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Der Wildschütz – Kapitel 18

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Achtzehntes Kapitel

Erläuterungen

Wir dürfen nicht unbemerkt lassen, dass, während die Unterredung zwischen dem Grafen und dem Kapitän stattfand, auch Christian und Elisabeth ein Gespräch miteinander eröffneten und die Freude des alten, ehrlichen Dieners steigerte sich bis zum Entzücken, als er von dem armen Käthchen durch Elisabeth Nachricht erhielt. Sein ganzes Wesen erheiterte sich und die Trauer, welche seit ihrer Entfernung vom Schloss sein Gesicht verdüsterte, war verschwunden.

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, befand sich Elisabeth dem Grafen allein gegenüber. Der Letztere betrachtete die Eingetretene mit einem langen, stechen­den Blick. Ihr Erscheinen machte einen sonderbaren Eindruck auf sein Gemüt, sie stand mit gesenktem Haupt neben dem Eingang und verweilte schweigend dort, erwartend, bis der Schlossherr zu sprechen begann.

»Tretet näher«, sagte er nach einer Pause von wenigen Minuten, dann deutete er auf einen Sessel, auf welchen sich die Eingetretene niederließ. Der Graf fuhr fort: »Nachdem, was ich heute durch den Kapitän Falkland erfuhr, habt Ihr mir gewisse Mitteilungen zu machen, welche nicht geeignet sind, zu den Ohren eines jeden zu gelangen. Ich wünsche von Euch eine deutliche Erklärung. Man hat mir gesagt, dass Euch das Schicksal gewisser Personen nicht unbekannt sei. Ich verlange zu wissen, ob Ihr mit den Gliedern meiner Familie in irgendeiner Verbindung gestanden habt. Oder treibt Euch vielleicht eigenes Interesse an, Vorteile für Euch selbst zu suchen?« »Nein, o nein Herr Graf!«, entgegnete Elisabeth in ergriffenem Ton, »eignes Interesse liegt weit entfernt von mir. Ich habe nicht daran gedacht, Vorteil für mich zu erzielen, ich bin vielmehr gekommen, um für andere zu bitten, um für diejenigen Verzeihung zu erflehen, die Ihnen näherstehen, als wie Sie glauben mögen. Sie, mein Herr!«, fuhr Elisabeth fort, »hielten einen Gefangenen in Ihrem Schloss. Sein Schicksal befreite ihn von seiner Haft und jetzt wird er von den Häschern verfolgt, auf Ihren Befehl. Ich bitte, ich flehe Sie an, nehmen Sie diesen Befehl zurück!«

Der Graf erhob zornig das Haupt bei diesen Worten.

»Ha!«, rief er, »so wäre es jener Schurke, der sich seiner Strafe durch die Flucht entzog. Für ihn wollt Ihr Euch bei mir verwenden, bei mir, der ich so manchen Nachteil durch ihn erleiden musste. Hat er nicht mein Wild niedergeschossen und meine Wälder auf unverschämte Weise geplündert, und für diesen Menschen wollt Ihr bei mir um Verzeihung bitten. Bei Gott, wenn dies die Ursache war, weshalb Ihr hierhergekommen seid, so rate ich Euch, augenblicklich aus meinem Schloss zu gehen, sonst werde ich Mittel finden zu Eurer Entfernung. Wer seid Ihr?«, fuhr er in demselben aufgebrachten Ton fort, »sprecht, wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, mich auf eine so unverschämte Weise zu belästigen.«

»Verzeihen Sie, Herr Graf«, entgegnete Elisabeth, »und hören Sie mich ruhig an, vielleicht wenn ich zu Ende bin, dass Sie dann anders und besser von mir denken. Vor langer, sehr langer Zeit befand ich mich als Kammerfrau im Dienst Ihrer seligen Frau Mutter, deren Ruhe der Allmächtige segnen wolle. Mein Gatte be­fand sich bei Ew. Gnaden als Diener und begleitete Sie auf einer Reise nach Italien. Während jener Zeit ereigneten sich Dinge, die ich mitzuteilen fast nicht wagen darf, wenn Sie mir nicht versprechen, mich bis zu Ende ruhig anzuhören.«

