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Neue Gespenster – 1. Erzählung

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil
Erste Erzählung

Der Geist eines schlesischen Grafen kehrt aus dem Fegefeuer zurück[1]

Um das Jahr 1715 ereignete sich auf einem der gräflich Sternbergischen Güter in Schlesien folgende höchstmerkwürdige Gespenstergeschichte:

Die gräflich Sternbergische Familie hatte den Zudringlichkeiten einiger benachbarten katholischen Prälaten nicht länger widerstehen können und war in den Schoß der sogenannten alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt, nachdem sie, durch eine lange Reihe von Jahren, dein Protestantismus ergeben gewesen war.

Nun starb der Familienvater und hinterließ eine betrübte Gattin und einen erwachsenen Sohn. Beide hatten den katholischen Glauben beschworen, ohne ihm indessen mit jener blinden Wut und jenem fanatischen Eifer anzuhängen, der sonst wohl Neubekehrten eigen zu sein oder gar zur Pflicht gemacht zu werden pflegt. Auch der eben verstorbene Herr Graf hatte als aufgeklärter Mann und edler Menschenfreund zu jenen denkenden Katholiken gehöret, die es wohl wissen, dass man bei einem rechtschaffenen, gottgefälligen Lebenswandel in allen Religionen und Religionsparteien glücklich leben und selig sterben könne.

Die Bauchpfaffen, welche neben den besseren und achtungswürdigen katholischen Geistlichen Zutritt zu diesem großen Haus hatten, nannten diese echt christliche Menschenfreundlichkeit im Urteil eine sträfliche Lauheit im Glauben und waren nie zufrieden damit gewesen, obwohl sie aus Weltklugheit und Eigennutz ihren Unwillen über eine so ketzerisch-tolerante Denkweise eben nicht laut an den Tag zu legen pflegten. Aber lauter als je waren sie in dieser Hinsicht, wo nun die Seele des Verstorbenen nach ihrem unzweideutigen Vorgeben im Fegefeuer desto unerträglicher dafür gemartert werde und büßen müsse.

Die reiche Witwe tat unter diesen Umständen das ihre. Sie übersandte den fürbittenden Herren in und außer den Klöstern eine sehr bedeutende Summe Geldes, damit sie nicht versäumen möchten, die leidende Seele möglichst bald aus der geistigen[2] Glut des Fegefeuers zu erretten und geläutert in die Wohnungen der Seligen hinüber zu senden.

Der Begräbnistag kam heran. Für die Herren mit der christkatholischen Weihe ein Haupttag des Betens und des Genusses. An ihm ist auch das Allerheiligste des Familienweinkellers den mancherlei Freunden des Hauses nicht verschlossen. Manche bestaubte Flasche, die seit halben und dreiviertel Jahrhunderten nicht berührt worden war, wurde entstaubt und als Flasche aufs Neue in Gebrauch gebracht. O, wie so manche laut gemurmelte Gebetsformel zugunsten der gräflichen Seele wurde hier bis an den sinkenden Tag von der zahlreich anwesenden Geistlichkeit an den Himmel adressiert!

Was ist natürlicher, als dass die Sprach- oder hier die Murmelorgane bei der langen Anstrengung einer öfteren Anfeuchtung bedurften; was natürlicher, als dass die ölige und feurige Flüssigkeit des schönsten Ungarweines am Ende viel brauchbarer als jede andere wässrige und geistlose Feuchtigkeit befunden wurde! Aber des immer lauteren Murmelns und des Stärkens zum Gebet war kein Ende. Die Nacht brach herein, wie in ihr der Dieb; und auch die Nacht wurde den Geschäften des zu kurzen Tages gewidmet.

Der Schar der Geistlichen wurde zum Nachtgebet ein eigenes geräumiges Zimmer angewiesen. Ihr alter Freund, der gräfliche Kellermeister, sorgte, aus zärtlicher Liebe für seinen seligen Herrn, ich glaube unaufgefordert dafür, dass ihnen über alles Beten die trockene Zunge nicht an den Gaumen kleben, die arme Fegefeuerseele aber desto geschwinder dem qualvollen Vorhof zum Himmel entspringen mochte.

Aber oft sind die Gefahren da am größten, wo man sie und ihre Nähe am wenigsten ahnt! Mitten unter dem Beten betörte jener Versucher sie, der dem brüllenden Löwen gleicht, und weg war jeder Gedanke an die Pflichten des nächtlichen Berufs! Anstatt zu beten, trieben sie – ihrem Wahn nach, unbeobachtet – ein sündhaftes Geschwätz des Mundes. Anstatt in Ruhe und Frieden das Getöse eines frommen Murmelns um sich her zu verbreiten, tobten sie wie Trunkenbolde und verscheuchten dadurch den erquickenden Schlummer vom tränenden Auge der trauernden Familie.

Die feierliche Stunde der Mitternacht ertönte auf dem Schlosshof. Da erschien plötzlich im Zimmer der Männer voll süßen Weines der Geist des verewigten Grafen von Sternberg; des nämlichen, dessen irdische Hülle man tags zuvor so feierlich in die Familiengruft beigesetzt hatte.

