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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 7. – 10. Bändchen – Kapitel XII

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Siebentes bis zehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XII. Das Unglück verleiht Gedächtnis

Anna war wütend in ihr Betzimmer zurückgekehrt.

»Wie!«, rief sie, ihre schönen Arme verdrehend, »wie! Das Volk hat Monsieur von Condé, den ersten Prinzen von Geblüt, durch meine Schwiegermutter, Maria von Medicis, verhaftet gesehen; es hat meine Schwiegermutter, ihre ehemalige Regentin, von dem Kardinal vertrieben gesehen; es hat Monsieur von Vendome, den Sohn von Heinrich IV., in Vincennes gefangen gesehen und nichts gesagt, als man diese hohen Personen beschimpfte, einkerkerte, bedrohte, und für einen Broussel ein solches Toben! Jesus, was ist aus dem Königtum geworden.«

Die Königin berührte hier, ohne daran zu denken, den wunden Fleck. Das Volk hatte für die Prinzen nichts getan; das Volk erhob sich für Broussel, weil es sich um einen Plebejer handelte, und Broussel verteidigend, fühlte es instinktartig, dass es sich selbst verteidigte.

Während dieser Zeit ging Mazarin in seinem Kabinett auf und ab und schaute wiederholt seinen zersprungenen venezianischen Spiegel an.

»Ach«, sagte er, »ich weiß wohl, es ist traurig, so nachgeben zu müssen; doch wir werden uns zu entschädigen wissen; was liegt an Broussel, das ist ein Name und keine Sache.«

Ein so gewandter Politiker Mazarin auch war, so täuschte er sich doch diesmal; Broussel war eine Sache und nicht ein Name.

Als Broussel am anderen Morgen nach Paris in einem großen Wagen, seinen Sohn Louvières neben sich, zurückkehrte, lief ihm alles Volk bewaffnet entgegen. Der Ruf Es lebe Broussel! Es lebe unser Vater! erscholl von allen Seiten und trug den Tod in die Ohren von Mazarin; von allen Seiten brachten die Spione des Kardinals und der Königin ärgerliche Nachrichten zurück, welche den Minister sehr bewegt und die Königin sehr ruhig fanden. Die Königin schien in ihrem Kopf einen großen Entschluss zur Reife zu bringen, was die Unruhe von Mazarin verdoppelte. Er kannte die stolze Person und fürchtete die Entschlüsse der Königin.

Der Koadjutor war in das Parlament zurückgekehrt, mehr König, als es der König, die Königin und der Kardinal miteinander waren. Auf seinen Rat forderte ein Edikt des Parlaments die Bürger auf, die Waffen abzulegen und die Barrikaden zu zerstören. Sie gehorchten, denn sie wussten nun, dass es nur einer Stunde bedurfte, um die Waffen wieder zu ergreifen, und einer Nacht, um die Barrikaden wieder herzustellen.

Mancher war in seine Bude zurückgekehrt, der Sieg amnestiert. Planchet befürchtete nicht mehr, gehängt zu werden. Er war überzeugt, wollte man nur Miene machen, ihn zu verhaften, so würde sich das Volk für ihn erheben, wie es sich für Broussel erhoben hatte.

Rochefort hatte seine Chevaurlegers dem Chevalier d’Humières zurückgegeben. Es fehlten zwei beim Appell, aber der Chevalier, der in seinem Inneren Frondeur war, wollte nichts von einer Entschädigung wissen.

Der Bettler hatte wieder seinen Platz im Vorhof von Saint-Eustache eingenommen, teilte abermals mit einer Hand sein Weihwasser aus und forderte mit der anderen das Almosen, und niemand ahnte, dass diese zwei Hände soeben aus dem sozialen Gebäude den Grundstein des Königtums gezogen hatten.

