels Tod bildete ein neues Glied in der Kette seltsamer Zufälle. War es unter diesen Umständen zu verwundern, wenn sie ungewöhnliche Erwartungen auf ihren zweiten Sohn setzte?

Ob es für einen Knaben ein Glück ist, der einzige Bruder von fünf Schwestern zu sein, ist fraglich. Die älteren Schwestern verhätschelten Will, die jüngeren betrachteten ihn als ein höheres Wesen, und wir alle zweifelten keinen Augenblick daran, dass unserem einzigen Bruder noch große Dinge beschieden sein würden. Voll Zuversicht sahen wir der endgültigen Erfüllung der Prophezeiung entgegen und betrachteten Will mit kindischer Verehrung als zukünftiges Staatsoberhaupt.

Die Gesundheit meiner Mutter, die ohnedies immer etwas zart gewesen war, wurde durch den plötzlichen Tod Samuels so sehr erschüttert, dass man uns einen Wohnungswechsel anriet. Zu jener Zeit hatte die kalifornische Goldwut ihren Höhepunkt erreicht. Auch mein Vater wurde von dem Fieber gepackt, wenn auch in milderer Form, da wir auf unserer Farm nicht nur ein behagliches Heim, sondern auch unser reichliches Auskommen hatten. Getrieben von dem Wunsch, unserer Mutter Gesundheit zu kräftigen, und ohne Zweifel auch von der Sehnsucht nach den goldenen Schätzen, die so viele anlockten, verkaufte er seine Farm und befahl uns, die Vorbereitungen zu einer Reise nach dem Westen zu treffen. Ehe jedoch seine Pläne endgültig festgesetzt waren, kam er mit einigen Goldsuchern, die soeben voller Enttäuschung von der Küste zurückgekehrt waren, zusammen, was einen solchen Eindruck auf ihn machte, dass er sich zu einer Niederlassung in Kansas anstatt in Kalifornien entschloss.

Unser Vater hatte eine besondere Vorliebe für schöne Wagen und Pferde, dabei eine wahre Leidenschaft für alle Reitkünste, und so kam es nicht selten vor, dass unser Stall voll prächtiger Vollblutpferde stand, während die Speisekammer leer war. Für unsere Auswanderung nach dem Westen hatten wir außer drei sogenannten Prärieschonern1 eine große Familienkutsche, die von einem prächtigen Doppelgespann mit silberbeschlagenem Zaumzeug gezogen wurde. Dieser Wagen war auf besondere Bestellung in der Hauptstadt angefertigt, mit feinstem Leder ausgepolstert, poliert und lackiert worden, als sollte er einem König zur Reise durch sein Land dienen.

Bruder Will machte sich zu unserem bewaffneten Geleitsmann und ritt mit seiner am Sattelknopf befestigten Flinte voll Stolz neben uns her, während der Hund Türk die Nachhut bildete.

Wills Fantasie knüpfte an diesen Zug nach dem Westen tausend mögliche aufregende Kämpfe und Abenteuer mit Indianern, obwohl er von den wirklichen Gefahren, die uns auf diesem Weg bedrohten, keine Ahnung hatte. Die erste Woche unserer Reise bot indessen nur wenig Interessantes für ihn, da wir fortwährend auf Ansiedlungen und Farmen stießen, wo wir die Nacht zubringen konnten. Allein von Meile zu Meile wurden die Niederlassungen von Weißen seltener, bis Will uns Kindern endlich eines Tages voll freudiger Erregung zuflüsterte: »Ich hörte eben, wie der Vater zur Mutter sagte, dass wir heute voraussichtlich die Nacht im Freien zubringen müssten. Das wird einen Spaß geben!«

Wills Hoffnungen erwiesen sich als berechtigt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir ein Flüsschen, und da die nächste Ansiedlung noch etwa zwölf englische Meilen entfernt war, so wurde beschlossen, am jenseitigen Ufer zu nächtigen. Zuerst setzte man die Familienmitglieder über, worauf dem achtjährigen Knaben die Aufgabe zufiel, einen zum Aufschlagen der Zelte geeigneten Platz aufzusuchen.

