Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Gespenster – Dritter Teil – 40. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Dritter Teil

Vierzigste Erzählung

Die jüdische Tempel-Ruine, unweit Reichenbach, ein Gespensterwohnsitz

Nach dem zweiten Dresdener Frieden, im Jahr 1746, rückte das damals neu errichtete preußische Regiment Markgraf Heinrich von Brandenburg, dem ich unter dem Kommando des verstorbenen Oberstleutnants von Puttkamer, dessen Andenken mir ewig teuer sein wird, diente, in die Garnison Reichenbach, zwei Meilen von Schweidnitz, ein. Da ich in dieser Gegend überall Verwandte und Freunde hatte, nahm ich die Gelegenheit wahr, diese, einen nach dem anderen, freundschaftlich heimzusuchen. Unter anderen ritt ich, begleitet von meinem Kameraden, dem damaligen Adjutanten und im Jahre 1796 als Oberst verstorbenen Freiherrn von Czettritz, am 21. Februar nach Pülzen, einem ganz nahe bei Schweidnitz gelegenen Gut, um die Familie des Oberstleutnant Baron von Czettritz, der daselbst auf Urlaub war, zu besuchen. Der gesellschaftliche Zirkel war so ganz zum Frohsinn gestimmt, dass es uns erst spät am Abend einfiel, an die Heimkehr zum Regiment zu denken. Dazu kam noch, dass schon tiefer Schnee lag und wir in einem außerordentlichen Schneegestöber reiten mussten. Schwerlich würden wir daher bei den freundschaftlichsten Überredungen der Damen dort zu übernachten, Widerstand zu leisten imstande gewesen sein, wenn nicht unsere Pflicht und unser Diensteifer noch stärkere Triebfedern gewesen waren. Der Adjutant musste am nächsten Tag früh zum Rapport in der Garnison sein; und ich durfte ebenfalls den Urlaub nicht willkürlich verlängern.

Es half daher nichts, wir ließen die Reitpferde vorführen, saßen auf und achteten nicht der zahlreich fallenden verbiesternden Schneeflocken, bei denen man Weg und Steg erraten musste.

Zwar nahmen die lieben Damen, als sie unserer Entschlossenheit nichts Besseres mehr zu entgegnen wussten, zuletzt ihre Zuflucht selbst zu furchtbaren Geistererscheinungsgeschichten, die man laut Volkssage, auf der Straße nach Reichenbach häufig wollte erlebt haben. Indessen war dieser, von der einzujagenden Furcht vor Geistern hergenommene Bewegungsgrund gerade am wenigsten geschickt, zwei junge mutige Offiziere umzustimmen.

Wir begannen das nächtliche Abenteuer, und wenn wir gleich nicht ritten, wie Bürger singt,

Und immer weiter hopp hopp hopp
ging’s fort im sausenden Galopp

so ritten wir doch und näherten uns im gelassenen Schritt der furchtbaren Gegend, wo das nächtliche Ungetüm hauste und dem Reisenden – wo nicht den Hals umdreht – doch wenigstens irre führt.

Die Straße nach Reichenbach führt nämlich zwischen Grödnitz und Faulbrück, über den sogenannten Kuhberg hin. Auf diesem standen damals, zwölf Schritte links von dem Weg, die Ruinen eines großen Gebäudes aus der grauen Vorzeit. Das Volk nannte sie den alten Judentempel, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil Reisende um Mitternacht oft ein Geräusch darin vernommen haben wollten, dem Getöse gleich, welches zahlreiche Versammlungen in Synagogen zu verursachen pflegten.

Natürlich, dachten wir, mag der Wind, der diese frei dastehende spukhafte Ruine bei nächtlicher Stille hörbar genug durchsauste, die Furchtsamen vollends dann in Angst setzen, wenn die Gewalt ihrer Einbildungen das wirklich vernommene Getöse unendlich vergrößert oder ihm sonst einen übernatürlichen Anstrich gibt.

Allein wie sehr fand sich unser Unglaube beschämt, als wir der scheußlichen Tempelruine bis auf ungefähr fünfzig Schritte uns genähert hatten.

»Hörst du nichts?«, rief mir der Adjutant zu, der mir vorritt, weil sein Pferd sicherer ging und auch den Weg besser kannte als das meine.

Wir hörten beide ein Geräusch im Tempel, als ob man darin sänge, und trauten anfangs unseren Ohren kaum. Je mehr wir uns indessen dem Tempel näherten, umso weniger Zweifel an der Richtigkeit unserer spukhaften und unbegreiflichen Wahrnehmung blieben uns übrig. Denn ungeachtet der Wind von uns zu der Ruine hin blies, so unterschieden wir doch selbst einzelne Töne und Worte. Wir setzten herzhaft unseren Weg fort, der uns bis auf wenige Schritte an die Gegenstände des Spukens hinaufführte. Plötzlich verstummte nun das singende Gespenst, aber wir hörten ein kleines Geräusch und ein Stöhnen.