Louvières war stolz und zufrieden; er hatte sich an Mazarin gerächt, den er verabscheute, und viel zu der Befreiung seines Vaters aus dem Gefängnis beigetragen. Sein Name war mit Schrecken im Palais-Royal genannt worden, und er sprach lächelnd zu dem seiner Familie zurückgegebenen Rat: »Glaubt Ihr, mein Vater, wenn ich jetzt von der Königin eine Kompanie verlangte, sie würde mir eine geben?«

D’Artagnan benutzte den Augenblick der Ruhe, um Raoul fortzuschicken, den er während des Aufruhrs nur mit großer Mühe eingeschlossen gehalten hatte, denn er wollte durchaus für den einen oder den anderen das Schwert ziehen. Raoul machte anfangs einige Schwierigkeiten, aber d’Artagnan sprach im Namen des Grafen de la Fère. Raoul besuchte Frau von Chevreuse und ging zum Heer ab.

Rochefort allein fand das Ende der Sache schlecht; er hatte dem Herzog von Beaufort geschrieben, er möge kommen; der Herzog sollte bald erscheinen und würde dann Paris ruhig finden.

Er suchte den Koadjutor auf und fragte ihn, ob er dem Prinzen Kunde geben solle, damit er auf dem Wege anhalte, aber Gondy dachte einen Augenblick nach und erwiderte: »Lasst ihn seinen Weg fortsetzen.«

»Die Sache ist also noch nicht beendet?«, sagte Rochefort.

»Mein lieber Graf, wir sind erst beim Anfang.«

»Was bringt Euch zu diesem Glauben?«

»Meine Kenntnis von dem Charakter der Königin. Sie wird nicht geschlagen bleiben wollen.«

»Sie bereitet also etwas vor?«

»Ich hoffe es.«

»Sprecht, was wisst Ihr?«

»Ich weiß, dass sie an den Monsieur Prinzen geschrieben hat, er möge in aller Eile von dem Heer zurückkommen.

»Ah! Ah!«, sagte Rochefort, »Ihr habt recht, man muss Monsieur von Beaufort kommen lassen.«

Am Abend des Tages, an welchem dieses Gespräch stattfand, verbreitete sich das Gerücht, der Monsieur Prinz sei angelangt.

Es war eine einfache und natürliche Neuigkeit und dennoch hatte sie einen ungeheuren Wiederhall: Man behauptete, es seien Indiskretionen von Frau von Longueville begangen worden, der der Monsieur Prinz, den man einer Zärtlichkeit für seine Schwester beschuldigte, welche die Grenzen brüderlicher Freundschaft überschritt, vertrauliche Mitteilungen gemacht hätte. Diese Mitteilungen enthüllten finstere Pläne vonseiten der Königin.

Am Abend der Ankunft des Monsieur Prinzen gingen höher gestellte Bürger, Schöppen, Quartierkapitäne zu ihren Bekannten und sagten: »Warum nehmen wir nicht den König und bringen ihn in das Stadthaus? Es ist Unrecht, dass wir ihn von unseren Feinden erziehen lassen, die ihm schlechte Ratschläge geben, während er, wenn er von dem Monsieur Koadjutor geleitet würde, nationale Grundsätze einsaugen und das Volk lieben müsste.«

In der Nacht herrschte eine dumpfe Bewegung; am anderen Morgen erschienen die grauen und schwarzen Mäntel, die Patrouillen bewaffneter Kaufleute und die Bettler-Banden wieder.

Die Königin hatte die Nacht allein mit dem Monsieur Prinzen in einer Unterredung zugebracht und war erst um fünf Uhr von ihm verlassen worden.

Um fünf Uhr begab sich die Königin in das Kabinett von Mazarin. Hatte sie sich nicht niedergelegt, so war dagegen der Kardinal bereits aufgestanden.

Er entwarf eine Antwort an Cromwell; sechs Tage waren von den zehn abgelaufen, die er von Mordaunt gefordert hatte.

»Bah«, sagte er, »ich habe ihn ein wenig warten lassen, aber Monsieur Cromwell weiß zu gut, was Revolutionen sind, um mich nicht zu entschuldigen.«

Er überlas wohlgefällig den ersten Paragrafen seines Schreibens, als man an die Tür klopfte, welche mit den Gemächern der Königin in Verbindung stand. Anna von Österreich konnte allein durch diese Tür kommen. Der Kardinal stand auf und öffnete.

