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Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 1. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

1. Kapitel

Sherlock Holmes’ Todfeind

Pünktlich um 8 Uhr vormittags erhielt Ian Payne seine Papiere und den Entlassungsschein, in dem ihm bescheinigt wurde, dass er sich während seiner sechsjährigen Zuchthausstrafe gut geführt habe. Ian Payne würdigte die Schriftstücke keines Blickes. Er steckte sie schweigend ein. Sein pockennarbiges Ge­sicht zeigte eine leise Röte, und seine grünlich phosphoreszierenden Augen leuchteten in einem seltsamen Feuer. Er sprach kein Wort.

Mit zusammengepressten Lippen stand er vor der Barriere, die quer durch das Büro lief. Stand da wie einer, der auf irgendetwas wartet, unschlüssig und herausfordernd zugleich.

»Sie sind frei, Ian Payne«, sagte Kinggrave, der Anstaltsleiter, und nickte dem entlassenen Sträfling zu. »Sie können gehen!«

Jan Payne hob den Kopf und starrte den Sprecher an. Es war ein böser Blick, mit dem er den obersten Beamten des Zuchthauses streifte. Dann nickte er nur, griff zur Mütze und wandte sich mit den wie­genden Schritten eines Seemanns dem Ausgang zu.

»Ein unheimlicher Mensch«, murmelte Kinggrave vor sich hin, »und der Kuckuck mag wissen, was für finstere Gedanken soeben sein Hirn bewegten!«

Er trat ans Fenster und kam gerade noch zurecht, Ian Payne über den Hof gehen zu sehen. Am eiser­nen Portal, durch das man in die Freiheit gelangte, blieb er stehen und schaute noch einmal zurück, als wolle er sich das düstere Bild einprägen, das die lang gestreckten Zellengebäude mit den vergitterten Fenstern boten. Dann wandte er sich endgültig zum Gehen und verschwand hinter der Tür.

Kinggrave trat vom Fenster fort und eilte zum Te­lefon, um sich mit Sherlock Holmes verbinden zu lassen. Wenige Augenblicke später erklang die sono­re Stimme des berühmten Detektivs am anderen En­de des Drahtes.

»Hallo, Mr. Holmes!«, sprach Kinggrave. »Hier ist Ihr alter Freund Jimmy. Mr. Holmes, ich rufe in unge­mein wichtiger Mission an. Es handelt sich um Ian Payne!«

»Um Ian Payne?«, fragte Holmes zurück. »Nanu, was ist mit dem alten Burschen los?«

»Er befindet sich wieder auf freiem Fuß, Mr. Holmes.«

»Teufel!« Des Weltdetektivs Stimme vibrierte. »Wie war das möglich? Schnell, erzählen Sie! Wann ist das passiert? Dalli. Kinggrave, so reden Sie doch!«

Kinggrave lächelte.

»Hier waltet ein Missverständnis«, rief er zurück. »Sie scheinen anzunehmen, Ian Payne sei getürmt, sei ausgebrochen …«

»Etwa nicht?«

»Aber nein! Er ist heute entlassen worden. Ganz ordnungsgemäß. Die sechs Jahre sind um.«

»Und diese Mitteilung nennen Sie eine wichtige Mission?«, erwiderte Sherlock brummig. »Sie wollen sich gewiss einen kleinen Scherz mit mir erlauben, was? Sie haben wohl ein bisschen Langeweile, wie?«

»Sie scheinen ganz vergessen zu haben, was die Entlassung Ian Paynes unter Umständen für Sie be­deuten kann!«, gab Kinggrave ein wenig gekränkt zurück. »Erinnern Sie sich nicht mehr des grässlichen Schwures, den Payne tat, als er verurteilt wurde?«

»Ich habe, offen gestanden, keinen Schimmer mehr. Was war das für ein Schwur? Machen Sie mir mal eine kleine Andeutung. Vielleicht komme ich dann darauf.«

»Payne war Heizer auf der MAURITIA. Und Sie verhafteten ich in dem Augenblick, als das Schiff nach Australien auslaufen wollte.«

»Stimmt. Der Bursche hatte verschiedene Strafta­ten begangen und wäre auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn ich nicht im letzten Moment zugegriffen hätte.«

»Ganz recht. Und darum hasst er Sie mit einem ge­radezu erschreckenden Fanatismus. Mr. Holmes. Als er das auf 6 Jahre Zuchthaus lautende Urteil ver­nahm, schwor er, Sie zu töten, wo er Ihnen auch be­gegnen würde!«

»Du liebe Zeit«, erwiderte Sherlock Holmes und schien dabei ein Gähnen zu unterrücken. »Und des­halb rufen Sie an? Was schert es mich, was der Kerl damals für Unsinn geschwatzt hat? Ich kenne das. Payne ist nicht der Erste, der mich ins Jenseits wünscht, und wird auch nicht der Letzte sein. Was solche Menschen in ihrer Wut reden, habe ich nie für Ernst genommen, und«, schloss er heiter, »ich hätte viel zu tun, wenn ich vor jedem Verbrecher, den ich ins Zuchthaus brachte, Angst haben sollte!«

