Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Blutrosen – 10 – Der Eingemauerte

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Zweiter Teil

Der Eingemauerte

Am reizenden Ufer der Loire, ganz nahe dem Städtchen Vendôme, liegt, rings umgeben von einem verwilderten Garten, ein dunkles altes Gebäude mit einigen kleinen Türmchen und durchlöchertem, schiefergrauem Dach. Die Stufen, die zum Eingang führen, sind hoch mit Gras bewachsen, das Holzwerk ist verwittert, die Schlösser der Türen sind verrostet, in allen Ecken der geschlossenen Fensterläden haben die Schwalben ihre Nester gebaut.

Tiefes Schweigen herrscht in dem verödeten Gebäude.

Der Garten, obwohl ganz wüst und verwildert, trägt doch noch Spuren der ehemaligen schönen zierlichen Anlagen; die Gänge sind zwar von Unkraut bedeckt, die Hecken wild ineinander gewachsen, doch sieht man, dass in früherer Zeit alles zu seiner Verschönerung getan worden war, dass Lauben, Springbrunnen, Blumenbeete den Garten zierten.

Von der Landstraße aus erblickt man das große Schlosstor, in welches die Kinder aus der Umgegend viele Löcher gebohrt haben, durch die man in den Schlosshof sehen kann. Er ist ebenso verwildert wie der Garten und mit hohem Gras bewachsen. Die Mauern haben große Risse, Efeu und Schlingkraut kriechen allenthalben daran hinauf. Der Strick der Glocke, die ehemals den Pförtner herbeirief, ist verfault, die Dachrinnen zerbrochen; doch ist es keine Zerstörung durch Menschenhände, die Zeit allein hat hier gewaltet, und in dem ganzen Bezirk des Schlosses ist es schauerlich still, öde und schweigsam wie im Grab.

Das wüste Schloss heißt la grande Bretêche, und es waltete über ihm ein Geheimnis, zu dem niemand den Schlüssel hatte. Seit länger als zehn Jahren waren die Tore des Schlosses nicht mehr eröffnet worden.

Mir erschien es während meines Aufenthaltes in Vendôme noch anziehender wie eine Ruine; an diese knüpfen sich historische Erinnerungen, Tatsachen. Doch dies verfallene Schloss war ein Geheimnis, das der Fantasie freien Spielraum zu ihren abenteuerlichsten Schöpfungen gab.

Am Anfang umkreiste ich auf meinen Spaziergängen nur den Garten, bald aber bahnte ich mir durch die Hecken seiner Einfassung einen Zugang zu demselben und brachte nun fast täglich einige Zeit in diesem herrenlosen Bezirk zu. Ich überließ mich in der schauerlichen Einsamkeit dieses verwilderten Ortes allen Entzückungen der Schwermut und empfand hier die Wonne der Wehmut so rein und tief, wie niemals früher.

Eines Abends saß ich in düsteren Gedanken versenkt in meinem Zimmer, als meine Wirtin zu mir eintrat und mir den Besuch des Herrn Notarius Regnault meldete.

Ein langer, magerer, schwarz gekleideter Mann mit einem spitzen Kopf und einem Gesicht, das ich mit einem Glas schmutzigen Wassers vergleichen möchte, trat ein.

Er legte seinen Hut auf den Tisch, nahm, ohne meine Einladung abzuwarten, einen Stuhl und sagte, sich die Hände reibend: »Ich bin Regnault, Notarius hier in Vendôme.«

»Und was steht zu Ihren Diensten, Herr Notarius?«, fragte ich.

Der Notarius räusperte sich und sprach dann mit großer Wichtigtuerei: »Erlauben Sie, mein Herr, ich haben Erfahrung gebracht, dass Sie häufig in dem Garten von la grande Bretêche spazieren gehen.«

»Ja, mein Herr, das tue ich.«

»Eben deswegen komme ich nun als Testamentsvollstrecker im Namen der verstorbenen Frau Gräfin de Maret«, fuhr der Notar fort, »um Sie zu ersuchen, besagten Garten nicht wieder zu betreten. Sie sind ein Fremder und es ist begreiflich, dass Sie mit den Umständen unbekannt sind, die mich verpflichten, das schönste Schloss in unserer ganzen Gegend in Trümmer zerfallen zu lassen, aber Sie wissen doch, dass unsere Gesetze es unter Androhung schwerer Strafe verbieten, in einen verschlossenen und geschlossenen Bezirk ohne Bewilligung des Besitzers einzusteigen, und dass eine Hecke vor dem Gesetz eben so viel bedeutet wie eine Mauer. Ich selbst habe nach Eröffnung des Testamentes keinen Fuß wieder in das Schloss gesetzt. Mein wertgeschätzter Herr, Sie können nicht glauben, wie viel dies Testament den Leuten zu reden gegeben hat.«

Ich erriet bald, dass die Vollstreckung dieses Testaments die wichtigste Begebenheit seines Lebens war; eine Begebenheit, auf die sich sein Ruf und sein Ansehen unter den Bewohnern des Städtchens gründete. Da ich nun doch all meinen Träumereien entsagen musste, so wollte ich auch gern etwas Näheres über das geheimnisvolle Schloss erfahren.