Die Königin war im Negligé; aber das Negligé stand ihr gut, denn wie Diana von Poitiers und Ninon bewahrte Anna von Österreich das Vorrecht, stets schön zu bleiben; nur war sie an diesem Morgen schöner als gewöhnlich, denn ihre Augen hatten den vollen Glanz, den eine innere Freude dem Blick verleiht.

»Ja, Giulio«, sagte sie, ich bin stolz und glücklich, denn ich habe das Mittel gefunden, diese Hydra zu ersticken.«

»Ihr seid groß in der Politik, meine Königin«, sprach Mazarin. »Nennt mir das Mittel.«

Und er verbarg, was er schrieb, indem er den angefangenen Brief unter weißes Papier schob.

»Ihr wisst, sie wollen mir den König nehmen«, sagte die Königin.

»Ach ja, und mich hängen.«

»Sie werden den König nicht haben.«

»Und mich nicht hängen.«

»Hört! Ich will ihnen meinen Sohn und mich selbst und Euch mit mir entführen. Dieses Ereignis, das von heute bis morgen das Angesicht der Dinge verändern wird, soll in Erfüllung gehen, ohne dass es jemand außer Euch, mir und einer dritten Person erfährt.«

»Und wer ist diese dritte Person?«

»Der Monsieur Prinz.«

»Er ist also angekommen, wie man mir sagte?«

»Gestern Abend.«

»Und Ihr habt ihn gesehen?«

»Ich verlasse ihn so eben.«

»Er bietet seine Hand zu dem Unternehmen?«

»Der Rat kommt von ihm.«

»Und Paris?«

»Er hungert es aus und nötigt es, sich auf Gnade oder Ungnade zu ergeben.«

»Es fehlt dem Plan nicht an großartigem Charakter; nur sehe ich dabei ein Hindernis.«

»Welches?«

»Die Unmöglichkeit.«

»Ein leeres Wort, ein Wort ohne Sinn, nichts ist unmöglich.«

»Im Plan!«

»In der Ausführung. Haben wir Geld?«

»Ein wenig«, sagte Mazarin, zitternd aus Angst, Anna könnte aus seiner Börse schöpfen wollen.

»Haben wir Truppen?«

»Fünf- bis sechstausend Mann.«

»Haben wir Mut?«

»Viel.«

»Dann ist die Sache abgemacht. Versteht Ihr, Giulio? Paris, dieses verhasste Paris, erwacht eines Morgens ohne König und ohne Königin, eingeschlossen, belagert, ausgehungert, ohne eine andere Hilfsquelle als sein einfältiges Parlament und seinen mageren Koadjutor mit den krummen Beinen.

»Schön, schön!«, sagte Mazarin, »ich begreife die Wirkung, aber ich sehe nicht das Mittel, um dazu zu gelangen.«

»Ich werde es finden.«

»Ihr wisst, was der Krieg bedeutet, der heiße, erbitterte, unversöhnliche Bürgerkrieg?«

»Oh! Ja, der Bürgerkrieg«, sprach Anna von Österreich, »ja, ich will diese Stadt in Asche legen, ich will das Feuer im Blut löschen, ein furchtbares Beispiel soll das Verbrechen und die Strafe verewigen. Paris! Ich hasse es, ich verabscheue es!«

»Ganz schön, Anna, Ihr seid blutgierig; nehmt Euch in Acht, wir sind nicht in den Zeiten der Malatesta und der Castruccio Castracani. Ihr macht, dass man Euch enthaupten wird, meine schöne Königin, und das wäre schade!«

»Ihr lacht?«

»Ich lache nicht. Der Krieg mit einem ganzen Volk ist sehr gefährlich. Seht Euren Bruder Karl I. an. Es steht schlimm, sehr schlimm mit ihm.«

»Wir sind in Frankreich und ich bin Spanierin.«

»Desto schlimmer, per Bacco! Desto schlimmer! Wäret Ihr lieber eine Französin und ich ein Franzose, man würde uns beide weniger hassen.«