Die Laufbahn meines Bruders liefert den deutlichsten Beweis, dass die Umgebung, in der ein Mensch aufwächst, den größten Einfluss auf die Bildung seines Charakters ausübt. Es ist so immerhin möglich, dass Wills Vorliebe für das freie Leben in der weiten Ebene auch zugleich eine von irgendeinem Vorfahren herzuleitende Erbschaft ist, jedenfalls aber verdankt er seine spätere hohe Gewandtheit als Kundschafter in erster Linie den Erfahrungen, die er schon in seiner Kindheit gesammelt hat. Die Fähigkeit, Quellen, wichtige Fußpfade der Indianer und günstige Lagerungsplätze ausfindig zu machen, schien ihm förmlich angeboren zu sein.

Nachdem die Zelte an einer befriedigenden Stelle aufgeschlagen waren, rief Will den Hund Türk herbei und machte sich mit der Flinte in der Hand auf die Suche nach Wildbret zum Abendessen. Der Erfolg übertraf seine kühnsten Erwartungen. Kaum hatte er das Lager hinter sich, so schlug der Hund an, und im gleichen Augenblick sprang ein prächtiger Hirsch aus dem Gebüsch heraus. Wohl jeder Jäger wird zugeben müssen, dass ihn beim Anblick seines ersten Hirsches eine mächtige Erregung erfasst hat, und so ist es kein Wunder, wenn Will in seinem Alter das plötzlich vor ihm aufgetauchte stolze Tier so lange und unbeweglich anstarrte, bis es seinen Blicken entschwunden war. Türk setzte ihm nach, kam aber bald wieder zurückgetrottet und bellte seinen Herrn vorwurfsvoll an. Will wurde indessen gleich darauf Gelegenheit geboten, sich Türks Achtung wiederzugewinnen, denn nachdem der Hund mit erneutem Anschlagen davongeschossen war, tauchte ein zweiter Hirsch in Schussweite auf, und diesmal zielte der junge Jager, seine Erregung niederkämpfend, mit fester Hand und erlegte seinen ersten Hirsch.

Am darauffolgenden Sonntag schlugen wir wieder bei einem tiefen, rasch fließenden kleinen Fluss unser Lager auf. Türk, der, ermüdet und erhitzt von einer wütenden Kaninchenjagd, über das Flüsschen zu schwimmen versuchte, bekam in dem kalten Wasser plötzlich eine Art Starrkrampf und wäre untergesunken, wenn Will ihm nicht zu Hilfe geeilt wäre. Der Fährmann, der bemerkte, wie der Knabe mit dem erstarrten Hund gegen das Wasser ankämpfte, fuhr ihm mit dem Schiff nach. Will aber erreichte ohne Beistand das Ufer.

»Dass Hunde Kinder retten, davon habe ich wohl schon gehört, doch nie von einem umgekehrten Fall«, rief der Fährmann aus. »Wie alt bist du denn?«

»Acht, bald Neun«, antwortete Will.

»Du bist ein großer, stämmiger Bursche für dein Alter«, sagte der Mann. »Aber es ist trotzdem ein Wunder, dass du mit dieser Last nicht untergesunken bist. Was für ein Riesentier«, fuhr er, sich Türk zuwendend, fort, der, auf drei Pfoten stehend, heftig das Wasser von seinem Fell abschüttelte. Will kniete sofort neben ihm nieder, und das in die Höhe gezogene Bein in seine Hände nehmend, bemerkte er: »Türk muss sich beim Schwimmen an einem Stein das Bein verletzt haben, aber der winselt nicht gleich bei jedem Schmerz wie eure erbärmlichen Köter.«

»Da muss er also wohl von ganz besonders edler Rasse sein«, sagte der Mann. »Wie nennt man denn diese Art Hunde?«

»Es ist eine Ulmer Dogge«, antwortete Will.

»Diesen Namen habe ich allerdings noch nie gehört. Du selbst aber bist ein forscher kleiner Kerl und hast Grütze im Kopf. Du wirst deinen Weg durch die Welt schon finden. Doch jetzt mach, dass du trockene Kleider an den Leib bekommst.«

Will und der hinkende Hund stiegen darauf ins Boot und wurden vom Fährmann zum Lager zurückgebracht.