»Würde es unbescheiden sein, verehrtester Herr Notar«, versetzte ich höflich, »wenn ich Sie um Mitteilung der Gründe ersuchte, weiche die Gräfin de Maret zu diesem Testament veranlasst haben?«

Bei diesen Worten strahlten seine Züge von dem Vergnügen, welches ein Mann empfindet, wenn es ihm vergönnt ist, uns sein Steckenpferd vorreiten zu dürfen.

Er rückte seine Halsbinde in die Höhe, zog dann seine Tabakdose hervor, bot mir eine Priese, bediente sich selbst reichlich und begann dann: »Ich war früher der erste Schreiber im Büro des Notarius Chodeon in Paris. Da ich nicht reich genug bin, um mich in Paris niederzulassen, wo die Stellen im Jahre 1816 im Preis sehr gestiegen waren, ging ich hierher, wo ich reiche Verwandte hatte, und kaufte meinem Vorfahr seine Stelle ab.

Ungefähr ein Vierteljahr nach dem Antritt meines Amtes erhielt ich eines Abends spät eine Aufforderung von der Gräfin de Maret, zu ihr in das Schloss Maret zu kommen. Ihre Kammerjungfer, ein braves Mädchen, die jetzt hier im Ort wohnt, hielt in dem Wagen der Frau Gräfin vor meiner Tür, um mich abzuholen. Doch ich muss Ihnen noch sagen, dass der Graf, einige Monate vor meiner Ankunft in Vendôme in Paris gestorben war. Am Tage nach seiner Abreise hatte auch die Frau Gräfin la grande Bretêche kränklich verlassen und ist nie wieder gesund geworden, und das Schloss stand so verschlossen und verlassen da, wie es noch jetzt ist.

In den drei letzten Monaten hatten der Herr Graf und seine Gemahlin eine seltsame Lebensweise geführt. Ehemals ging es sehr gesellig im Schloss la grande Bretêche zu; in Maret aber nahm die Gräfin durchaus keine Besuche an, selbst nicht von ihren nächsten Verwandten und vertrautesten Freunden.

Niemand hat sie mehr irgendwo gesehen.

Wie es scheint, hatte die kranke Gräfin gleich am Anfang ihrer Krankheit jede Hoffnung zur Genesung aufgegeben, denn sie ist gestorben, ohne irgendeinem Arzt den Zutritt erlaubt zu haben. Sie können leicht denken, dass meine Neugierde außerordentlich rege wurde, als ich so unvermutet erfuhr, dass sie mich sprechen wolle.

Unterwegs legte ich der Kammerjungfer einige Fragen vor, die sie mir aber sehr ungenügend beantwortete; doch erfuhr ich von ihr, dass ihre Gebieterin im Laufe dieses Tages die letzte Ölung erhalten habe und schwerlich mehr den Morgen erleben werde.

Gegen elf Uhr kam ich in dem Schloss an. Ich stieg die große Treppe mit den breiten Stufen hinauf und musste nun eine lange Reihe hoher, düsterer, kalter Zimmer durchwandeln, ehe ich zu dem Schlafgemach der Gräfin kam. In dem hohen weiten Zimmer brannte nur eine düstere Lampe, neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch, auf dem ein großes Gebetbuch lag. Außer diesem waren in dem Zimmer nur noch zwei Stuhle und ein Schlafsessel für die Wärterin — weiter durchaus nichts — nicht einmal Feuer im Kamin.

Nach allem, was ich von der Gräfin gehört hatte, dachte ich, sie mir als eine sehr schöne, reizende Frau.

Erst als ich mich dem Bett näherte, gewahrte ich sie; der schwache Schimmer der Lampe fiel gerade auf ihr Kopfkissen; ihr Gesicht war so gelb wie Wachs, sie hatte ein Spitzenhäubchen auf, unter dem ihre reichen schwarz und weiß gemischten Haare hervorquollen, und saß aufrecht im Bett, was ihr aber sehr schwer zu werden schien. Ihre großen schwarzen Augen bewegten sich nicht in den tiefen Höhlen, in denen sie ganz versunken lagen, ihr Blick war schon gebrochen, ihre Stirn feucht und ihre Hände sahen wie die eines mit Haut straff überzogenen Gerippes aus. Man sah jede Ader, jeden Muskel.

