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Kriminalakte 12 – Die toten Kinder von Atlanta

Die toten Kinder von Atlanta

Als am 28. Juli 1979 in einem Gestrüpp an der Niskey Lake Road in Atlanta von Passanten die Leichen zweier Jugendlicher entdeckt wurden, ahnte noch niemand, dass dies der Beginn einer unheimlichen Mordserie war, der in den nächsten Jahren über neunzig Kinder und Jugendliche, hauptsächlich afroamerikanischer Abstammung, zum Opfer fallen würden und die bis heute noch nicht aufgeklärt ist.

Bei den Toten handelte es sich um den vierzehnjährigen Edward Smith, der seit dem 21. Juli als vermisst galt, und um den seit dem 25. Juli vermissten Alfred Evans. Die Untersuchungen des Gerichtsmediziners ergaben, dass man Smith mit einer Pistole Kaliber 22 erschossen hatte und Evans stranguliert wurde. Beide Jugendlichen waren afroamerikanischer Abstammung.

Als nach einem Vierteljahr die Ermittlungen immer noch zu keinem Ergebnis geführt hatten, wandte man sich bei der Polizei wieder verstärkt dem Tagesgeschäft zu. Atlanta war zu dieser Zeit ein heißes Pflaster und fast jeden Tag kam es dort zu irgendwelchen brutalen Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder schwerem Raub. Außerdem hatte die Öffentlichkeit und in diesem Fall die mehrheitlich weiße Bevölkerung, die im Gemeinderat, bei der Stadtverwaltung und der Polizei das Sagen hatte, auch schon längst das Interesse an dem Fall verloren. Es gab inzwischen Wichtigeres. Jedenfalls bis Anfang November 1979, dann nämlich wurde mitten in Atlanta in der Nähe der Kreuzung der Redwine Road und des Desert Drive die Leiche des vierzehnjährigen Milton Harvey entdeckt, der seit dem 4. September 1979, als er nachmittags mit seinem Fahrrad in der Nachbarschaft unterwegs war, als vermisst galt. Kurz darauf, am 8. November, wurde in einem verlassenen Schulgebäude die Leiche des erdrosselten Yusuf Bell gefunden. Das neun Jahre alte Kind war seit dem 21. Oktober verschwunden. Beide, sowohl Harvey als auch Bell waren Afroamerikaner.

Danach hörte das Morden auf, aber nur für vier Monate, dann verschwanden wieder Kinder, wurden wieder Leichen entdeckt. Diesmal in immer kürzeren Abständen und wieder endete das Töten im November.

 

*

 

Atlanta 1980

Eine Chronologie des Schreckens

Am 4. März 1980 verschwand die zwölfjährige Afroamerikanerin Angel Lenair auf dem Weg zur Schule. Am 10. März wurde sie am Rand einer Straße erwürgt aufgefunden. Ihre Leiche war vollständig bekleidet und ihre Hände auf dem Rücken mit einem Kabel an einen Baum gefesselt.

Darüber, ob sie sexuell missbraucht wurde, gab es von Seiten der Behörden und der Presse unterschiedliche Angaben.

Der 11. März war der Tag, an dem der elfjährige Jeffrey Mathis auf dem Weg zum Einkaufen verschwand. Seine sterblichen Überreste wurden erst im Februar 1981 entdeckt. Die Todesursache konnte aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung nicht mehr festgestellt werden.

Am 18. Mai erhielt der vierzehnjährige Eric Middlebrooks einen Telefonanruf von einem Unbekannten, worauf er sein Zuhause verließ. Einen Tag später fand man seine Leiche, man hatte ihm mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel eingeschlagen.

Am 9. Juni verschwand der zwölf Jahre alte Christopher Richardson auf dem Weg ins Schwimmbad. Seine sterblichen Überreste wurden erst im Januar 1981 neben der Leiche von Earl Terell, einem späteren Opfer gefunden. Auch bei ihm konnte aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung keine Todesursache mehr angegeben werden.

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni, einen Tag vor ihrem Geburtstag, wurde die achtjährige LaTonya Wilson aus ihrem Kinderzimmer entführt. Als man ihre Leiche am 18. Oktober entdeckte, konnte man aufgrund des heißen Sommers auch hier keine genaue Todesursache mehr feststellen.

