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Blutrosen – 6 – Der Mörder – Teil 1

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Erster Teil

Der Mörder
Eine Gefängnisszene

Es sind 7 oder 8 Jahre her, dass in Paris ein armer Tagelöhner, Claude Gueux, lebte. Er hatte eine Geliebte bei sich und von dieser ein Kind. Der Tagelöhner war geschickt; zwar schlecht behandelt von der Erziehung, desto besser aber von der Natur. Er konnte nicht lesen, aber denken. Im Winter fehlte ihm einst an Arbeit. In seinem Dachstübchen war weder Feuer noch Brot. Der Mann, das Mädchen und das Kind froren und hatten Hunger. Der Mann stahl Holz und ein Brot, wurde ertappt, und die Folge dieses Diebstahls für die Mutter und das Kind war auf drei Tage Brot und Feuer, und für den Mann fünf Jahre Gefängnisstrafe.

Der Mann wurde zur Abbüßung seiner Strafe in das Zuchthaus zu Clairvaux gebracht. Hier angelangt, sperrte man ihn bei Nacht in einen Kerker und bei Tag in eine Werkstätte. Claude Gueux, früher ein ehrlicher Tagelöhner, nun ein Dieb, war von ernstem, würdigem Äußeren. Er hatte eine hohe, und, wenn gleich noch jung, eine von Runzeln durchfurchte Stirn, ein sanftes tiefliegendes Auge und einen Zug der Verachtung auf der Lippe. Er sprach wenig mit Worten, häufiger mit Gebärden. In seinem ganzen Wesen lag etwas Gebieterisches, dem man gern Folge leistete.

In dem Zuchthaus, in welchem Claude eingesperrt war, befand sich ein Aufseher der Werkstätten, eine Art von Beamten, die allen Gefängnissen eigen ist, der dem Arbeiter das Werkzeug in die Hände gibt und ihm die Eisen an die Füße legt. Dieser war ein wahres Muster seiner Gattung: kurz angebunden, tyrannisch, sonst aber ein guter Vater und ohne Zweifel auch guter Gatte. Der Hauptzug seines Charakters war Eigensinn, und darauf bildete es sich viel ein. Wenn er einmal seinen Kopf auf etwas Unsinniges, das er seinen Willen nannte, gesetzt hatte, so musste dieses trotz aller Gegenreden ausgeführt werden.

Unmittelbar nach seiner Ankunft zu Clairvaux wurde Claude nummeriert und ihm sein Geschäft in der Werkstätte angewiesen. Der Aufseher erkannte einen tüchtigen Arbeiter in ihm und behandelte ihn gut. Eines Tages, als er guter Laune war und er Claudes Traurigkeit bemerkte, der unaufhörlich an diejenige dachte, welche er seine Frau nannte, erzählte er ihm sogar zum Scherz und Zeitvertreib, vielleicht auch um ihn zu trösten, die Unglückliche sei ein öffentliches Mädchen geworden.

Claude fragte kalt, was aus dem Kind geworden sei.

Man wusste es nicht.

Nach Verlauf einiger Monate hatte sich Claude an die Kerkerluft gewöhnt und schien an nichts weiter zu denken. Eine gewisse, seinem Charakter eigene ernste Heiterkeit hatte bei ihm die Oberhand gewonnen. Nach und nach hatte Claude ein sonderbares Übergewicht über alle seine Gefährten erhalten. Wie infolge einer stillen Übereinkunft, und ohne dass irgendeiner, ja er selbst nicht wusste, warum, fragten ihn alle diese Menschen um Rat, hörten auf seine Meinung, bewunderten ihn und ahmten ihm nach. Es war kein kleiner Ruhm, sich von allen diesen widerspenstigen Naturen gehorcht zu sehen. Diese Macht war ihm zuteilgeworden, ohne dass er daran dachte.

In weniger als drei Monaten war Claude die Seele und das Gesetz der Werkstätte geworden. Doch Kraft einer natürlichen Gegenwirkung wurde er, je mehr er von den Gefangenen geliebt war, desto mehr verabscheut von dem Kerkermeister. So war es von jeher. Die Popularität geht immer Hand in Hand mit der Ungnade.

Claude war ein starker Esser. Es war dies eine natürliche Folge seiner Organisation. Sein Magen war von solcher Beschaffenheit, dass die Nahrung zweier gewöhnlicher Menschen kaum täglich für sein Bedürfnis hinreichte. Er arbeitete, solange er frei war, den ganzen Tag und verdiente seine 4 Pfund Brot, die er bedurfte.