Ich wollte hinaufreiten, um das Unbegreifliche vielleicht zu enträtseln, aber Czettritz widerriet es mir und ritt zwar nicht furchtsam, aber doch ohne Aufenthalt davon. Ich blieb dennoch bei dem einmal gefassten Entschluss und wollte mein Pferd aus der Straße hinaus zum alten Gemäuer zwingen, wo die Töne herkamen, aber das schnarchende Pferd widerstrebte aus allen Kräften, ganz so, als ob es den mit noch unsichtbaren spukenden Gegenstand bereits erblicke. Ich musste Gewalt anwenden, um meinen Zweck mit und auf dem unbändigen Tier zu erreichen. Kaum hatte ich mich dem zu erforschenden Gegenstand um wenige Schritte genähert, so kam es mir vor, als sähe ich eine lange, weiße Gestalt von der Ruine her sich mir nähern. Ich gestehe, dass mir die Haut zu grausen anfing. Aber welches natürliche, uns bekannte Wesen der Erde, dachte ich, könnte auch hier in der ungestümen Witterung ohne Obdach um Mitternacht seinen Wohnsitz aufgeschlagen haben? Und doch überzeugte ich mich bald auch von der Wirklichkeit dessen, was mir anfangs nur so vorkam. Indessen rief ich dem vermeinten Gespenst ein herzmachendes, sehr lautes Wer seid Ihr? entgegen.

»Ach, lieber Herr! Um Gotteswillen, helfen Sie mir, einem unglücklichen Verirrten. Anstatt nach Peterswalde, wohin ich geschickt worden bin, zu kommen, bin ich, ganz verbiestert, zu diesem wüsten Mauerwerk geraten. Ich konnte vor Mattigkeit keinen Schritt weitergehen.«

Er hatte das Lied gesungen: Auf meinen lieben Gott, trau ich in Angst und Not.

Er schwieg, sobald er Reisende sprechen hörte, und stand auf, um auf sie zuzueilen. Er erschien mir wie eine lange weiße Spukgestalt, weil er groß und ganz weiß beschneit war. Mein Pferd schnaubte und bäumte sich auf, weil es mit schärferen Sehwerkzeugen begabt das natürliche Gespenst früher bemerkt haben mochte als ich und vor demselben scheute. Es war unlenksam und unbändig, weil es den Rappen meines Gefährten davonmarschieren sah und nicht gern einsam zurückblieb. Auch musste es, indem ich aus der Heerstraße hinauslenkte, in den tiefsten Schnee hinein. Kurz: Alles war ganz natürlich; selbst der Umstand, dass mein Kamerad den spukhaften Gesang furchtbarer vernahm und vorübereilte, denn die Haut grauste ihn noch etwas mehr als mir. Er hatte den auch richtigen Grundsatz: Man müsse sich nicht vorwitzig in Gefahr begeben.

Für diesmal hatte ich indessen keine Ursache, meinen Vorwitz, wenn anderes meine mit Entschlossenheit verbundene Wissbegier diesen Namen verdient, zu bereuen, denn ich rettete einen Unglücklichen aus der verzweiflungsvollsten Lage.

Obwohl Czettritz sogleich zu mir zurückkehrte, als ich ihm meine Entdeckung zurief, so wollte es uns, da wir ohne Bedienten ritten, doch nicht gelingen, den starren Wanderer mit auf eins von unseren Pferden zu nehmen. Er war durch den Frost zu unbehilflich geworden, als dass er selbst sich eine Nachhilfe hatte geben können. Wir schleppten ihn an der Seite unserer Pferde teils befestigt, teils gehalten, sehr langsam mit uns fort, und das war für seine halb erstarrten Glieder auch unstreitig das Beste, denn er bekam so allmählich das wohltätige Feuer wieder, das ihm ausgegangen war.

In dem nächsten Dorf Faulbrück überlieferten wir den sehr dankbaren Geretteten dem Wirt des sogenannten Straßenkretscham, gaben dem Hilfsbedürftigen einen Pflegepfennig, ritten zufrieden mit uns selbst unsere Straße weiter und kamen frühmorgens um drei Uhr glücklich zu Reichenbach an.

Als wir danach in Pützen unser bestandenes Abenteuer erzählten, veranlassten wir dadurch, dass Herr von Dresky, Gutsherr in Gräditz, dem auch der Kuhberg mit jener Ruine gehörte, diese abreißen ließ, und so den fabelhaften Volkserzählungen von dem jüdischen Tempel zugleich ein Ende machte.