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Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 10

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Die Horna-Fee Teil 5

Die beiden Wagen, der unsrige voran, schienen ein Wettrennen abzuhalten. Harst schlug unbarmherzig auf die vier frischen Rentiere ein, die man für unsere drei abgetriebenen eingespannt hatte. Schlimp auf seinem Pony, in der Linken eine Laterne, bildete den Vortrab.

Ohne Aufenthalt ging es an Preegraves Besitzung vorüber. Der Himmel war sternenklar. Am nördlichen Horizont strahlte der Widerschein eines schwachen Nordlichts. Es war daher auch leidlich hell ringsum. Hatten sich die Augen erst an diese Art Halbdunkel gewöhnt, vermochte man sich recht gut zurechtzufinden. Das bewies auch Harst jetzt. Mit unfehlbarer Sicherheit erreichte er genau dieselbe Stelle der Landzunge, wo deren östlichen Uferberge sich zu dem breiten Tunnel öffneten.

Wir hielten, sprangen ab. Den Zugtieren wurden die Vorderbeine kurz gefesselt, damit sie sich nicht weit entfernen konnten. Fünf große Laternen warfen ihr rötliches Licht auf die rissigen, ungleichmäßigen Wände des Tunnels; vier Männer und ein schlanker Junge hasteten hinter dem Führer drein, immer tiefer in die Felsmassen abwärts, herum um Winkel und Bögen, oft tief geduckt infolge der niedrigen Wölbung, oft stolpernd über Geröll.

Eine Viertelstunde so: Dann wehte uns kühlere Luft entgegen; dann blinkten über uns die Sterne wieder.

»Laternen aus!«, hatte Harst befohlen, bevor noch der Tunnel in diesen Felsenkessel mündete.

Harst kroch auf allen vieren. Ich war dicht hinter ihm. Er drehte sich um.

»Schraut, weitersagen: Jedes Geräusch muss vermieden werden!«

So wand sich die menschliche Schlange von sechs dunklen Gestalten durch die Felsblöcke hindurch. Dann ein Halt. Harst winkte. Wir blieben liegen. Nach wenigen Minuten war er wieder bei uns.

»Weiter!«, flüsterte er. »Sie sind noch nicht da, leider! Sollte ich mich verrechnet haben?«

Bei mir hatte sich längst wieder jene nervöse Erregung eingestellt, die mit Kulissenfieber so viel Ähnlichkeit hat. Auch Landsmann Schlimp, der Dritte in der Schlange, atmete kurz und keuchend.

Nach wenigen Metern abermals halt. Vor mir reckte sich die nördliche Wand des Kessels hoch, die jedoch unten eine flach gewölbte Öffnung hatte. Harst tauchte darin unter, reichte mir nun die Hand.

»Aufstehen – Kette bilden – leise mir nach!«, befahl er.

So kamen wir in dieser völligen Finsternis irgendwohin, blieben stehen, vernahmen Haralds Stimme.

»Waffen bereithalten! Sie kommen!«

Wir sahen nichts – hörten nichts!

Dann leise Geräusche: Schritte, ein helles Kreischen – wieder Stille – eine lautere Stimme nun, englische Worte.

»Lächerlich! Wozu die Umstände! Wenn es schon sein muss: Wirf den Korb hinab!«

»Damit alles unten zu Atomen zerschellt, nicht wahr!«, erklang die Antwort.

Darauf ein energisches, helleres Organ, seine Frau, Edith Preegrave: »Es fehlt nur noch, dass ihr euch zankt! Ich denke, wir haben allen Grund, fester als je zusammenzuhalten.«

»Sehr richtig, Edith. Aber Ihr Bruder will den armen Teufeln ja nicht mal die kurze Gnadenfrist gönnen, ehe der Wahnsinn des Hungers sie packt.«

Da – ein Flüstern bei uns von Ohr zu Ohr; wieder die Kette; nach rechtsherum aus der kleinen Seitengrotte hinaus, hinein in einen riesigen Felsendom.

Vor uns blendend weißer Laternenschein, drei Gestalten unweit des Randes eines offenbar senkrecht in die Tiefe führenden Schachtes, drei: Preegrave, der Spanier Guatala und Edith Preegrave.

Sie standen halb mit dem Rücken zu uns hin. Neben ihnen lag eine Stahltrosse, die zu einem nahen, vereinzelten Felsblock hinführte. Ein großer Henkelkorb war mehr im Hintergrund neben einer Holzkiste zu unterscheiden.

Harst winkte mir, flüsterte Schlimp etwas zu.

Dann – dann geschah das Entsetzliche.

Harst rief die drei an. Das Gewölbe der Höhle verstärkte seine Stimme noch.