Als er im Gefängnis war, arbeitete er auch den ganzen Tag und erhielt unabänderlich für seine Mühe 1½ Pfund Brod und 4 Unzen Fleisch. Claude hatte daher im Zuchthaus von Clairvaux fortwährend Hunger.

Eines Tages hatte er eben seine magere Nation verschlungen und wieder zur Arbeit gegriffen, indem er den Hunger durch diese zu täuschen hoffte. Die anderen Gefangenen aßen noch fröhlich zusammen. Da trat ein junger Mensch von bleichem, schwachem Aussehen neben ihn. In der Hand hielt er seine Portion, die er noch nicht berührt hatte, und ein Messer. So blieb er dicht vor Claude stehen; es schien, als wolle er sprechen, und wage es nicht.

»Was willst du?«, fragte Claude.

»Dass du mir einen Gefallen tust«, erwiderte schüchtern der junge Mann.

»Was denn?«, fragte Claude.

»Du sollst mir essen helfen, mir ist die Portion zu groß.«

Eine Träne presste sich aus Claudes Auge hervor. Er nahm das Messer, teilte die Portion des jungen Mannes in zwei gleiche Teile, nahm den einen davon und verzehrte ihn.

»Ich danke dir«, sprach der junge Mann, »wenn du willst, teilen wir alle Tage.«

»Wie heißt du?«, fragte Claude.

»Albin«, war die Antwort.

Pünktlich teilten sie in der Folge alle Tage. Claude war 36 Jahr alt, Albin 20, bald schloss sich innige Freundschaft zwischen beiden. Sie arbeiteten in derselben Werkstätte, sie schliefen unter einem Riegel, sie gingen in demselben Hof spazieren und aßen dasselbe Brot. Jeder war dem anderen die Welt. Sie schienen zufrieden zu sein.

Wir haben bereits von dem Aufseher der Werkstätten gesprochen. Dieser Mensch, von den Gefangenen gehasst, sah sich häufig genötigt, um sich Gehorsam zu verschaffen, sich an Claude zu wenden, der von denselben geliebt wurde. Bei mehr als einer Gelegenheit, wenn es sich darum handelte, einen Aufruhr zu stillen, hatte Claudes titellose Autorität die offizielle des Aufsehers kräftig unterstützt. Denn wenn es sich darum handelte, die Ordnung unter den Gefangenen herzustellen, hatten zehn Worte Claudes so viel Gewicht wie zehn Gendarmen. Claude hatte mehr als einmal diesen Dienst dem Aufseher erwiesen, dafür hasste ihn dieser auch von ganzer Seele; er war eifersüchtig auf ihn.

Claude gewann Albin täglich lieber und dachte nicht an den Aufseher.

Eines Morgens, als die Gefangenen paarweise aus den Schlafsälen in die Werkstätten geführt wurden, wurde Albin, der neben Claude ging, von einem der Stockknechte zu dem Aufseher berufen.

Der Morgen verstrich. Albin kam nicht in die Werkstätte. Als die Zeit des Essens herannahte, hoffte Claude den Freund im Hof zu finden. Albin kam nicht in den Hof. Man kehrte in die Werkstätte zurück; Albin war nicht unter den Arbeitenden. So versprich der Tag.

Abends, als man die Gefangenen in den Saal zurückführte, suchte Claude den Freund mit den Augen, ohne ihn zu finden. Es schien in diesem Augenblick tief zu leiden, denn er richtete das Wort an einen der Stockknechte, was er sonst nie tat.

»Ist Albin krank?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte der Stockknecht.

»Wie kommt es denn, dass man ihn heute gar nicht sieht?«

»Weil man ihm ein anderes Quartier angewiesen hat«, antwortete jener gleichgültig. Zeugen, welche später über diese Tatsache abgehört wurden, bemerkten, dass auf diese Antwort Claudes Hand, welche ein Licht hielt, ein leichtes Zittern befiel.

Ruhig fragte er noch einmal: »Wer hat denn diesen Befehl gegeben?«

»Herr D…«, war die Antwort; so hieß der Aufseher der Werkstätten.

Der folgende Tag verstrich, wie der verflossene, ohne Albin. Abends, zur Zeit der Feierstunde, machte Herr D… seinen gewöhnlichen Gang durch die Werkstätten. Sobald ihn Claude von Weitem erblickte, nahm er seine grobe Mütze ab, knöpfte sein graues Wams zu, denn es ist Grundsatz in den Gefängnissen, dass ein ehrerbietig zugeknöpftes Wams die Vorgesetzten günstig stimmt. Mit der Mütze in der Hand stand er aufrecht am Eingang zu seiner Bank und wartete das Vorübergehen des Aufsehers ab. Er kam.