»Sprich weiter!«, rief der Graf, »bei Gott, ich werde dich nicht unterbrechen, mag kommen, was auch immer will. Verschweige mir nichts, aber halte dich streng an die Wahrheit, denn es betrifft Er­eignisse, welche in düsterem Dunkel vor mir verhüllt liegen. Ich habe es oft und sehnlichst gewünscht, darüber eine klare Anschauung zu gewinnen, allein ich konnte trotz allen Bemühungen nicht dazu gelangen.«

»Ich werde Ihnen alles sagen, was ich mit gutem Gewissen vor Gott und Ihnen sagen kann. Ich will kein Haarbreit von der Wahrheit abweichen und möge der Himmel Ihnen Fassung verleihen, meine Mitteilungen anzuhören.«

Und sie begann dem Grafen das zu berichten, was dem Leser von den Schicksalen der unglücklichen Amalie bis zu deren Ein­schiffung bereits bekannt ist. Sie teilte ihm den Anschlag der Gräfin auf das Leben seines Kindes mit und wie sie den Säugling durch List gerettet.

»Amalie wurde mit Gewalt aus ihrem Vaterland hinweggeschleppt und die Gräfin (Gott möge ihr vergeben) fühlte nur dann erst Genugtuung und Befriedigung ihres Stolzes, nach­dem sie Mutter und Kind für immer entfernt hatte. Ich erzog den armen Wurm und Gott stand mir in meinen rechtlichen Absichten bei. Seine hartherzige Großmutter erfuhr nichts mehr von seinen Umständen, sie glaubte ihn tot.«

»Und wo befindet er sich jetzt?«, rief der Graf, »wo weilt er, der Sohn meiner armen Amalie?«

»Vor kurzer Zeit schmachtete er im Kerker!«, erwiderte Elisabeth traurig, »und jetzt irrt er als ein geächteter Flüchtling umhergehetzt von den Häschern, die sein eigener Vater besoldet.«

»Heiliger Gott, was muss ich vernehmen!«, murmelte er, sein Gesicht verbergend mit den zitternden Händen. Er saß wie vom Blitz getroffen und sein Haupt sank kraftlos auf die Brust, in welcher ein Sturm losgebrochen war, der sein ganzes Wesen erschütterte.

»Es ist nicht möglich, nein, ich vermag es kaum zu denken, dass es Wahrheit sein könnte, was du sagst!«, versetzte er, »es ist ein Betrug, ein schändlicher Betrug, den man beabsichtigt; bei allen was dir heilig ist, Weib, schwöre mir, dass du mich nicht betrogen hast!«

»Ich kann es mit einem Eid erhärten«, sagte Elisabeth, »und ich bin zu jeder Zeit bereit, meine Aussage vor dem Gericht zu wiederholen. Es ist alles so, wie ich gesagt habe.«

Ein Seufzer schwer und lang entstieg der Brust des Grafen. Er faltete die Hände und saß lange Zeit ohne Bewegung.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Nebenzimmers und der Kapitän trat herein.

»Sie kommen zur rechten Zeit«, sagte der Graf, sich langsam emporrichtend, »an Ihnen ist jetzt die Reihe, zu bekennen, und wenn Sie noch einen Funken von Gefühl in Ihrem Inneren hegen, dann geben Sie mir Aufschluss über meine Frage. Antworten Sie mir auf Ihr Gewissen, was haben Sie der unglücklichen Amalie für ein Los bereitet, nachdem sie sich auf Ihrem Schiff und in Ihrer Ge­walt befand.«

Der Kapitän stand betroffen und mit gesenktem Blick vor dem Grafen. »Ich werde Ihnen darauf eine Erwiderung geben, die mein Gewissen nicht beleidigt«, sagte er. »Wir wurden während unserer Fahrt von Seeräubern überwältigt. Amalie geriet in die Hände jener Ungeheuer; das ist alles, was mir über ihr Schicksal bekannt ist.«