Am 23. Juni wurde der zehn Jahre alte Afroamerikaner Aaron Wyche als vermisst gemeldet. Einen Tag später fand ihn eine Suchmannschaft mit gebrochenem Genick unter einer Eisenbahnbrücke im DeKalb County. Sein Tod wurde von den Ermittlern zunächst als Unfall eingestuft. Eine Behauptung, die weder von Aarons Eltern, Bekannten, Verwandten noch von seinen Freunden akzeptiert wurde. Erst 1981, ein Jahr später, stellte eine Sonderkommission des FBI fest, das Aaron keinem Unfall zum Opfer gefallen war, sondern tatsächlich ein weiteres Teil der unheimlichen Serie der Kindermorde von Atlanta war.

Am 6. Juli verschwand der neun Jahre alte Anthony Carter beim Spielen in der Nachbarschaft. Einen Tag später fand man seine Leiche hinter einem Warenlager in der Wells Street. Todesursache waren mehrere Stichverletzungen, wobei die Ermittler mangels Blutspuren am Fundort zu dem Ergebnis kamen, dass der Junge an einem anderen Ort getötet worden war.

Am 30. Juli wurde der zehnjährige Earl Terell als vermisst gemeldet. Seine Familie erhielt daraufhin über Wochen hinweg Anrufe eines Unbekannten, der Lösegeld forderte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass es sich dabei um einen sogenannten Trittbrettfahrer handelte. Earls skelettierte Leiche wurde am 9. Januar 1981 unmittelbar neben dem Fundort von Christopher Richardson gefunden, der seit dem 9. Juni 1980 als vermisst galt.

Am 20. August wurde Clifford Jones, ein zwölfjähriger, ebenfalls afroamerikanischer Junge, auf offener Straße entführt. Seine erdrosselte Leiche wurde im Oktober desselben Jahres gefunden.

Am 14. September verschwand der elfjährige Darren Glass, der zwei Tage später von seinen Eltern als vermisst gemeldet wurde. Seine Leiche wurde bis heute nicht gefunden.

Am 9. Oktober wurde der zwölfjährige Charles Stephens als vermisst gemeldet. Seine erstickte Leiche wurde bereits am Tag danach gefunden.

Am 1. November wurde Aaron Jackson als vermisst gemeldet. Seine Leiche fand man ebenfalls schon am Tag danach. Der Neunjährige war ebenfalls erstickt worden.

Am 10. November verschwand der fünfzehnjährige Patrick Rogers. Seine Leiche wurde erst im Februar 1981 gefunden. Er war an tödlichen Schädelverletzungen gestorben, verursacht durch brutale Schläge auf den Kopf.

 

*

 

Die Ermittlungen der Polizei konnte man bis dato nur mit den Worten skandalös, dilettantisch und menschenverachtend beschreiben. Atlanta erfuhr Mitte der 70er Jahre einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem jedoch hauptsächlich nur die Minderheit der weißen Bevölkerung profitierte. Der große Rest, fünfzig Prozent waren afrikanischer Abstammung, neun Prozent Hispanics, drei Prozent Menschen mit asiatischem Hintergrund und weitere zwei Prozent galten als mindestens zwei dieser Gruppen zugehörig, ging wie so oft leer aus. Rassismus bis in die obersten Etagen der Stadtverwaltung war an der Tagesordnung.

Ein Weißer konnte niemals unerkannt im Viertel der Schwarzen solche Verbrechen begehen, also waren die Morde eine Sache, die die Schwarzen am besten unter ihresgleichen regelten, war eine Meinung, die nicht nur auf mehreren Polizeirevieren vorherrschte. Bezeichnend dazu ist der Umstand, dass man im Atlanta Police Department, das fast nur aus Weißen bestand, erst am 7. Juli 1980, nachdem man die Leiche von Anthony Carter entdeckt hatte, eine Sonderkommission einrichtete, die sich mit der Untersuchung der Mord- und Vermisstenfälle der afroamerikanischen Kinder beschäftigte. Ende Juli dann, nach dem Verschwinden von LaTonya Wilson, wurde das FBI eingeschaltet. John Douglas, einer der berühmtesten Profiler der Behörde, kam zusammen mit anderen Fallanalytikern zu dem Schluss, dass nicht alle bisherigen Opfer der Mordserie von demselben Täter getötet wurden. Die unterschiedlichen Tötungsweisen sprachen dafür, dass es sich um mehrere Täter handelte, zudem gab es auch Hinweise, dass der Täter aus der Familie des jeweiligen Opfers stammte.

Trotz aller Hinweise der Ermittler und der Gerichtsmedizin bestätigte die Polizei erst im Oktober 1980 eine Verbindung der Fälle. Da nämlich hatten die Fallanalytiker des FBI ganz klar dargelegt, dass die meisten Taten von ein und demselben Serienmörder verübt wurden, und lieferten auch gleichzeitig ein umfangreiches Profil des Täters nach.