»Mein Herr!«, fing Claude an. Der Aufseher wendete sich halb und blieb stehen. »Ist es wahr, Herr Direktor, dass man Albin in eine andere Abteilung gebracht hat?«

»Ja«, war die Antwort.

»Herr, ich bedarf Albin, um zu leben, Sie wissen, ich habe nicht genug an der Portion der Anstalt, und Albin teilte sein Brot mit mir. Herr Direktor, sollte es kein Mittel geben, mich mit Albin in ein Quartier zu bringen?«

»Unmöglich. Das ist beschlossene Sache.«

»Von wem?«

»Von mir.«

»Herr Direktor, es ist für mich Tod oder Leben.«

»Ich gehe nie von meinen Beschlüssen ab.«

»Habe ich Ihnen etwas getan, Herr Direktor?«

»Nein.«

»Nun dann, warum trennen Sie mich von Albin?«

»Darum!« Mit dieser Erklärung schritt der Aufseher weiter.

Claude senkte das Haupt und erwiderte nichts. Ein armer Löwe im Käfig, dem man seinen Hund genommen hatte!

Der Kummer über diese Trennung mäßigte keineswegs den krankhaften Heißhunger des Gefangenen. Sonst schien nichts an ihm merklich verändert. Er sagte kein Wort von Albin zu seinen Kameraden.

Einsam durchschritt er in den Erholungsstunden den Platz und hungerte.

Die aber, welche ihn genauer kannten, bemerkten wohl etwas Finsteres und Düsteres, das sich mit jedem Tag mehr und mehr über sein Antlitz verbreitete. Doch war er sanfter als je.

Mehrere wollten ihre Ration mit ihm teilen. Er lehnte es lächelnd ab.

Jeden Abend nun, seit der Erklärung, die ihm der Direktor gegeben hatte, wenn dieser bei seiner gewöhnlichen Runde an der Werkbank Claudes vorüber ging, erhob Claude seine Augen, heftete seinen stechenden Blick starr auf ihn und richtete dann in einem Ton, der zugleich ängstlich und zürnend klang, der zugleich flehte und drohte, nur die beiden Worte an ihn: »Und Albin?«

Der Direktor stellte sich dann immer, als ob er ihn nicht höre, oder ging, die Achseln zuckend, vorüber.

Er tat nicht Recht daran, die Achseln zu zucken; von allen, welche diesen seltsamen Auftritt mit ansahen, war es nur alle klar, dass Claude Gueux in seinem Inneren zu etwas entschlossen war. Ängstlich erwarteten die Gefangenen das Resultat dieses Kampfes zwischen Starrsinn und festem Entschluss.

Im Mai, an einem Sonntag, als Claude, die Ellenbogen auf die Knie und die Stirn in die Hände gestützt, mehrere Stunden lang unbeweglich auf einem Stein im Hof saß, näherte sich ihm Faillette, einer seiner Mitgefangenen und rief ihm lachend zu: »Claude, was machst du denn da?«

Claude erhob langsam sein ernstes Antlitz und sprach: »Ich richte jemanden.«

Eines Abends endlich, am 25. Oktober 1831, als der Direktor seine Runde machte, zertrat Claude ein Uhrglas, welches er am Morgen in einem Korridor gefunden hatte.

Der Direktor fragte, woher das Geräusch käme.

»Es ist nichts«, sprach Claude, »ich war es. Herr Direktor, schenken Sie mir meinen Kameraden wieder.«

»Unmöglich«, war des Herrn Antwort.

»Und doch muss es geschehen«, fing Claude mit hohler und fester Stimme an und setzte, dem Direktor frei ins Auge blickend, hinzu: »Bedenken Sie es wohl. Heute ist der 25. Oktober. Ich gebe Ihnen Zeit bis zum 4. November.«

Ein Wärter machte Herrn D. darauf aufmerksam, dass Claude ihm drohe und dafür eingesperrt werden müsse

»Nein, nicht eingesperrt«, erwiderte der Direktor mit einem höhnischen Lächeln, »ich will das Volk da gut behandeln.«

Am Morgen darauf trat der Gefangene Perot zu Claude, der einsam und nachdenkend umherging, während die Übrigen am anderen Ende des Hofes sich in einem, von der Sonne beschienenen Winkelchen umhertrieben. »Nun, Claude! Woran denkst du? Du siehst so traurig aus.«

»Ich fürchte, dem guten Herrn D. stößt bald ein Unglück zu. Neun volle Tage sind es vom 25. Oktober bis zum 4. November.«

Claude ließ keinen einzigen vorübergehen, ohne den Direktor auf den immer schmerzlicheren Zustand, in den ihn das Verschwinden Albins versetzte, aufmerksam zu machen. Der Direktor, ärgerlich geworden, ließ ihn einmal vierundzwanzig Stunden einsperren, weil das ewige Bitten zu sehr einer Mahnung gleichkam. Das war alles, was Claude erhielt.