Hu, hu, hu! Ein Schaudern ohne Gleichen, ein Entsetzen, das auf der Stelle den Tod zur Folge hätte haben können, ergriff die Schar der halb Entseelten. Majestätisch feierlich stand des Geistes Hülle im Leichenschmuck unter ihnen, ohne dass auch nur einer von allen gesehen hatte, woher er gekommen war.

»Oremus!«, so tönte es schrecklich feierlich aus der hohlen Brust des Geistes. »Oremus!«, erscholl es noch einmal in dumpfen Tönen, sodass die vier Wände sie widerhallten.

Die dicken Bäuche bebten wie Espenlaub. Einige sanken ohnmächtig zu Boden, andere lagen unwillkürlich in betender Stellung auf den Knien. Keiner von allen wagte es, die feierliche Stille durch eine Anrede an den Geist zu unterbrechen oder auch nur mit Unbefangenheit und offenem Blick ihn anzuschauen.

Nur das laute Herzklopfen aller und einige kaum gewagte tiefe Seufzer unterbrachen das bange Schweigen, als endlich die Schreckenserscheinung mit einer herzdurchschneidenden, weinerlich-bebenden Stimme seine Aufforderung zum dritten und letzten Mal erschallen ließ und im nämlichen Augenblicke verschwand.

Man kann sich leicht vorstellen, dass eine solche Erinnerung an die Pflicht des Fürbittens, zur baldigen Errettung der abgeschiedenen gräflichen Seele aus dem qualvollen Zustand der Läuterung durch das Feuer ihren Zweck unmöglich verfehlen konnte. Inbrünstiger und ununterbrochener hat noch nie ein Klosterbruder für einen wohltätigen Freund gebetet.

Unter solchen Beschäftigungen, während welcher auch nicht einer von allen mehr den Korkenzieher zur Hand nahm, mochten wohl bereits zwei volle, lange Stunden verflossen sein, als der Geist unsichtbar zum zweiten Mal erschien.

»Laudatur Dominus!« Diese, ihrem Ursprung nach unbegreifliche Ermunterung zum Lobe Gottes vernahmen mit freudigem Entsetzen die Betenden. Forschenden Blickes sah man einander an. Ohne Worte schien einer den anderen zu fragen: »Woher diese Geistersprache?« Alle hörten, niemand sah den Geist, der unsichtbar mitten unter ihnen zu sein schien. Ihr Entsetzen minderte sich durch die Vorstellung, dass der Abgeschiedene, nun entbunden von den Ketten der Finsternis, zu seligen Wohnungen hinübergeschwebt sei, und sie nicht weiter beunruhigen werde.

Man gab ungesäumt der Aufforderung des scheidenden Geistes Gehör und floss über von Gebetsformeln, deren Bestandteile Lob und Dank – dem Befreier aus dem Fegefeuer dargebracht – waren.

Unter diesen Beschäftigungen brach endlich das Licht des neuen Tages an. Auch die trauernden Angehörigen des Verewigten waren nach Mitternacht entschlummert und hatten die Wohltaten der nächtlichen Ruhe genossen, welche jenes dreimalige Gebot des Geistes zur Folge gehabt hatte.

Unsere Geisterseher waren zu voll von den Wundern der Nacht, als dass sie nicht sogleich die verwitwete Frau Gräfin von Sternberg, ihren Herrn Sohn, den Erbgrafen, und die noch anwesenden Verwandte und Freunde der Familie mit ihrem Wundergeschwätz hätten belästigen sollen.

Wenig Augenblicke – und das ganze Haus, bis zum Küchenjungen hinab, wusste die Ereignisse der Nacht. Im ganzen Ort, ja im Umkreis von vielen Meilen, vernahm man mit gläubigem Hautgrausen die andächtige Geistermär.

Des ganzen gräflichen Hauses bemächtigte sich eine besondere Art von Furcht. Die sämtliche Dienerschaft versammelte sich im großen Gesindesaal, um, nach Abbetung manches Rosenkranzes, gemeinschaftlich zu frühstücken. In der nämlichen Absicht sammelte die Dame des Hauses nach vollbrachter Morgenandacht in einem der größten Zimmer alles, was in ihren Kreis gehörte. Man kann leicht denken, dass die Geisterseher davon nicht ausgenommen waren. Die Schreckensnacht war an der Tagesordnung; und wer nie an Erscheinungen der Verstorbenen geglaubt hatte, der schien nun zu diesem Glauben bekehrt zu sein. Niemand wagte es, den Herren mit der päpstlichen Weihe im Geringsten zu widersprechen oder die Glaubwürdigkeit ihrer selbst in Kleinigkeiten übereinstimmenden Aussagen in Zweifel zu ziehen. Und in der Tat wäre es eine Art von Ungerechtigkeit gewesen, zu argwöhnen, dass die ganze Erscheinungsgeschichte in frommer Absicht erdichtet worden oder gar ein von den Priestern selbst veranstalteter Betrug gewesen sei; denn das nächtliche Entsetzen war noch in der Miene eines jeden lesbar. Ihre leichenblasse Gesichtsfarbe trug noch die sichtbarsten Spuren davon an sich. Einige von ihnen warf der Schrecken sogar auf das Krankenbett.