Der Graf versank in ein früheres Nachdenken zurück, er schien mit schmerzlichen Erinnerungen beschäftigt zu sein. Endlich richtete er sich auf und gegen Elisabeth sich wendend, sagte er: »Man hat, wie du sagst, keine Spur von dem Flüchtigen. Weißt du nicht anzugeben, wohin er sich vielleicht gewendet haben könnte?«

»Er ist, wie ich vernahm, aus hiesiger Gegend verschollen, kein Mensch will ihn gesehen haben. Gott weiß, was aus ihm mag geworden sein.«

Bald darauf hatte die Unterredung ein Ende. Der Kapitän zog sich zurück und Elisabeth begab sich zu dem Wohnzimmer des alten Christian, mit welchem sie noch ein Stündchen plauderte.

Nach Verlauf dieser Zeit entfernte sie sich aus dem Schloss in der Absicht, ihre einsame Behausung im Moorgrund aufzusuchen. Sie stieg langsam den Schlossberg hinab und verfolgte bedächtigen Schrittes das Ziel ihrer Wanderung.

Nach einiger Zeit gelangte sie aus dem Wald ins Freie. Vor ihr lag nun die Umgebung des Dörfchens, über dessen Hütten die tiefste Stille herrschte. Nur hin und wieder sah man einige Bewohner langsam über den öden Haideplatz kommen und dem Wald zu gehen.

Elisabeth wanderte langsam ihrer Hütte zu, deren Giebel halb versteckt hinter einem niedrigen Gebüsch hervorragte. Sie hielt ihre Schritte an und blieb in Betrachtung der Umgebung stehen. Da erblickte sie in der Ferne einen Leichenzug daherkommen, der sich langsam zu einem freien Platz zu bewegte, welcher von einer niedrigen Umzäunung eingeschlossen auf einer kleinen Erhöhung lag. Der Zug, bestehend aus einer bedeutenden Anzahl Leidtragender war bald herangekommen und Elisabeth fragte einen Bekannten, der neben ihr vorüberging: »Wen trägt man da hinaus aus unserer kleinen Gemeinde; wer ist der Glückliche, den dieses Los getroffen hat?«

Der Angeredete schaute die Fragende mit verwunderter Miene an. »So wisst Ihr es noch nicht, Mutter Elisabeth, dass der alte ehrliche Leonhard gestorben ist? Das sollte mich doch wundern; nun es ist wirklich eine Wohltat zu nennen, die ihm der Himmel durch seinen Abruf von dieser Welt erwiesen hat. Er würde wohl keine Freude mehr hienieden erlebt haben. Sein unwürdiger Sohn sitzt im Gefängnis und wird es nicht eher verlassen, bis sie ihn zum Rabenstein hinausführen.«

Elisabeth stand einige Augenblicke sprachlos da. »So wäre meine Prophezeiung an ihm so schnell in Erfüllung gegangen«, murmelte sie endlich. »Gott sei Dank, dass der alte brave Mann diesen entsetzlichen Schlag nicht erlebte.«

Der Leichenzug kam nun vorüber und dicht hinter dem Sarg folgte Friz, der älteste Sohn des gefangenen Martin. Der Knabe weinte bittere Tränen um den Verstorbenen, der die letzte Zeit sein Wohltäter gewesen war, und ihn mit Kleidung und Nahrung ver­sehen hatte. Der alte Leonhard war endlich dem Ärgernis über seinen Sohn erlegen und seit dem Tage, wo Georg als Gefangener aus dem Waldschloss geführt wurde, hatte der alte Mann ein Wesen gezeigt, das seine baldige Auflösung deutlich vorhersagte. Der eingetretene Tod war in der Tat eine Wohltat für ihn und mit freudiger Er­gebung schloss der Greis die Augen zu dem langen Schlummer, der das Leid und den Gram vergessen macht, den wir oft genug hienie­den zu überwinden haben.