Der 4. November kam. An diesem Tag erschien Claude mit einem heiteren Gesicht, als man seit dem Tag an ihm gesehen, wo ihm die Entscheidung des Herrn D. von seinem Freund getrennt hatte. Als er aufgestanden war, wühlte er in einem Holzkasten herum, der unten an seinem Bett stand und seine wenigen Habseligkeiten enthielt. Er nahm daraus eine Schere.

Diese war das Einzige, was ihm von der Frau, das er geliebt hatte, von der Mutter seines Kindes, von seinem ehemaligen kleinen Haushalt geblieben war.

Als er durch einen Gang des alten Klosters hinging, trat er zu dem Gefangenen Ferrari, der die mächtigen Eisenstäbe eines Fensters aufmerksam betrachtete.

Claude hielt die kleine Schere in der Hand, zeigte sie Ferrari, indem er sagte: »Heute Abend durchschneide ich jene Stäbe mit dieser Schere da.«

Ferrari fing zu lachen an. Claude lachte auch.

Am Morgen dieses Tages arbeitete er emsiger als gewöhnlich. Niemals war es ihm so schnell und so gut von der Hand gegangen. Es schien ihm etwas daran zu liegen, noch am Morgen einen Strohhut fertig zu machen, den ihm ein achtbarer Bürger aus Troyes, schon im Voraus bezahlt hatte.

Kurz vor Mittag begab er sich unter einem Vorwand in die gleicher Ebene gelegene Tischlerwerkstätte. Claude war dort, wie überall, beliebt; nur selten aber kam er hin.

»Seht, da ist Claude!«, schallte es ihm entgegen. Alle traten freundlich auf ihn zu. Claude warf einen schnellen Blick im Saal umher. Kein Wärter war da.

»Wer will mir ein Beil leihen?«

»Was willst du damit?«, fragte man ihn.

Er erwiderte kurz: »Heute Abend den Direktor damit erschlagen.«

Sie zeigten ihm mehrere Beile. Er wählte das kleinste und zugleich schärfste, verbarg es in seinen Beinkleidern und ging fort. Es waren siebenundzwanzig Gefangene zugegen. Er hatte ihnen nicht anempfohlen zu schweigen; keiner verriet ihn. Sie sprachen nicht einmal von diesem Vorfall untereinander. Jeder erwartete, was da kommen sollte. Die Tat war schrecklich. Keiner aber wagte, Claude einen Rat zu geben oder ihn anzuzeigen.

Eine Stunde später trat Claude zu einem sechzehnjährigen Sträfling, der auf dem Gang gähnend herumschlenderte. Er riet ihm, lesen zu lernen. In diesem Augenblick kam der Gefangene Faillette auf ihn zu und fragte ihn, was er denn da in seinen Beinkleidern versteckt habe.

»Ein Beil ist es«, erwiderte Claude, »mit dem ich heute Abend den Herrn D. erschlagen will. Sieht man es?«

»Ein wenig«, sprach Faillette.

Der übrige Teil des Tages verstrich wie gewöhnlich.

Um sieben Uhr abends wurden die Gefangenen eingeschlossen, jede Station in die ihr angewiesene Werkstätte, und die Wärter verließen, wie es Gebrauch zu sein scheint, die Arbeitssäle, um erst nach der Runde des Direktors zurückzukehren.

Claude wurde also wie die Übrigen mit seinen Handwerksgenossen in seine Werkstätte eingeriegelt.

Und nun begab sich hier eine außerordentliche Szene.

Es waren, wie die gerichtliche Untersuchung, die später stattgefunden, erwiesen hat, mit Claude 82 Diebe anwesend.

Da, als die Wärter sie allein gelassen hatten, stellte sich Claude aufrecht auf die Bank und verkündete, dass er etwas zu sagen habe. Und alle schwiegen.

Und nun erhob Claude seine Stimme und sprach: »Ihr alle wisst, dass Albin mein Bruder war. Mit dem, was ich hier zu Essen bekomme, habe ich nicht genug. Wenn ich mir selbst für das wenige, was ich verdiene, nur Brot kaufte, so wäre es doch nicht hinreichend. Albin teilte seine Ration mit mir; ich liebte ihn anfangs, weil er mich ernährte, dann weil er mich liebte. Der Direktor Herr D. hat uns getrennt. Und doch hätte es ihm nichts getan, wenn wir beisammen geblieben wären. Er ist aber ein boshafter Mensch, der seine Freude daran hat, zu quälen.