Demnach handelte es sich dabei um eine alleinstehende, männliche Person im Alter zwischen 25 und 29 Jahren. Mit höchster Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei um einen Afroamerikaner, da sich der Serienmörder fast ausschließlich Opfer aus der eigenen ethischen Gruppe suchte und ein Weißer in den Gegenden, in denen die Kinder verschwanden, aufgefallen wäre. Es war zu erwarten, dass sich der Täter heimlich mit Hinweisen in die polizeilichen Ermittlungen einbrachte und er im Besitz eines polizeiähnlichen Fahrzeugs und Hundes, Dobermann oder deutscher Schäferhund, sei. Alternativ sei es auch möglich, dass die Person ein Musiker oder Künstler ist, was erklären würde, warum alle Opfer ohne Gegenwehr in die Gewalt des Täters gefallen waren. Er wirkte auf seine Opfer wie eine Autoritätsperson. Ferner wurde ihm eine sexuelle Vorliebe für Jungen attestiert, sowie ein sexueller Minderwertigkeitskomplex.

Jetzt endlich begannen die Behörden damit, Handzettel zu verteilen. Polizeibeamte besuchten Schulen, überprüften sämtliche aktenkundige Sexualstraftäter und ermittelten in den Schwulenbars der Stadt.

Das FBI ermittelte unterdessen auch in Richtung Ku-Klux-Klan. Ein beim Klan eingeschleuster Informant berichtete der Behörde, dass sich jemand vom Klan damit brüstete, die Morde verübt zu haben, um einen Rassenkrieg auszulösen, der diese elende schwarze Brut endgültig aus der Stadt fegen würde. Doch auch hier setzten sich die Vorurteile und die Oberflächlichkeit der meisten weißen Beamten durch. Klan-Mitglieder konnten sich unmöglich in den Vierteln der Afroamerikaner aufhalten, ohne aufzufallen, und außerdem wären Serienmorde hauptsächlich persönlich und nie politisch motiviert. Danach wurden die Ermittlungen gegen den Klan wieder eingestellt, zumal auch das Morden geendet hatte.

 

*

 

Aber die Ruhe war trügerisch.

Der Kindermörder schlug bereits am 3. Januar 1981 wieder zu.

An diesem Tag wurde der vierzehnjährige Lubie Geter entführt, dessen strangulierte Leiche dann gut einen Monat später am 5. Februar 1981 aufgefunden wurde. Und auch diesmal gab es eine Spur, die zum Klan führte. Geter hatte Tage vor seiner Entführung das Auto eines Klans-Mitgliedes gerammt und dieser soll einem Freund gegenüber gesagt haben, dass er den Jungen dafür erwürgen würde. Doch die weiteren Ermittlungen verliefen seltsamerweise schnell im Sand und wurden mit der Bemerkung, dass man dem Mann die Tat nicht einwandfrei nachweisen konnte, wieder eingestellt.

Am 22. Januar wurde Terry Pue als vermisst gemeldet. Auch dieser fünfzehnjährige Afroamerikaner wurde am nächsten Tag erdrosselt aufgefunden.

Mitte Februar wurden nahe dem Fundort von Jeffrey Mathis, der seit März 1980 verschwunden war, auch die Leiche des zwölfjährigen Patrik Blazer gefunden, der seit dem 6. Februar 1981 als vermisst galt. Der 13-jährige Curtis Walker wurde noch am Tag seines Verschwindens, den 19. Februar 1981, erwürgt aufgefunden. Am 2. März wurde der 16jährige Joseph Bell erstickt, am 13. März 1981 verschwand der dreizehnjährige Timothy Hill, um kurz darauf ertränkt aufgefunden zu werden, und am 30. März 1981 wurde die Leiche von Larry Rogers entdeckt. Mit seinen zwanzig Jahren war er das erste erwachsene Opfer, das die Ermittler dem Serienmörder zuordneten.

Doch er blieb nicht der Einzige, fünf weitere Erwachsene sollten folgen.

Am 31. März wurde der 21 Jahre alte Eddie Duncan ermordet gefunden. Seine Leiche war so zugerichtet, dass sich eine genaue Todesursache nicht mehr feststellen ließ.

Am 1. April wurde die erstickte Leiche des dreiundzwanzigjährigen Michael McIntosh gefunden, am 21. April Jimmy Payne vermisst. Seine ebenfalls erstickte Leiche wurde am 27. April gefunden. Am 12. Mai wurde der einen Tag vorher als vermisst gemeldete William Barrett gefunden, er wurde ebenfalls erstickt. Am 24. Mai wurde die Leiche des 27-jährigen Nathaniel Cater aus dem Chattahoochee River gezogen. Er gilt bis heute als das letzte Opfer dieser beispiellosen Mordserie.