Unter denen, welche an der Begräbnisfeierlichkeit teilgenommen hatten, und auch bei der Frühstückskonversation zugegen waren, war auch ein Freiherr von H., des Erbgrafen Busenfreund und Protestant. Weder dieser feurige junge Mann mit hellem Kopf noch auch sein eben genannter Freund hatten sich bisher von der Möglichkeit einer unseren Sinnen empfindbaren geistigen Erscheinung überzeugen können. So manche Stunde hatte man schon bei Lebzeiten des wieder erschienenen Grafen mit diesem und der gnädigen Gräfin über Gegenstände dieser Art verplaudert, aber noch nie war Letztere von den Gründen ihres Sohnes und des Herrn von H. überzeugt worden.

»Nun lieber Baron!«, fragte die Gräfin.

»Was sagen denn Sie zu diesen Tatsachen? Meinen Gründen gelang es noch nie, Sie für meine Überzeugungen zu gewinnen. Unstreitig werden die Erfahrungen dieser Nacht hinreißender und überzeugender für Sie sein.«

Herr von H. drückte seine Antwort schweigend durch eine nachgebende Verbeugung aus. Ernst und stumm wie ein Fisch schien er tief in der Brust ein Geheimnis zu verschließen. Auch des jungen Grafen einsilbige Äußerungen waren bedeutungsreicher und unverständlicher als je. Keinerlei Überredungskünste waren imstande, ihr Urteil über das Wunder dieser Nacht ihnen abzulocken. Viele hätten darauf geschworen, dass der Geist des alten Grafen auch seinem Sohn und Herrn von H.  erschienen sei, und ihnen durch seine Äußerungen diesen Ernst und dieses rätselhafte Schweigen zur strengsten Pflicht gemacht haben müsse.

Ein Geheimnis bewahrten die beiden Freunde, aber es war von anderer Art, als man glaubte. Vielleicht war es mit ihnen in das Grab gegangen oder wenigstens nie zum Besten der Menschheit öffentlich ans Licht gebracht, wenn der Herr Erzähler, ein Enkel jenes bereits verstorbenen Freiherrn von H. nicht edelfreimütig genug wäre, dessen mündliche Erzählung, ihren wesentlichen Teilen nach, dem Publikum hier vorzulegen und über den Wunsch, gemeinnützlich zu werden, über jede ängstliche Rücksicht hinweg zu sehen. Hier ist die Ausklärung der Tatsache:

Die katholischen Priester, voll Ungarweines, verscheuchten durch wilde Ausgelassenheit die nächtliche Ruhe im Schloss derer von Sternberg.

Anstatt die Nacht zu durchbeten, durchjubelten sie dieselbe. Der junge Graf und der Freiherr, deren Schlafzimmer an das ihre grenzte, konnten vor den unanständigen Äußerungen ihrer wilden Lust nicht schlafen. Sie verabredeten daher, unter der gegenseitigen Zusicherung, dass man sich nicht verraten wolle, einen raschen Entschluss, der ihnen und dem ganzen Haus die verscheuchte nächtliche Ruhe wiedergeben sollte. Man suchte aus dem Vorrat von Charaktermasken, deren der Graf in der letzten Redoutenzeit sich bedient hatte, diejenige Maske hervor, welche einem Geist oder vielmehr einem wirklichen Totenkopf vollkommen glich. Mit dieser, einem Sterbehemd und Zubehör angetan, trat der Baron von H. in einem Augenblick unter die Trunkenen, als diese vor will dem Getöse vom Aufgehen der Stubentür und dem Hereintreten des Geistes nichts vernahmen und sich wohl um die Füllung der leeren Gläser, aber wenig oder gar nicht um die Hereintretenden bekümmerten.

Nicht anders verhielt es sich mit dem vorgeblichen Verschwinden des Geistes. Mit den Gläsern in der Hand zur Erde gesunken, wagten die Betäubten es nicht, ihre Augen zu erheben. Beides, das Entsetzen vor der Erscheinung und die Sinnesberauschung mittelst des im Übermaß genossenen Weins, hinderte sie gänzlich, die Bewegungen des Geistes auch nur oberflächlich, geschweige denn richtig zu beobachten. Dieser hatte sich gegen die Zeit des Verschwindens allgemach in die Gegend der Tür zurückgezogen und entwischte durch dieselbe unbemerkt, während er das dritte und letzte Oremus mit verstärkter Stimme hervor wimmerte.

[1] Der Herr Erzähler dieser merkwürdigen Geschichte will wegen der Verbindung seiner Familie mit dem gräflich Sternbergischen Haus nicht gern genannt sein. Seine Wünsche sind mir Befehl. Zur Zufriedenstellung des Publikums aber verbürge ich, der Herausgeber, die höchste Glaubwürdigkeit des ungenannten Erzählers.

[2] Geistig, weil sie nicht wie unser physisches Feuer einen Körper, sondern das geistige Wesen der Seele schmilzt, martert und läutert.