Ich habe Albin so oft von ihm zurückverlangt. Habt ihr es denn nicht gehört? Aber er hat es nicht gewollt. Ich habe ihm Zeit bis zum 4. November gelassen, um mir Albin zurückzugeben. Er hat mich, weil ich das gesagt habe, einsperren lassen. Ich aber habe während dieser Zeit ihn gerichtet und habe ihn zum Tode verurteilt. Heute ist der 4. November. In zwei Stunden wird er seine Runde machen. Ich sage Euch im Voraus, dass ich ihn erschlage. Hat einer dabei etwas zu sagen?«

Alle schwiegen.

Und Claude begann wieder und sprach, wie es scheint, mit außerordentlicher, ihm  übrigens natürlichen Beredsamkeit. Er erklärte, er wisse wohl, dass er eine gewaltsame Handlung zu begehen im Begriff sei, er glaube aber nicht, unrecht zu haben. Er rief das Gefühl der 81 Diebe, die ihm zuhörten, als Zeugen dafür auf. Er sei bis zum Äußersten getrieben. Habe ihm jemand einen Einwurf zu machen, so sei er ihn zu hören bereit.

Eine Stimme nur wurde laut und die riet ihm, Claude möge, ehe er den Direktor erschlage, noch einen letzten Versuch machen und zu ihm reden, um dessen hartes Gemüt vielleicht noch zu erweichen.

»Das ist nicht mehr, wie recht«, sprach Claude. »Ich werde es tun.«

Es schlug Acht auf der großen Uhr. Der Direktor musste um neun Uhr kommen.

Sobald einmal dieser sonderbare Kassationshof das erlassene Urteil gewissermaßen genehmigt hatte, wurde Claude wieder so heiter wie zuvor. Alles, was er von Leinenzeug und Kleidungsstücken besaß, legte er auf einen Tisch, rief seine Genossen, die er nach Albin am meisten liebte, einen nach dem anderen zu sich und verteilte alles unter sie. Nichts behielt er als die kleine Schere.

Dann umarmte er sie alle. Einige weinten. Diesen lächelte er sanft zu. In dieser letzten Stunde gab es Augenblicke, wo er mit so großer Ruhe, selbst mit so vieler  Heiterkeit plauderte, dass mehrere seiner Kameraden, wie sie später aussagten, hofften, er werde seinen Entschluss vielleicht aufgeben.

Nachdem er alle seine Kleinigkeiten aufgeteilt, von allen Abschied genommen, allen die Hand gedrückt hatte, unterbrach er ein unruhiges Plaudern, welches sich hier und da in den finsteren Ecken der Werkstätte vernehmen ließ, und befahl, man solle zur Arbeit zurückkehren. Und alle gehorchten schweigend.

Die Werkstätte, in welcher sich dies ereignete, war ein länglicher Saal, ein langes Parallelogramm mit Fenstern auf den beiden großen Seiten und mit zwei sich einander gegenüber befindlichen Türen auf den kleineren. Die Werktische standen auf jeder Seite an den Fenstern, die Bänke stießen in einem rechten Winkel an die Mauer und der zwischen den beiden Tischreihen leer gebliebene Raum bildete einen langen Weg, der in gerader Linie durch den ganzen Saal hin von einer Tür zur anderen führte. Diesen engen Weg musste der Direktor, wenn er die Runde machte, gehen. Durch die Tür im Süden trat er ein und verließ den Saal durch die im Norden, nachdem er links und rechts über die Arbeiter hingeblickt hatte. Gewöhnlich ging er rasch durch und ohne sich aufzuhalten.

Claude hatte sich wieder an seine Bank und an die Arbeit zurückbegeben.

Alle harrten gespannt. Der Augenblick nahte. Plötzlich ertönte ein Glockenschlag.

»Das ist Dreiviertel«, sprach Claude. Er erhob sich und schritt ernst durch einen Teil des Saales und lehnte sich nachlässig an die Ecke des ersten Werktisches, links, gerade neben der Eingangstür.

Neun schlug es. Die Tür ging auf und herein trat der Direktor.

In diesem Augenblick herrschte in der Werkstätte eine lautlose Stille.

Nur der Direktor war wie gewöhnlich.