Allerdings nur aus Sicht der Behörden und anderer offiziellen Stellen, denen es angeblich inzwischen gelungen war, den Serienmörder zu stellen.

Da einige der Opfer aus den Flüssen der Umgebung geborgen wurden, observierte die Polizei vor allem nachts die Straßen und Brücken an diesen Gewässern. Am frühen Morgen des 22. Mai 1981 vermeldete einer der Beamten, in der Nähe einer Brücke am Chattahoochee River ein Platschen gehört zu haben. Die Polizei und das FBI hielten daraufhin den Fahrer eines Wagens an, der gerade über die Brücke gefahren war. Bei diesem Fahrer handelte es sich um den damals 23-jährigen Afroamerikaner Wayne Bertram Williams, den die Beamten danach über zwei Stunden verhörten und nach einer Durchsuchung seines Wagens schließlich wieder gehen ließen.

Nachdem Nathaniel Carter am 24. Mai an dieser Stelle aus dem Wasser gezogen wurde, verstärkte die Polizei ihre Ermittlungen auf Williams. Gutachter kamen zu der Auffassung, dass Fasern, die an einigen der Opfer gefunden worden waren, mit jenen eines Teppichs übereinstimmten, der in dem Haus lag, in dem Williams mit seinen Eltern lebte. Weitere Fasern, die unter anderem an den Leichen von Earl Terrell und Charles Stephens sichergestellt werden konnten, stimmten mit den Fasern der Innenverkleidung der Kofferräume von Ford und Chevrolet-Modellen überein, wie sie auch die Familie Williams besaß.

Wayne B. Williams wurde daraufhin am 21. Juni 1981 festgenommen und am 27. Februar 1982 des Mordes an Jimmy Payne und Nathaniel Carter angeklagt. Williams wurde von einem Geschworenengericht für schuldig befunden und zweimal zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl er in allen übrigen Mordfällen nie angeklagt und verurteilt wurde, betrachtete die Strafverfolgungsbehörde mit seiner Verurteilung alle Fälle als gelöst und stellte die Ermittlungen ein. Ein Vorgang, der auch heute noch nur schwer zu glauben ist.

Offiziell endete die Mordserie nach der Verurteilung von Williams.

 

*

 

Wayne B. Williams sitzt bis heute nach wie vor im Gefängnis, obwohl er seine Unschuld fast täglich beteuert. Seine Anträge auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens wurden bisher allesamt abgewiesen. Doch inzwischen wurde eine Initiative zur Wiederaufnahme seines Falls gegründet. Verwandte, Bekannte, ehemalige Ermittler, Prominente, ja sogar Angehörige der Mordopfer begannen Fragen zu stellen. Unbequeme Fragen, auf die sie jahrelang nur vage Erklärungen erhielten. Der in Georgia bekannte Schriftsteller Dave Dettinger zum Beispiel monierte, dass es außer den 30 offiziellen Toten noch 63 andere, gleichgelagerte Mordfälle gab, die ignoriert wurden, und dass die Mordserie keineswegs mit der Verhaftung von Williams endete. 25 davon fanden nach seiner Verurteilung statt. Die Familie von Williams konnte belegen, dass die Faserspuren aus dem Kofferraum der besagten Autos nicht ihren Fahrzeugen entsprungen sind, sondern Fahrzeugen anderer Personen. Als Beweise legten sie Belege vor, wonach die DNA von Earl Terrell nicht von ihrem Ford stammen konnte, weil dieser Wagen seit seinem Verschwinden in einer Werkstatt stand. Der Chevrolet mit Charles Stephens DNA wurde erst 12 Tage nach dessen Verschwinden gekauft, also musste der Besitzer jemand anderes sein.

Angehörige der Opfer konnten klar darlegen, dass die Strafverfolgungsbehörden mehrere Hinweise missachtet hatten, die auf einen Weißen als Täter hindeuteten, und auch der Tatsache nicht nachgegangen waren, das Charles T. Sanders, ein stadtbekanntes Mitglied des Klans, der sich mit dem Tod der afroamerikanischen Kinder gebrüstet hatte, einen polizeiähnlichen Chevrolet besaß, einen Dobermann und auch in den Vierteln der Afroamerikaner verkehrte.

Die zusammengetragenen Indizien waren schließlich so schwerwiegend, dass auf Anordnung von

Keisha Lance Bottom, der Bürgermeisterin von Atlanta, im März 2019 die Kriminalakte der Kindermorde von Atlanta wieder geöffnet und neue Ermittlungen aufgenommen wurden.

Quellenhinweise:

(gsch)