»Keine Bewegung … oder wir schießen!«

Kaum war die letzte Silbe verklungen, kaum hatten sich die drei blitzschnell zu uns umgewendet, kaum hatte die große, stattliche Frau sich als Erste gefasst, setzte sie zum Sprung nach rückwärts an, da verfing sich ihr Fuß in der Trosse. Sie stolperte, griff einen Halt suchend nach dem Spanier, bekam dessen Joppe zu packen, taumelte über den Rand des Loches hinweg, verschwand mit gellendem Schrei, riss beide Männer mit sich – beide, denn auch Guatala hatte sich in jäher Angst an den Arm Preegraves geklammert.

Preegrave stand nur noch mit einem Fuß auf festem Boden, suchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen, warf sich nach vorwärts. Doch die Last der beiden Menschen an seinem linken Arm war zu groß.

Wahnwitzige Angstschreie.

Dann war die Stelle leer.

Sekunden nichts.

Nun – nun …

Aus der Tiefe des Schlundes hervor ein dumpfes Geräusch.

Der Pfarrer faltete die Hände. »Gott sei ihnen ein gnädiger Richter!«, sagte er mit zitternder Stimme.

Sven Björka hatte sich schwerfällig auf einen Steinschutthaufen sinken lassen.

Harst nickte ihm zu. »Es ist das Beste, gönnen wir unseren Nerven Zeit, wieder zur Ruhe zu kommen«, sagte er und folgte Björkas Beispiel. »Wir werden sie nachher noch brauchen, wenn wir das Grab der Lebendigen öffnen.«

Wir saßen dann im Halbkreis vor dem Felsenloch, dessen Öffnung eirund und zackig eine größte Breite von vier Meter hatte.

Und Harst begann: »Ich will die Gelegenheit benutzen und den Herren so einiges erklären, was mit diesem nächtlichen Ausflug zusammenhängt. Dem Herrn Pfarrer gegenüber habe ich bereits angedeutet, dass die zehn Leute, die der Fee von der Horna-Insel wegen scheinbar ihr Leben einbüßten, nicht tot sind, sondern – dort unten in der Tiefe für Thomas Preegrave das silberhaltige Gestein loshacken … als Sklaven, als willenlose, billige Arbeiter, als lebendige Tote, dazu verdammt, nie wieder das Licht der Sonne zu erblicken, nie wieder an die Oberwelt zu gelangen. Nein – nie mehr durfte Preegrave diese seine Sklaven freigeben, wenn er nicht die eigene Freiheit aufs Spiel setzen wollte! Das ist das Geheimnis der Horna-Fee: Ein Mittel war sie, kräftige Gesellen auf die Terrasse der Steilküste zu locken. Nichts Weiteres. Und dort oben dann haben Preegrave und der Spanier die Ärmsten wahrscheinlich durch Stahlschlingen zu Boden gerissen und in einen geheimen Eingang zu einem Tunnel gezerrt, der mit dieser Höhle in Verbindung stehen dürfte. Bis dorthin bin ich an diesem Nachmittag nicht vorgedrungen. Ich ließ mir keine Zeit dazu. Wie ich dahinterkam, dass die zehn Verschwundenen dort unten für immer eingesperrt waren? Ich will das kurz erläutern. Zunächst hielt ich die Horna-Fee für eine Wachspuppe. Hier in Barnjaröp schöpfte ich gegen Landsmann Schlimp Verdacht. Ich glaubte, er sei derjenige, der den Spuk ersonnen habe und die Wachspuppe besäße. Aber der Zweck des Spuks blieb mir völlig unklar. Inzwischen hörte ich von Preegraves Handel mit Petrefakten, Versteinerungen. Ich ahnte nicht, welche Folgen die Durchsuchung einer der Kisten am Bollwerk haben sollte. Gegen Preegraves schöpfte ich keinerlei Argwohn, was die Horna-Fee anbetraf bis – ja – bis Edith Preegrave, die nicht die Gattin, sondern seine Schwester ist, von ihrer nächtlichen Fahrt heimkehrte, vor uns floh und ich in dem Wagen ein Trinkwasserfässchen und einen großen Korb, beide leer fand, bis ich in dem Korb Brotkrumen, winzige Reste von gebratenem Schaffleisch und Schafkäse entdeckte und mich fragte: Wo kommt die Frau zu dieser Stunde mit diesen Dingen her? Weshalb Trinkwasser, weshalb ein so großer Korb, der Lebensmittel enthalten hat? Und weiter überlegte ich mir: Preegrave hat in Barnjaröp verbreitet, seine Frau sei leidend. Dass sie sich aber der allerbesten Gesundheit erfreute, sah ich selbst. Wozu also diese Lüge? Vielleicht zu dem Zweck, damit ja niemand auf den Gedanken käme, Edith Preegrave könnte die gefährliche Fee sein. Schließlich dachte ich auch an die Silberbarren, daran, dass Preegrave und der Spanier niemals in so kurzen Zwischenräumen so viel reines Silber gewinnen könnten Sie mussten eben Leute haben, die die Erze losschlugen, während sie selbst den Schmelzofen bedienten. Leute, die ganz im Verborgenen lebten oder – und da kam mir die Erleuchtung – die als willenlose Werkzeuge zur Arbeit in der Silbermine gezwungen wurden, die man auf der Terrasse der Horna-Insel überwältigt hatte und deren Arme nun tätig waren, für Preegrave Reichtümer zu erwerben! Bald sah ich ein: Nur so konnte, so musste es sein! Edith hatte den Gefangenen Lebensmittel und Wasser gebracht; sie war die Horna-Fee; sie gab ihr durch Schminke verändertes Gesicht, ihren gut geformten Leib, ihren energischen Kopf, versehen mit blonder Perücke, um ihr dunkles Haar zu verbergen, dazu her, heißblütige Matrosen hinab in die Tiefen der Erde zu ziehen.«