Er trat mit seinem lachenden, selbstgefälligen und gefühllosen Gesicht ein, sah nicht Claude, der links an der Tür aufrecht stand, die rechte Hand in seine Beinkleider versteckt, und ging schnell an den ersten Tischen vorüber, den Kopf schüttelnd, leise vor sich hin brummend und herüber und hinüber schauend, ohne zu gewahren, dass alle Augen, die auf ihm ruhten, von einer einzigen furchtbaren Idee erfüllt waren.

»Was machst du da?«, fing der Direktor an. »Warum bist du nicht an deinem Platz?«

Claude erwiderte ehrerbietig: »Weil ich etwas mit Ihnen zu reden habe, Herr Direktor.«

»Worüber?«

»Über Albin.«

»Wieder von dem«, rief der Direktor.

»Und immer von ihm!«, sprach Claude.

»Wie«, fuhr der Direktor fort, indem er weiterging, »hast du an den vierundzwanzig Stunden, die du eingesperrt warst, nicht genug gehabt?«

»Herr Direktor«, antwortete ihm folgend Claude, »schenken Sie mir meinen Kameraden wieder!«

»Unmöglich!«

»Herr Direktor«, hob Claude mit einer Stimme an, die einen Dämon erweicht hatte, »ich flehe Sie darum an, schenken Sie mir Albin wieder. Sie sollen sehen, wie ich dann arbeite! Sie sind frei, Ihnen ist es gleich. Sie wissen nicht, was ein Freund ist. Sie können gehen und kommen. Ich, ich habe nur Albin. Schenken Sie ihn mir wieder.  Albin ernährte mich, Sie wissen es. Es kostet Sie doch weiter nichts, als Ja zu sagen! Was tut es Ihnen denn, wenn im nämlichen Saal ein Mensch ist, der Claude heißt, und noch einer, der Albin heißt? Und weiter ist es doch nichts, Herr Direktor, ich beschwöre Sie im Namen Gottes!«

Claude hatte vielleicht noch nie zu einem seiner Kerkermeister so viel auf einmal gesprochen. Erschöpft schwieg er nach dieser Anstrengung.

Mit einer ungeduldigen Bewegung aber erwiderte der Direktor: »Unmöglich! Ich habe es schon einmal gesagt. Sprich nur nicht mehr davon. Du langweilst mich.«

Und rascher ging er vorwärts; Claude aber auch. Und als er noch so sprach, gelangten beide an die Ausgangstür. Die einundachtzig Diebe sahen und hörten mit eingehaltenem Atem.

Claude fasste leise den Direktor am Arm. »Lassen Sie mich aber«, sprach er, »wenigsten doch wissen, weshalb ich zum Tode verurteilt bin. Sagen Sie, weshalb haben Sie ihn von mir getrennt.«

»Ich habe es dir schon einmal gesagt«, antwortete der Direktor, »deshalb.« Er wandte Claude den Rücken und griff nach der Türklinke.

Bei dieser Antwort des Direktors aber war Claude einen Schritt zurückgetreten. Die einundachtzig Gefangenen, die da waren, sahen, wie seine rechte Hand das Beil hervorbrachte. Die Hand fuhr in die Höhe, und ehe der Direktor einen Schrei ausstoßen konnte, hatten drei fürchterliche Beilschläge, alle drei auf den nämlichen Fleck geführt, ihm die Hirnschale zerschmettert. Im Augenblick, wo er rücklings niederstürzte, zerfetzte ihm ein vierter Streich das Gesicht. Der war aber überflüssig,

– der Direktor war tot.

Nun schleuderte Claude das Beil weg und rief: »Jetzt an den anderen!« Der andere war er selbst. Er riss aus seiner Westentasche die kleine Schere seiner Frau hervor. Ohne dass jemand versucht hatte, ihn daran zu hindern, stieß er sie sich in die Brust. Die Klinge aber war kurz, die Brust hoch. Oft wiederholte er den Stoß.

»Verwünschtes Herz, kann ich dich denn nicht finden!«, rief er. Endlich, von Blut überströmt, sank er leblos nieder.

Als Claude wieder zu sich kam, lag er mit Leinen und Bandagen bedeckt, in einem Bett. An aufmerksamer Sorge fehlte es ihm nicht. An seinem Lager standen mehrere barmherzige Schwestern und auch ein Untersuchungsrichter, der ein Protokoll aufnahm und ihn mit vielem Anteil fragte: »Wie befinden Sie sich?«

Claude hatte viel Blut verloren; die Schere jedoch ihren Dienst schlecht verrichtet. Kein Stoß mit ihr war gefährlich gewesen.