Die Gräfin soll außerordentlich schön gewesen sein. In diesem Augenblick ergriff mich bei ihrem Anblick ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe. Diese Frau war von ihrem Weh innerlich so aufgezehrt, dass nur noch ein Schatten, ein Hauch, ein Gespenst von ihr übrig geblieben war, als sie starb. Ihre Lippen waren blass-violett und die Bewegung derselben kaum mehr sichtbar, als sie mit mir sprach.

Ob mich gleich in Paris mein Geschäft oft an das Sterbebett meiner Klienten geführt hatte, um ihren letzten Willen auszufegen, und ich daher an diese Art von Schauspielen gewöhnt war, muss ich doch gestehen, dass nie der Jammer einer Familie, nie ein Todeskampf solchen Eindruck gemacht hat, als diese einsame, stumme, in dem großen Schloss ganz vereinzelte Gestalt. Ich hörte nicht den leisesten Laut, ich sah nicht einmal mehr die Bewegung des Atemholens bei der Gräfin und blieb unbeweglich und wie erstarrt vor ihrem Lager stehen.

Endlich bewegten sich die großen Augen — sie versuchte die rechte Hand zu erheben, die aber wie tot auf das Bett zurückfiel — die Worte schwebten mit dem leisesten Hauch von ihren Lippen — ihre Stimme war schon keine Stimme mehr. ›Ich habe Sie mit großer Ungeduld erwartet.‹

Ihre Wangen röteten sich von der Anstrengung, die es sie kostete, diese Worte hervorzubringen.

›Gnädige Frau‹, begann ich.

Sie winkte mir, zu schweigen. Die alte Krankenwärterin stand auf und flüsterte mir zu: ›Reden Sie nicht, die Gräfin kann nicht das leiseste Geräusch vertragen.‹

Nach einigen Augenblicken schien die Gräfin alle Kräfte gesammelt zu haben, die sie noch besaß, und es gelang ihr, den rechten Arm bis zur Höhe ihres Kopfkissens zu erheben. Sie ruhte nun einige Minuten aus, ehe sie ein versiegeltes Papier unter demselben hervorzuziehen vermochte. Große Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn.

›Ich übergebe … Ihnen … hier … mein Testament.‹

Mehr sagte sie nicht. Sie fasste ein Kruzifix, das auf ihrem Bett lag, hob es schnell zu ihren Lippen empor und starb.

Mich schaudert noch, wenn ich an den Ausdruck ihres starren Blickes denke. Sie musste unendlich gelitten haben.

Das Testament nahm ich mit. Als es geöffnet wurde, fand ich, dass sie mich zum Vollzieher desselben ernannt hatte.

Mit Ausnahme einiger Legate, hatte sie ihr ganzes großes Vermögen milden Stiftungen vermacht; nur über la grande Bretêche hatte sie anders verfügt und mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass, von ihrem Todestag an, dies Schloss hundert Jahre lang durchaus so verschlossen bleibe, wie es in dem Augenblick ihres Sterbens sei, dass jedem, ohne Ausnahme, der Eintritt in dasselbe verweigert, nie die geringste Reparatur vorgenommen werde, ja, sie hat sogar ein Kapital dazu ausgesetzt, um, wenn es nötig sein sollte, einige Wächter zu mieten, die für die unbedingte Ausführung ihres letzten Willens sorgen sollten. Nach Ablauf dieser hundert Jahre soll das Schloss meinen Erben gehören, wenn die Verfügungen der Erblasserin streng erfüllt worden sind; sonst fällt es an ihre Familie zurück, aber sowohl für diese als auch für meine Erben mit der Verpflichtung, die ein versiegeltes Kodizill enthält, das erst nach Verlauf der hundert Jahre eröffnet werden soll.«

Beim Schluss seiner Erzählung sah mich der Notar mit einem triumphierenden Blick an.

»Sie haben«, sagte ich, »durch Ihre Erzählung einen solchen Eindruck auf mich gemacht, dass ich diese bleiche, sterbende Gestalt, mit den dunklen, gebrochenen Augen vor mir zu sehen glaube und gewiss diese Nacht von ihr träumen werde. Haben Sie aber eine Vermutung, wodurch die Gräfin zu diesem seltsamen Testament veranlasst worden ist?«

»Ich erlaube mir nie«, antwortete er mit einer komisch ernsten Zurückhaltung, »ein Urteil über Personen, die mich bei ihrem Ableben mit einem Legat beehrt haben.«

Daraus empfahl er sich.