Elisabeth schloss sich nun dem Zug an und folgte ihm zum Gottesacker hinauf. Nachdem der schmucklose Sarg hinabgesenkt worden war und die Leichenbegleiter sich zurückgezogen hatten, da weilten nur noch zwei Personen an dem immer höher emporsteigen­den Hügel.

Fritz, der verlassene Knabe, der vor kurzer Zeit den Särgen seiner Geschwister hierher gefolgt war, hatte nun auch seinen Wohl­täter verloren. Ihm war niemand übrig geblieben und dieses Bewusstsein machte ihn mutlos. Die Hände gefaltet, stand er neben dem Grab, während seine Augen mit starren Blicken auf dasselbe gerichtet waren.

Da

näherte sich ihm Elisabeth, die von seinem Kummer Zeuge war. Es schnitt ihr tief in das fühlende Herz und sie fühlte sich von innigem Wohlwollen erfüllt gegen den armen, verlassenen Buben.

»Weine nicht, mein Sohn«, sagte sie freundlich, seine von Tränen befeuchtete Hand erfassend. »Gott hat es gut mit demjenigen ge­macht, dem deine Trauer gilt!«

»Ach, ich habe keinen Freund mehr auf der Welt«, jammerte der Knabe, »und niemand wird demjenigen Mitleid schenken, dessen Vater als Verbrecher im Gefängnis sitzt.«

»Nein, mein Kind, das denke nicht«, sagte Elisabeth, »man wird das Unrecht des Vaters dem unschuldigen Sohn nicht entgelten lassen und der Himmel wird für dich sorgen; komm her, mein Sohn, ich will von nun an deine Mutter sein. Ich habe manch gutes Werk gestiftet, wofür ich Undank erntete! An dir wird sich diese bisherige Erfahrung gewiss nicht wiederholen.«

Und sie nahm den Knaben bei der Hand und führte ihn mit sich. Sie schlugen miteinander den Weg zu der nicht weit entfernten Hütte ein, wo sich noch alles in denselben Umständen befand, so wie es die Besitzerin verlassen hatte.

»Da wäre ich denn endlich wieder an dem Ort, der mir so lange zum Aufenthalt gedient hat«, sagte die alte Frau. »O Gott!«, fuhr sie ergriffen fort, »unter welchen Befürchtungen habe ich ihn verlassen und welche Hoffnungen leben in meiner Seele auf bei meiner Heimkehr; nun, der Himmel wird noch alles wohl machen. Komm, mein Sohn!«, fuhr sie zu Fritz gewendet fort, »setz dich, ich werde dir ein wenig Essen zubereiten. Dich hungert gewiss recht sehr; auch will ich für dich einige Kleider von meinem Curt hervorsuchen, welche noch aus seinen Kinderjahren übrig geblieben sind.«

Hierauf begab sie sich hinaus, um die Angelegenheiten ihrer kleinen Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Hatte doch bisher alles stillgestanden und ihr geschäftiger Sinn fand überall etwas anzuordnen und zu verbessern. Die liebevolle Behandlung Elisabeths gegen den Knaben erregte dessen ganzes Vertrauen zu ihr. Er begann sie mit kindlicher Achtung zu lieben und zu ehren und die alte Frau war erfreut über die Dankbarkeit des gutmütigen Burschen. Sie beschloss, ihn für immer bei sich zu behalten, hatte sie doch dann jemand in ihrer Nähe, wenn sie krank werden sollte. Wie bald konnte einer Person in ihrem Alter etwas widerfahren.

Fritz vernahm mit Freuden das Anerbieten, in der Hütte für immer bleiben zu können und er versprach, seiner Wohltäterin von ganzem Herzen zu folgen und alles zu tun, was ihre Umstände an­genehm machen konnte. So hatte denn der verlassene Knabe ein zweites Asyl gefunden, unter dessen Schutz er mit ruhigem Herzen der nächsten Zukunft entgegensehen konnte.