Die Verhöre begannen. Er wurde gefragt, ob er es sei, der den Werkstätten-Direktor des Gefängnisses von Clairvaux getötet habe. Er antwortete: »Ja.«

Er wurde gefragt, »Warum?«

Er antwortete: »Deshalb.«

Einmal aber verschlimmerten sich seine Wunden. Ein heftiges Fieber ergriff ihn und drohte ihm den Tod.

November, Dezember, Januar und Februar gingen unter aufmerksamer Sorge und unter Vorbereitungen vorüber.

Ärzte und Richter drängten sich um Claude; die einen heilten seine Wunden, die anderen bereiteten sein Schafott.

Doch machen wir es kurz! Am 16. März 1833 erschien er völlig wieder hergestellt, vor dem Assisenhof von Troyes. Die ganze Stadt war herbeigeströmt, Claude zeigte sich mit Anstand vor dem Hof. Er hatte sich den Bart sorgfältig abnehmen lassen. Er war in die düstere graue Kleidung der Gefangenen in Clairvaux gekleidet, sein Kopf entblößt.

Als endlich die Debatten beginnen sollten, zeigte sich ein auffallendes Hindernis. Keiner der Zeugen über die Ereignisse vom 4. November wollte gegen Claude aussagen. Der Präsident drohte ihnen mit der ihm in diesem Fall zustehenden Strafbefugnis. Es war vergeblich. Da befahl ihnen Claude, auszusagen. Und alle Zungen waren gelöst. Die Zeugen teilten mit, was sie gesehen hatten.

Claude hörte ihnen allen mit großer Aufmerksamkeit zu. Als einer von ihnen, aus Vergesslichkeit oder aus Anhänglichkeit an Claude, Umstände überging, die gegen den Angeklagten waren, ergänzte sie Claude.

Aus den einzelnen Zeugenaussagen entrollte sich nach und nach vor dem Gerichtshof die Reihe der Tatumstände, welche wir im Vorhergehenden entwickelt haben.

Bei einem Auftritt aber blieben die Augen der anwesenden Frauen nicht tränenleer. Der Hussier rief den Sträfling Albin auf. An diesen war die Reihe gekommen, auszusagen. Wankenden Schrittes trat er ein; er schluchzte heftig. Die Gendarmen konnten es nicht verhindern, dass er auf Claude zustürzte und in dessen Arme sank. Claude hielt ihn aufrecht und sprach lächelnd zum Prokurator des Königs: »Sehen Sie da einen Verbrecher, der sein Brot mit dem Hungernden teilte!«

Die Zeugen waren alle abgehört. Der Prokurator des Königs erhob sich und begann seine Rede.

Hierauf sprach Claudes Advokat. Das Plädieren für und das Plädieren dagegen machten abwechselnd alle die Evolutionen, wie sie bei einem sogenannten Kriminalprozess gebräuchlich sind.

Claude aber glaubte, dass noch nicht alles gesagt wäre.

Er sprach auf eine Weise, dass jedermann, welcher bei dieser Verhandlung zugegen war, mit Staunen erfüllt wurde. Dieser arme Arbeiter schien eher zu einem Redner, als zu einem Mörder geschaffen zu sein.

Aufrecht stand er da. Sein Blick war klar, offen und entschlossen. Er schilderte die Umstände, wie sie waren, ohne sie zu schärfen, noch zu mildern, und gestand alles ein. Zuweilen hatte er Augenblicke hoher Beredsamkeit, sodass die dichtgedrängte Menge in Bewegung geriet und einer dem anderen die Worte Claudes flüsternd wiederholte. Dadurch entstand ein Murmeln, währenddessen Claude, einen stolzen Blick über die Zuhörer hinwerfend, Atem schöpfte. In anderen Augenblicken wieder war die Rede dieses Mannes zart, rein, gewählt, wie die eines Schriftstellers; einmal nur überließ er sich einer Aufwallung von Zorn. Der Prokurator des Königs hatte bei der Diskussion die Behauptung aufgestellt, Claude habe den Werkstätten-Direktor, ohne vorausgegangene Tätlichkeiten und Gewalttätigkeiten vonseiten des Direktors, demnach ohne Aufreizung, ermordet.