Nachdem er mich verlassen hatte, rückte ich meinen Stuhl vor den Kamin, warf mich hinein und begann aus dem, was ich von ihm gehört, einen Schauerroman zusammen zu setzen, als meine Wirtin, eine große, wohlbeleibte, lustige, redselige Frau eintrat.

»Nun mein Herr«, sagte sie, »gewiss hat Ihnen Herr Regnault seine Geschichte von la grande Bretêche aufgetischt?«

»Erraten, Madame Debeau.«

»Was hat er Ihnen eigentlich davon erzählt?«

Ich wiederholte ihr in wenigen Worten, was er mir von der Gräfin und ihrem Testament erzählt hatte.

Madame Debeau sah mich während dieses Berichtes mit einem den Gastwirten eigenem Forscherblick an.

»Sie, liebe Madame Debeau«, sagte ich sehr freundlich zu ihr, »scheinen mehr von der Sache zu wissen.«

»Nein, so wahr ich eine ehrliche Frau bin.«

»Schwören Sie nicht; Ihre Augen sind aufrichtiger als Sie und verraten, was Sie leugnen wollen. Sie haben den Grafen Maret gekannt — geben Sie mir doch eine Beschreibung von ihm.«

»Ei, jawohl. Es war ein schöner, großer Herr, er sah sehr stolz, sehr vornehm aus und bezahlte alles, was er brauchte, immer gleich bar, um mit niemanden in Streit zu geraten, denn er war gewaltig hitzig. Bei unseren Damen galt er für einen sehr liebenswürdigen Mann, und das muss er auch wirklich gewesen sein, da ihn seine Gemahlin all ihren anderen Bewerbern vorgezogen hatte. Die Frau Gräfin, müssen Sie wissen, war weit und breit in der ganzen Gegend das schönste und reichste Fräulein. Von der Pracht ihrer Hochzeit erzählen die Leute noch oft – dabei war sie so freundlich und wohltätig wie ein Engel. Sie wurde in der ganzen Stadt angebetet.«

»War sie denn mit dem Grafen glücklich?«, fragte ich.

»Ei nun, so viel man davon erfahren hat, ja, aber Sie wissen ja, von solchen vornehmen Leuten erfährt unsereins nicht viel von dem, was sie unter vier Augen abmachen. Die Frau Gräfin war sehr sanft und hat vielleicht manches von der großen Heftigkeit des Grafen leiden müssen – aber er war übrigens ein sehr braver Herr, dem niemand etwas Böses nachsagen konnte. Er soll auch die Frau Gräfin sehr lieb gehabt haben.«

»Es muss aber doch etwas ganz Besonderes unter ihnen vorgefallen sein, welches sie veranlasste, sich zu trennen?«, meinte ich.

»Ich will Ihnen eine Vermutung mitteilen«, sagte Madame Debeau. »Hören Sie mich an. Als der Kaiser einige spanische Kriegsgefangene hierher sandte, erhielt ich einen jungen Spanier ins Quartier, dem ich für Rechnung der Regierung Kost und Wohnung geben sollte. Er blieb auf sein Ehrenwort hier zurück, da die anderen weitermarschieren mussten, und wurde nur verpflichtet, sich alle Tage bei dem Unterpräfekten zu melden. Es war ein spanischer Grande, ein gut gewachsener, schöner, junger Mann. Zu seinen schönen lockigen Haaren hatte er ein Paar so glänzende dunkle Feueraugen, wie ich nie schönere gesehen habe. Seine Gesichtsfarbe war blass, stand ihm aber gut, seine Hände waren rein und wunderhübsch. Er war so artig und freundlich, dass ich ihn, obwohl er des Tages über kaum drei Worte sprach, doch sehr lieb gewann. Bei dieser Schweigsamkeit war er wie in Träumen immer tief in sich selbst versunken. Alle Tage hörte er regelmäßig des Morgens die Messe. Sein Platz in der Kirche war an einem Pfeiler, kaum zwei Schritte von dem Kirchenstuhl der Gräfin entfernt. Da er ihn aber gleich das erste Mal, als er die Kirche besuchte, gewählt hatte, verfiel niemand darauf, dass dies absichtlich geschehen könne.

Alle Abende ging er spazieren; oft kam er erst spät zurück. Anfangs beunruhigte mich es, wenn er um Mitternacht noch nicht da war; aber wir gewöhnten uns daran, und da er einen Hausschlüssel hatte, warteten wir auch seine Rückkehr nicht erst mehr ab, um uns schlafen zu legen.