»Doch Ihr billigt mein Vorhaben?«

»Ja, wenn die Sache möglich ist.«

»Sie ist es, ich sage es Euch. Trefft Vorkehrungen zu Eurer Abreise.«

»Ich bin immer bereit zu reisen; nur, wie Ihr wisst, reise ich nie … und diesmal ebenso wenig als sonst.«

»Aber wenn ich reise, werdet Ihr auch reisen?«

»Ich werde es versuchen.«

»Ich sterbe vor Ungeduld über Eure Befürchtungen, Giulio; vor was habt Ihr denn Angst?«

»Vor vielen Dingen.«

»Vor welchen?«

Das spöttische Gesicht von Mazarin wurde düster, und er erwiderte: »Anna, Ihr seid eine Frau, und als Frau könnt Ihr nach Belieben die Männer beleidigen, da Ihr der Straflosigkeit sicher sein dürft. Ihr beschuldigt mich der Furcht. Ich habe weniger Furcht als Ihr, da ich nicht fliehe. Gegen wen schreit man? Gegen Euch oder gegen mich? Ich trotze dem Sturm, ich, den Ihr der Furcht beschuldigt, nicht aus Prahlerei, das ist nicht meine Art und Weise, aber ich halte Stand. Amt mich nach: nicht so viel Lärm, mehr Wirkung. Ihr schreit laut und erreicht kein Ziel. Ihr sprecht von Fliehen!« Mazarin zuckte die Achseln, nahm die Königin bei der Hand und führte sie an das Fenster.

»Nun« sagte die Königin, durch seine Hartnäckigkeit geblendet. »Nun? was seht Ihr von diesem Fenster aus? Es sind, wenn ich mich nicht täusche, Bürger mit Panzern und Helmen und mit guten Musketen bewaffnet, wie zur Zeit der Ligue; sie betrachten das Fenster, aus dem Ihr sie erschaut, so scharf, dass sie Euch sehen werden, wenn Ihr den Vorhang so hoch aufhebt. Kommt nun an das andere Fenster. Was seht Ihr? Leute aus dem Volk, mit Hellebarden bewaffnet, bewachen Eure Tore. An jeder Öffnung des Palastes, an die ich Euch führen werde, könnt Ihr ebenso viele sehen. Eure Türen sind bewacht, die Luftlöcher Eurer Keller sind bewacht, und ich sage Euch, was mir der gute La Ramée von Monsieur von Beaufort sagte, wenn Ihr nicht ein Vogel oder eine Maus seid, kommt Ihr nicht hinaus.«

»Er ist doch hinaus gekommen.«

»Gedenkt Ihr auf dieselbe Weise zu entfliehen?«

»Ich bin also eine Gefangene hier?«

»Bei Gott«, sprach Mazarin, »seit einer Stunde beweise ich Euch dies.«

Mazarin nahm ruhig seine angefangene Depesche bei der Stelle wieder auf, wo er sie abgebrochen hatte.

Zitternd vor Zorn, rot durch die Demütigung, verließ Anna das Kabinett und schlug die Tür mit der größten Heftigkeit hinter sich zu.

Mazarin wandte nicht einmal den Kopf um.

In ihre Gemächer zurückgekehrt, sank die Königin auf einen Stuhl und fing an zu weinen.

Aber plötzlich durch einen Gedanken berührt, erhob sie sich und rief: »Ich bin gerettet, oh ja, ja! Ich kenne einen Menschen, der mich aus Paris zu bringen vermag, einen Menschen, den ich nur zu lange vergessen habe.« Und träumerisch, obwohl mit einem Gefühl der Freude, fügte sie bei: »Ich Undankbare, ich habe zwanzig Jahre lang diesen Mann vergessen, aus dem ich einen Marschall von Frankreich hätte machen sollen. Meine Schwiegermutter hat Geld, Liebkosungen, Würden an Concini verschwendet, der sie zu Grunde richtete, der König hat Vitry für einen Mord zum Marschall von Frankreich gemacht und ich ließ diesen edlen d’Artagnan, der mich rettete, in der Vergessenheit, in der Armut.

Und sie lief an einen Tisch, nahm Feder und Papier und fing zu schreiben an.