Harst stand auf, schritt auf die Kiste neben dem aufgerollten Teil der Stahltrosse zu, brachte das Kistchen angeschleppt, öffnete es gewaltsam. Es war gefüllt mit Banknoten und Papieren.

»Noch etwas hat also die drei hierher geführt«, erklärte er nun. »Das Kistchen lag in demselben Versteck wie die Trosse. Es war die Sparbüchse der Verbrechen. Sie wollten sie holen, mitnehmen.«

Auch ich kann mich jetzt kurz fassen.

Eine Stunde später war auch der Letzte der Sklaven Thomas Preegraves aus der Silbermine oben in die Höhle geschafft.

Aschgraue, abgezehrte Gesichter; kraft- und saftlose Gestalten waren diese Unglücklichen nur mehr. Sie weinten wie die Kinder vor Freude, vor unnennbarem Glück über ihre Befreiung.

Der körperlich noch Frischeste der Befreiten war Jan Schmeling, des alten Gilpe Schwiegersohn. Er bestätigte, dass Harsts Vermutung zutraf: Es gab auf der Terrasse der Steilküste wirklich eine Art Geheimtür, die aus einem genau eingepassten Felsstück bestand. Ebenso hatten auch tatsächlich Drahtschlingen die kühnen Kletterer dann zu Boden geworfen und wehrlos gemacht, worauf die Verbrecher sie in den Schacht hinabließen, aus dem es kein Entrinnen gab.

Erst bei Tagesanbruch langte unser Zug in Barnjaröp an. Landsmann Schlimp war vorausgeeilt. Hunderte von Menschen kamen uns entgegen; die Glocke der Kirche läutete.

Auch der Besitzer des Motorbootes war unter der Menge, drängte sich an Harst heran, teilte mit, dass der Optimus im Hafen liege, dass es einen kurzen Kampf mit den beiden auf der Jacht befindlichen Kumpanen Preegraves gegeben hätte.

»Wir haben uns nicht lange besonnen, Herr Harst. Als die Schufte die Revolver zogen, knallte es schon bei uns. Sie sind beide tot.«

Harst fand in der Geldkiste der Verbrecher eine Art Tagebuch Preegraves, aus dem hervorging, dass der Engländer von Beruf Chemiker war und die Silbermine zufällig entdeckt hatte, als er in den Bergen nach Edelmetallen suchte.

Von diesem Tagebuch erfuhr ich erst, als der Optimus bereits auf der Rückreise nach Hamburg war. Nur wir beide, Harst und ich, waren auf der Jacht noch wach. Es war gegen Mitternacht. Harst steuerte, und ich stand nebenan auf dem kleinen Achterdeck. Da sagte er, dass er das Tagebuch heimlich an sich genommen hätte.

»Weshalb?«, fragte ich erstaunt.

Sein Kopf wandte sich nach rechts, nach Westen.

»Weil in diesen Aufzeichnungen erwähnt ist, dass Thomas Preegrave jemand kennt, der … unser Todfeind ist: Palperlon! Und weil darin weiter erwähnt ist, dass Preegrave seit anderthalb Jahren nichts mehr von Palperlon gesehen, nichts mehr von ihm gehört hat, weil schließlich dieser Bemerkung folgender Satz hinzugefügt ist: Ob er (also James Palperlon) wohl noch immer sein Steckenpferd reitet und jedes Jahr viermal nur deshalb Lissabon besucht, um festzustellen, ob der angeblich hundertfünfzigjähriger Seher Slami Zschumlar noch immer lebt.

Und ob hinter diesem Interesse nicht etwas ganz Besonderes steckt?

Du ahnst wohl schon, lieber Schraut, dass ich mir diesen Slami Zschumlar mal aus nächster Nähe ansehen möchte. Vielleicht fangen wir dabei unseren Palperlon!«

Hiermit will ich dieses Abenteuer Harald Harsts beschließen. Das Nächste will ich nennen:

Der ewige Jude