Eines Abends erzählte einer unserer Stallleute, dass er, als er noch in der Dämmerung die Pferde in die Schwemme geritten habe, den Spanier in der Ferne wie einen Fisch habe im Fluss umherschwimmen sehen. Bei seiner Rückkehr bat ich ihn, sich sorgsam vor den Untiefen in Acht zu nehmen. Er versprach es, aber es schien ihm sehr unangenehm zu sein, dass man ihn schwimmen gesehen hatte.

Endlich eines Morgens fanden wir ihn nicht im Zimmer. Er war in der Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich durchsuchte seine Stube und all seine Sachen aufs Genaueste und fand in seinem Schreibtisch ein Päckchen mit 50 Goldstücken, die man Portugaleser nennt, und die 5000 Franken wert waren, und dann noch in einer kleinen versiegelten Schachtel für 10.000 Franken Diamanten. Dabei lag ein Papier, auf dem er geschrieben hatte: Das Gold und diese Diamanten sollten unser sein, wenn er etwa einmal nicht wiederkehren würde. Man solle aber dann auch keine weiteren Nachforschungen anstellen, weil sein Ausbleiben beweisen würde, dass er entflohen sei.

Mein Mann, der damals noch lebte, ging gleich aus, ihn zu suchen und fand, was sehr sonderbar war, die Kleidung des Spaniers auf einem großen Stein in einer Art von Vertiefung am Ufer des Flusses, dem Garten von la grande Bretêche gegenüber.

Da es noch so früh am Tag war, dass mein Mann keinem Menschen auf seinem Weg begegnet war, verbrannten wir, nach Lesung des Briefes, die Kleider. Er ging dann hin, um dem Herrn Unterpräfekten das Ausbleiben des Spaniers anzuzeigen. Dieser schickte gleich alle Gendarmen fort, um ihm nachzusetzen, aber man hat keine Spur von ihm entdeckt.

Mein Mann war der Meinung, er sei vorsätzlich ins Wasser gesprungen; ich dagegen glaube, dass er auf irgendeine Art in die Geschichte der Frau Gräfin Maret mit verflochten ist, und dies glaube ich umso mehr, da Mamsell Rosalie, die vertraute Kammerjungfer der Verstorbenen, mir einmal erzählt hat, dass sie ihrer Gebieterin auf deren ausdrückliches Verlangen, ein schwarzes, mit Silber ausgelegtes Kruzifix habe mit in den Sarg legen müssen. Die Gräfin hat dies Kruzifix so wert gehalten, dass sie es im Leben stets bei sich gehabt hatte. Ein eben solches Kruzifix habe ich bei dem Spanier in der ersten Zeit seines Aufenthaltes bei uns oft gesehen, später aber erblickte ich es nicht mehr. Entscheiden Sie nun, mein Herr, ob ich Unrecht tat, die 15.000 Franken zu mir zu nehmen, und ob ich sie mit gutem Gewissen behalten kann?«

»Unbedenklich«, antwortete ich, »sie sind Ihnen ja geschenkt, und es kann also kein anderer Ansprüche darauf machen. Haben Sie aber nie versucht, Mamsell Rosalie über diese Begebenheit auszuforschen?«

»O, wie oft, aber sie ist so stumm wie ein Fisch, ob ich gleich überzeugt bin, dass sie alles weiß.«

Als mich Madame Debeau verlassen hatte, fühlte ich mich von einer romantischen Neugierde und zugleich von einem gewissen Bangen ergriffen. La grande Bretêche mit seinen verschlossenen Fensterladen, seinen verrosteten Eisengittern, seinen verwitterten Mauersteinen, öden Gemächern, seinem mit Gras bewachsenen Schlossplatz stand schauerlich fantastisch vor mir da. Mir war, als müsse ich in das Geheimnis, das es verbarg, eindringen und das Gift entdecken, welches drei Menschenleben zerstört hatte.

Rosalie war nun plötzlich in meinen Augen das interessanteste weibliche Wesen geworden und ich beschloss, gleich am nächsten Tag durch Vermittlung meiner Wirtin ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Es gelang mir und ich las bei dem ersten Blick in ihren Zügen, dass ein Geheimnis auf ihrer Seele lastete. War sie Mitwisserin oder Mitschuldige des geheimen Frevels, dem ich nachspürte? Doch ihr ganzes Wesen war so sorglos hingebend, so kindlich, dass ich an ihrer Unschuld nicht zu zweifeln vermochte und mich umso fester entschloss, Vendôme nicht eher zu verlassen, bis ich das Geheimnis von la grande Bretêche ergründet hatte.