Türk spielte eine solch wichtige Rolle in unserer Kinderzeit, dass er eine nähere Beschreibung wohl verdient. Er war ein großes, gewaltiges Tier, das von jener Hunderasse abstammte, die im alten Germanien zur Eberjagd benutzt worden war. Später wurden die Hunde dann nach England verpflanzt, wo man sie hauptsächlich als tüchtige Wächterhunde hoch schätzte, denn wenn sie richtig dressiert werden, sind sie noch wilder und grimmiger als die englischen Bulldoggen. Allein nicht nur Will, sondern auch die anderen Familienmitglieder würdigten Türks vorzügliche Eigenschaften, und er verdiente die Liebe, die man ihm schenkte, vollkommen. Durch seine Treue und fast menschliche Klugheit rettete er uns nicht selten Leben und Eigentum; auch war er im Notfall stets bereit, seine eigene Haut in unserem Dienst zu opfern.

In jenen stürmischen Zeiten musste man auf den Pfaden durch den wilden Westen jeden Augenblick auf Räuber und Mörder gefasst sein, und da war es Türks beständige, nimmer ruhende Wachsamkeit, die meinen Vater im rechten Augenblick veranlasste, sich und uns vor nächtlichen Überfällen zu schützen. Energie, Kraft, Mut und Zuverlässigkeit, das waren die Eigenschaften, die Will vor allen anderen schätzte – nun bei Türk und in späteren Jahren bei Menschen. Und wenn es auch bis heute nicht in der Art meines Bruders liegt, seine Zuneigung Menschen und Tieren gegenüber verschwenderisch zu äußern, so weiß er dafür verdienstvolle Handlungen und Taten umso mehr anzuerkennen. Die Geduld und edle Selbstlosigkeit, die er in diesem treuen Hund, dem Freund seiner Kindheit, entdeckte, suchte er freilich in seinem späteren Leben oft vergebens bei den mit einer Seele ausgestatteten Geschöpfen. Trotzdem aber hat er den Glauben an die Menschheit und an ihre hohe Bestimmung niemals verloren, ein wohl allen bedeutenden Männern eigener Charakterzug.

In unser aller Gedächtnis blieb diese Reise für immer haften, den lebhaftesten Eindruck aber mochte sie doch wohl auf Bruder Will gemacht haben, da sie ihm nicht nur sein erstes Zusammentreffen mit einem Hirsch, sondern auch mit einem Schwarzen brachte.

Als wir uns der Grenze des Staates Missouri näherten, kamen wir an eine schöne Farm, wo sich der Vater nach einem Nachtquartier erkundigte. Sie gehörte einer Witwe, und als diese erfuhr, dass mein Vater der Bruder Elias Codys aus Missouri sei, nahm sie uns mit der herzlichsten Gastfreundschaft auf.

Noch befanden wir uns, die Rückkehr des Vaters von der Farm erwartend, auf der Landstraße, als plötzlich dicht neben uns aus dem Gebüsch eine für uns Kinder höchst seltsame Erscheinung auftauchte. Ein Vollblutafrikaner war es mit schwülstigen Lippen, wolligem Haar, riesig großen Füßen und spärlicher Bekleidung. Mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen starrten wir diese für uns Kinder ganz fremde Menschengattung an: selbst Türk verharrte in schweigender Überraschung. In diesem Augenblick kam der Vater zurück und ergötzte sich ebenso wie die Mutter an unseren entsetzten Gesichtern, brach dann aber den Bann, indem er den Neger freundlich anredete, worauf dieser ehrfurchtsvoll und mit einem freundlichen Grinsen antwortete. Es war ein auf den Plantagen der Witwe angestellter Sklave.

Ermutigt durch dieses Grinsen streckte Will ihm die Hand entgegen und genoss voll Stolz das Glück, von dem großen Schwarzen mit Massa angeredet zu werden. Nur mit Mühe konnten wir den kleinen Massa überreden, sich von seinem neuen Freund zu trennen und zum Abendessen zu kommen.

Nach einer stärkenden Nachtruhe setzten wir unseren Weg fort, und nach wenigen Tagen erreichten wir den Wohnort meines Onkels. Eine Unterbrechung der Reise wurde mit Freuden begrüßt, da sie trotz der mancherlei interessanten Erlebnisse und trotz des guten Humors sämtlicher Familienmitglieder doch immerhin lang und ermüdend gewesen war.

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