»Sie verkennen Ian Payne!«, ereiferte sich Kinggrave. »Er ist kein gewöhnlicher Verbrecher. Ich traue ihm alles zu. Jede, aber auch jede Schlechtig­keit. Während der sechs Jahre hat er mit keinem Menschen im Zuchthaus gesprochen, aber in seiner Zelle haben wir dafür Zeichnungen gefunden. Und alle diese Bilder stellten dasselbe dar, einen Mann, der, ein Messer in der Brust, auf der Erde lag. Und neben diesem Mann stand immer Ihr Name, Mr. Holmes!«

»Puh«, machte der Detektiv am anderen Ende des Drahtes, »mich überläuft eine Gänsehaut.«

»Ich hielt mich jedenfalls für verpflichtet, Sie von der Entlassung dieses Menschen in Kenntnis zu set­zen. Damit habe ich getan, was ich tun konnte, um Sie vor einem heimtückischen Anschlag zu bewah­ren.«

»Das ist brav von Ihnen«, erwiderte der Weltde­tektiv, »und ich danke Ihnen für den Freundschafts­dienst. Dennoch bitte ich Sie allen Ernstes, sich kei­ne Sorgen um mich zu machen. Ian Payne ist frei. All right. Er wird guttun, meinen Weg nicht zu kreu­zen. Das dürfte für ihn entschieden vorteilhafter sein. Na, wir werden es ja erleben.«

Seit diesem Gespräch mochte etwa eine halbe Stunde verstrichen sein, als Jonny Buston, Sherlock Holmes junger Freund und rechte Hand, erregt das Zimmer des Meisters betrat.

»Ich weiß nicht«, rief er, »aber Gutes hat das be­stimmt nicht zu bedeuten. Fünfzehn Minuten beo­bachte ich ihn schon. Aber er geht nicht. Steht da und starrt zu unseren Fenstern herauf.«

»Hm«, machte Sherlock Holmes und legte den Fe­derhalter beiseite, »ich nehme an, mein Junge, du sprichst von einem Menschen, der vor unserem Haus steht, ja?«

»Natürlich, das sagte ich eben!«

»Nein«, erwiderte der Detektiv vergnügt, »das sag­test du nicht, aber ich kann es mir nach deinem wir­ren Fieberfantasien zusammenreimen.«

Er erhob sich und ging zum Fenster. Ohne die Sto­res zur Seite zu schieben, schaute er auf den jenseiti­gen Gehsteig.

Wahrhaftig, da stand ein stiernackiger Mensch, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze tief in die Stirn gezogen, und blickte unverwandt herauf.

»Hell and devils!«, stieß Sherlock Holmes bei die­sem Anblick hervor. »Das ist ein starkes Stück!« Auf den ersten Blick hatte er Ian Payne erkannt.

»Eine Frechheit ist es!«, ereiferte sich Jonny. »Be­nimmt sich so ein anständiger Mensch, fremden Menschen die Fensterscheiben einzustarren?«

Sherlock Holmes pfiff durch die Zähne. »Dem da unten bin ich kein fremder Mensch«, erwiderte er. »Er kennt mich recht gut. Und ich ihn auch. Es ist Ian Payne, dem ich zu 6 Jahren Zuchthaus verhalf und der nun wieder freigelassen wurde.«

»Und nun macht er Ihnen Fensterpromenaden?«

»So ist es. Er will mir nämlich das Lebenslicht ausblasen, weißt du? Hat geschworen, mich kaltlä­chelnd um die Ecke zu bringen! Nie, zum Kuckuck, hätte ich geglaubt, dass dieser Mensch es ernst meint. Und das scheint ja wohl, seiner hassverzerr­ten Miene nach zu urteilen, der Fall zu sein.«

»Ich werde hinuntergehen und ihn zum Tee bit­ten!«, sprach Jonny grimmig.

»Gar kein so übler Gedanke«, erwiderte Sherlock Holmes mit einem Lächeln. »Aber sieh an! Er geht schon wieder!«

Wirklich drehte sich Ian Payne in diesem Augen­blick um und schritt die Gasse entlang. Gleich darauf war er den Blicken der Beobachter entschwunden.

Sherlock Holmes trat vom Fenster fort und schritt nachdenklich auf und ab. Aber ehe er dazu kam, aus Ian Paynes seltsamer Visite Schlüsse auf vielleicht weiter eintretende Vorkommnisse zu ziehen, klingelte das Telefon.

Zu seinem Erstaunen meldete sich die Pan-Film- Company.

»Sie wünschen?«, fragte er.

»Wir erbitten dringend Ihren Besuch«, klang es zu­rück. »Unser Büro befindet sich in der George Street 24. Kommen sie schnell, Mr. Holmes. Ein furchtba­res Verbrechen ist geschehen. Ein Mord!«

Sherlock Holmes überlegte kurz.

»All right«, sagte er dann, »ich bin in einer Viertel­stunde dort.«

Wenige Minuten später verließ er mit Jonny Bus­ton das Haus in er Surry Street, nicht ahnend, was für aufregende Abenteuer ihm die nächsten Tage brin­gen sollten!

Fortsetzung folgt …