Rosalie allein konnte mir den Schlüssel dazu geben, und es war nun mein angelegentliches Bestreben, mir ihr Vertrauen, ihre Zuneigung zu gewinnen.

Vierzehn Tage nach dem Besuch des Notars glaubte ich mir eines Abends, als ich allein bei ihr in ihrem kleinen Zimmer war, die Bitte erlauben zu können, mir alles mitzuteilen, was sie von der Geschichte der Gräfin Maret wisse.

Sie erblasste und bat mich innig, dies nicht von ihr zu fordern, aber ich bat so dringend, so herzlich, dass sie endlich meinen Wunsch erfüllte und mir vertraute, was ich in einem gedrängten Auszug aus ihrer Erzählung mitteilen werde.

Die Gräfin von Maret bewohnte in la grande Bretêche ein Zimmer im Erdgeschoss, neben dem in der Mauer ein kleines Kabinett von ungefähr vier Fuß Tiefe angebracht war, das zur Garderobe diente. Ein Vierteljahr ungefähr vor jenem Abend, dessen Begebenheiten hier erzählt werden sollen, war die Gräfin sehr krank gewesen, und ihr Gemahl hatte ein anderes Schlafzimmer, eine Treppe hoch, bezogen.

Durch einen jener Zufälle, die außer aller menschlichen Berechnung liegen, kam er an jenen Abend zwei Stunden später als gewöhnlich aus dem Klub nach Hause, den er alle Abende in Vendôme besuchte, um dort Billard zu spielen und die Journale zu lesen. Es war an diesem Abend, bei Gelegenheit eines Ministerwechsels, zwischen den Anwesenden zu einem lebhaften Wortwechsel gekommen, auch hatte der Graf 40 Franken im Billard verloren.

Ob sich gleich der Graf seit einiger Zeit damit begnügte, Rosalie bei seiner Rückkehr zu befragen, ob die gnädige Frau schon schlafe und auf die stets bejahende Antwort dann unmittelbar in sein Zimmer gegangen war, kam er doch an diesem Abend auf den Einfall, noch zu seiner Frau zu gehen, um ihr sein Missgeschick zu erzählen. Anstatt Rosalie zu rufen, die sich mit der Köchin und dem Gärtner zu einer Partie Domino niedergesetzt hatte, ging er geradewegs zum Zimmer seiner Frau.

Er trat, wie er gewohnt war, fest und rasch auf, und sein Gang war überhaupt nicht zu verkennen.

Schon hatte er die Hand auf die Türklinke gelegt, als er zu hören glaubte, dass man drinnen die Tür zu der Garderobe zumachte, und doch stand, als er nun eintrat, die Gräfin an dem entgegengesetzten Ende des Zimmers vor dem Kamin.

Er glaubte anfänglich, Rosalie sei in dem Kabinett.

Scharf sah er die Gemahlin an und glaubte in ihrem Blick etwas Unsicheres, Unstetes zu entdecken.

»Sie kommen sehr spät nach Hause«, sagte sie.  Ihre Stimme bebte, aber so unmerklich, dass es jedem anderen Ohr entgangen sein würde.

Der Graf antwortete nicht, denn in diesem Augenblick trat Rosalie in das Zimmer. Ihr Anblick traf ihn wie ein Blitzstrahl. Schweigend ging er mit ineinander geschlagenen Armen auf und ab.

»Haben Sie eine unangenehme Nachricht erhalten? Sind Sie nicht wohl?«, fragte seine Frau schüchtern, während Rosalie sie entkleidete.

Er beharrte in seinem Schweigen.

»Geh«, sagte die Gräfin zu ihrer Kammerjungfer, »ich will mir die Haare selbst aufwickeln.«

Ohne Zweifel las sie in den Mienen ihres Mannes etwas Unheildrohendes und wollte daher mit ihm allein sein.

Als Rosalie sich entfernt hatte oder vielmehr, als man sie entfernt glaubte, denn sie fand es ihrem eigenen Geständnis nach für gut, in der Nähe der Tür zu bleiben, trat der Graf gerade vor seine Frau hin und sagte ihr scheinbar kalt und ruhig, obwohl seine Lippen bebten und sein Gesicht totenbleich war: »In Ihrem Kabinett ist jemand?«

Sie sah den Graf ruhig an und antwortete: »Nein, mein Herr!«

Dieses Nein zerriss ihm das Herz, denn er glaubte ihr nicht, und doch war sie ihm nie reiner und frommer erschienen wie in diesem Augenblick.