»Wie«, rief Claude heftig aus, »ich wäre nicht gereizt werden. Doch ja, wahrhaftig, es ist recht, ich verstehe Sie. Ein Betrunkener gibt mir einen Faustschlag, ich töte ihn; ich bin gereizt worden, Sie verfahren gnädig mit mir und schicken mich auf die Galeeren. Aber ein Mann, der nicht betrunken, nein, der im vollen Besitz seines Verstandes ist, der presst vier Jahre lang mir das Herz zusammen, bringt mir an jedem Tag, in jeder Stunde, in jeder Minute vier Jahre lang an irgendeiner unerwarteten Stelle einen Nadelstich bei! Ich hatte eine Frau, für die ich gestohlen habe, er martert mich mit dieser Frau! Wie ein Kind, für das ich gestohlen habe, er martert mich mit diesem Kind! Ich habe nicht Brot genug, ein Freund gibt mir Brot, er nimmt mir Freund und Brot. Ich verlange meinen Freund zurück, er sperrt mich ein! Ich sage ihm, dass ich leide, er sagt mir, dass ich ihn langweile! Sprecht, was soll ich da tun?  Ich erschlage ihn. Es ist wahr, ich bin ein Ungeheuer, ich habe diesen Mann getötet, ich bin nicht gereizt worden, Ihr schlagt mir den Kopf ab. Tut es!«

Die Debatten waren geschlossen. Der Präsident erstattete sein unparteiisches und lichtvolles Resümee.

Aus diesem ging hervor: Ein wahres Ungeheuer, Claude Gueux, hatte damit angefangen, dass er mit einer Buhldirne in wilder Ehe lebte. Dann hatte er gestohlen, zuletzt gemordet. Und alles dies war freilich wahr.

Nach einer viertelstündigen Beratung und infolge des Ausspruches der zwölf Geschworenen wurde Claude zum Tode verurteilt.

Als Claude seinen Urteilsspruch vernommen hatte, sagte er nur: »Gut! Aber weshalb hat dieser Mensch gestohlen, weshalb hat dieser Mensch getötet? Auf diese zwei Fragen antworteten sie nicht.«

In das Gefängnis zurückgebracht, verschmähte er es, das Rechtsmittel der Kassation zu ergreifen, und gab in dieser Beziehung nur den dringenden Bitten einer der barmherzigen Schwestern nach, die ihn darum angegangen hatte. Während sein Urteil der höchsten Behörde vorlag, hatte er mehrere Male Gelegenheit, zu entweichen. Es wurde ihm durch das Luftloch ein Nagel, eine Feile und ein Stück von einer Säge zugeworfen.

Jedes dieser drei Dinge wäre für einen so intelligenten Menschen wie Claude hinreichend gewesen, sich seiner Ketten zu entledigen. Er stellte alles dem Kerkermeister zu.

Am 8. Junius 1833, 7 Monate nach dem Mord, erschien der Tag der Hinrichtung. Morgens um 7 Uhr trat der Gerichtsschreiber in Claudes Kerker und kündigte ihm an, dass sein Gesuch verworfen worden sei und er nur noch eine Stunde zu leben habe.

»Wohlan denn«, sagte Claude kalt, »ich habe diese Nacht gut geschlafen, ohne daran zu denken, dass ich die nächste Nacht noch besser schlafen würde.«

Es scheint, dass die Worte starker Menschen bei der Annäherung des Todes immer einen gewissen Ausdruck von Größe annehmen.

Sofort kam zuerst der Priester und nach diesem der Scharfrichter. Er war demütig gegen den Ersten, sanft gegen den Letzten und behauptete gegen beide seine volle Geistesgegenwart. Während man ihm die Haare abschnitt, sprach jemand in der Ecke des Kerkers von der Cholera, welche damals Troyes bedrohte. »Ich für meinen Teil«, sagte Claude, »habe keine Angst vor der Cholera.« Übrigens hörte er dem Geistlichen mit großer Aufmerksamkeit zu und bedauerte lebhaft, keinen Unterricht in der Religion erhalten zu haben.

Auf seine Bitte hatte man ihm die Schere zurückgegeben, mit welcher er sich verwundet hatte. Er bat den Kerkermeister, sie in seinem Namen seinem Freund Albin zu übergeben, dem er auch die Brotportion überschickte, die ihm an diesem letzten Tage gereicht wurde.

Um ¾ auf 8 Uhr verließ er das Gefängnis mit der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen düsteren Begleitung.

Er ging zu Fuß, sah blass aus und hielt das Auge auf das Kreuz des Geistlichen gerichtet, hinterlegte übrigens den Weg mit festen Schritten.

Man hatte diesen Tag zur Hinrichtung gewählt, weil es ein Markttag war, damit so viele Blicke wie möglich sich auf ihn richten sollten.

Mit ernstem Blick auf das Kruzifix bestieg er das Blutgerüste und nahm sowohl von dem Geistlichen als auch von dem Nachrichter Abschied. Als man ihn an die Guillotine festband, fing es an, acht Uhr zu schlagen. Der achte Schlag hatte noch nicht ausgetönt, als sein Kopf gefallen war.

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