Er wandte sich, um die Tür zur Garderobe zu öffnen, da ergriff sie seine Hand, um ihn aufzuhalten.

Mit tiefbewegter Stimme und einem unaussprechlich rührenden und schwermutsvollem Blick sagte sie: »Bedenken Sie wohl, dass auch dann jedes Band zwischen uns zerrissen ist, wenn Sie niemanden darin finden.«

Die Würde ihrer Haltung, ihr Blick und Ton erneuerten in seiner Brust die hohe Verehrung, die er von jeher für sie gefühlt hatte.

»Du hast recht, Josephine«, sagte er, »ich werde diese Tür nicht öffnen. Dieser Schritt würde uns sowohl in dem einen als in dem anderen Fall unausbleiblich trennen. Ich kenne die ganze Reinheit deiner Seele, du würdest selbst dein Leben nicht durch eine Untreue erkaufen wollen.«

Sie blickte ihn starr und wild an.

Noch einem augenblicklichen Schweigen fing er wieder an, indem er ein Kruzifix, das an der Wand hing, genauer betrachtete: »Sie besitzen da etwas sehr Schönes, das ich früher nie bei Ihnen gesehen habe.«

Es war von schwarzem Ebenholz, mit Silber ausgelegt und sehr kunstvoll gearbeitet.

»Ich habe es von Duvivier gekauft«, antwortete sie, »der es im vorigen Jahr, als der Zug spanischer Kriegsgefangenen durch Vendôme kam, von einem derselben erhielt.«

»So«, sagte der Graf.  Er hängte das Kruzifix wieder an den goldenen Nagel, an den seine Frau es aufzuhängen pflegte und klingelte Rosalie, die nicht lange auf sich warten ließ. Bei ihrem Eintritt zog er sie in eine Fenstervertiefung und gebot ihr leise, den Maurergesellen Gorenflot zu wecken, der wegen einer im Schloss vorzunehmenden Arbeit darin übernachtete, und ihm zu befehlen, dass er mit seinem Handwerksgerät sogleich zu ihm kommen solle.

»Sorge aber dafür«, setzte er hinzu, »dass niemand sonst im Schloss wach wird; sein Glück und auch das deinige ist gemacht, wenn ihr schweigt und gehorcht.

Rosalie ging.

»Louis!«, rief der Graf mit einer Donnerstimme den Gang hinab.

Louis, sein Diener und Vertrauter, kam und erhielt den Befehl, dafür zu sorgen, dass niemand im Schloss aufbleibe. Ein Wink gebot ihm näher zu treten: »Wenn alle eingeschlafen sind«, setzte sein Gebieter leiser hinzu, »aber nicht eher, verstehst du mich, dann komm hierher und bringe mir Nachricht davon.«

Herr von Maret, der in dieser ganzen Zeit seine Frau keinen Augenblick aus den Augen gelassen hatte, kam nun ruhig zurück und setzte sich neben ihr vor dem Kamin nieder. Er erzählte ihr die Begebenheiten des Abends, und als Rosalie zurückkam, fand sie den Grafen und seine Gemahlin ruhig miteinander sprechend.

Der Graf hatte kürzlich die Decken in den Zimmern des ersten Stockes mit Gips bekleiden lassen; er wusste, dass noch eine Tonne desselben vorrätig war, und dies hatte ihn wahrscheinlich auf den Gedanken gebracht, den er nun ausführen ließ.

»Gorenflot ist da, gnädiger Herr«, sagte Rosalie.

»Lass ihn hereinkommen.«

Die Gräfin erblasste, als sie den Maurer erblickte.

»Gorenflot«, sagte der Graf, »im Wagenschuppen liegen Steine, hol so viel davon, wie du brauchst, um die Tür zu diesem Kabinett zuzumauern.« Er zog den Maurer beiseite. »Diese Nacht bleibst du hier«, sagte er zu ihm, »morgen aber erhältst du einen Pass, um dich nach den Niederlanden zu begeben. 6000 Franken gebe ich dir mit, wenn du dich verpflichtest, zehn Jahre im Ausland zu bleiben. Du wirst von hier nach Paris gehen, und dort auf mich warten. Ich werde dir noch eine Verschreibung geben, der zufolge du nach Ablauf der festgesetzten zehn Jahre noch 6000 Franken erhalten sollst, wenn du die Bedingungen unseres Traktates treulich erfüllst und über dein in dieser Nacht vorzunehmendes Geschäft das tiefste Stillschweigen beobachtest. Was dich betrifft, Rosalie, so sollst du 10.000 Franken von mir erhalten, wenn du dich gleichfalls zum Schweigen über die Vorfälle dieser Nacht verpflichtest.«

»Rosalie!«, rief hier die Gräfin, »flechte mir die Haare ein und gib mir meine Schlafhaube.«

Der Graf ging ruhig im Zimmer auf und ab, kein Blick, keine Miene verriet ein für seine Frau beleidigendes Misstrauen, aber er ließ sie, Rosalie und den Maurer nicht aus den Augen.

Gorenflot konnte seine Arbeit nicht beginnen, ohne einiges Geräusch zu machen; die Gräfin benutzte einen Augenblick, wo der Maurer die herbeigetragenen Steine niedersetzte und der Graf am anderen Ende des Zimmers stand, um Rosalie zuzuflüstern: »Tausend Taler, wenn er einige Steine lose einsetzt.«

»Geh doch hin, Rosalie«, setzte sie laut mit furchtbarer Kälte hinzu, »und hilf ihm, dass er bald fertig wird.«

Der Graf und die Gräfin blieben stumm, solange Gorenflots Arbeit dauerte. Dies Schweigen war von dem Grafen darauf berechnet, seiner Gemahlin jede Gelegenheit zu entziehen, irgendein doppelsinniges Wort zu sprechen.

Als die Mauer, die vor der Tür aufgeführt wurde, zur Hälfte vollendet war, benutzte der Maurer einen Augenblick, in dem der Graf sich abgewandt hatte, um eine von den Glasscheiben der Tür einzustoßen. Da gewahrte er, auf eine Sekunde nur, hinter dem sich dadurch verschiebenden Vorhang ein bleiches Männergesicht mit dunkelglühendem Blick.

Die Gräfin hatte es gleich ihm bemerkt, sie winkte ihm mit den Augen zu: Hoffe! und es verschwand.

Gegen 4 Uhr morgens war der Maurer fertig. Louis erhielt von dem Grafen den Auftrag, ihn nicht aus den Augen zu lassen, und dann legte sich der Graf ruhig in dem Zimmer seiner Frau zu Bett.

Als er am anderen Morgen aufstand, sagte er mit sorgloser Miene: »Ich muss nun gleich wegen des Passes zum Maître gehen.

Seine Frau erbebte bei diesen Worten innerlich vor Freude. Er geht zu Duvivier, dachte sie.

Sobald er fort war, schellte sie nach Rosalie. »Um Gottes Willen!«, rief sie ihr in furchtbarer Angst zu, »schaffe mir ein Brecheisen — ich habe gestern Gorenflot genau zugesehen, wir werden Zeit haben, das Loch wieder zuzumachen, nur geschwind, geschwind!«

Und sie warf sich nieder und begann mit ihren zarten Händen den Gips abzukratzen. Rosalie brachte ihr das geforderte Werkzeug. Mit einer Heftigkeit, einer Anstrengung, von der niemand einen Begriff zu geben vermag, machte sie sich ans Werk.

Schon war es ihr gelungen, einige Steine loszubrechen, und eben bot sie alle ihre Kräfte zu noch gewaltigerer Anstrengung auf, da erblickte sie ihren Gemahl hinter sich, stumm, totenbleich, mit wild rollenden Augen.

Sie sank in Ohnmacht.

»Bringe die gnädige Frau zu Bett, ihr ist nicht wohl«, sagte er kalt zu Rosalie.

Seine vorgebliche Entfernung war nur ein Fallstrick für seine Frau gewesen, und er hatte sich begnügt, an den Maître zu schreiben und Duvivier zu sich bestellen zu lassen.

Dieser erschien nun, als die Unordnung im Zimmer wieder beseitigt war.

»Haben Sie nicht«, fragte ihn der Graf, »von den Spaniern, die hier im vorigen Jahr durchgingen, ein schwarzes Kruzifix gekauft?«

»Nein, Herr Graf.«

»Ich danke Ihnen und bitte um Entschuldigung, Sie bemüht zu haben.«

»Louis«, sagte er nach Entfernung des Juweliers zu seinem Vertrauten, »du wirst heute Mittag hier im Zimmer der Frau Gräfin den Tisch decken; sie ist nicht wohl, und ich werde sie vor ihrer völligen Herstellung nicht wieder verlassen.«

Vierzehn Tage lang blieb der Schreckliche Tag und Nacht im Zimmer seiner Gemahlin, und wenn man in den ersten sechs Tagen in dem vermauerten Kabinett ein Geräusch hörte und sie ihn um Barmherzigkeit anflehen wollte, ließ er sie nie zu Worte kommen.

»Sie haben mir erklärt, dass niemand darin sei«, war alles, was er ihr sagte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert