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Schauernovellen – Die Geister der Gemordeten Teil 2

Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 1
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843

Die Geister der Gemordeten – Teil 2

Der Anblick Cambrais im Jahre 1136 war sehr verschieden von dem, welchen es nun darbietet. Diese Stadt dehnte sich eng und zusammengedrängt vom Schloss Selles bis zum Fuße des Ochsenberges. Hier streckte sie plötzlich zwei unermessliche Flügel aus, welche den Hügel bedeckten. Eine Kirche des St. Medard und St. Cloud beherrschte dieses weite Amphitheater.

Die Stadt bildete also zwei sehr verschiedene Teile; der eine war düster und von den armen Leuten bewohnt; der andere ein angenehmerer Aufenthalt des Adels und der wohlhabenden Bürgerschaft. Diese beiden Teile verband nur eine Art Landenge, die von einem von Palisaden umgebenen Platz gebildet wurde. Das war der Aufenthalt der Freudendirnen, das Hurengässchen, und die Wohnung des Schinders.

Man konnte nicht fehlen, wenn man einige elende, schmutzige und halb nackte Frauen, die einen Gürtel von bleichem Flittergold trugen, in diesem dreckigen Gehege umherirren sah.

Was die Wohnung des Schinders anbetraf, so war sie noch weniger zu verkennen. Vor der Schwelle erhob sich ein Galgen zwischen zwei ungeheuren Pfählen; der Pfahl rechter Hand war mit Ohren von Dieben bedeckt, an dem linker Hand hing am Ende einer langen Eisenkette das schmale spitze Eisen, das man glühend machte, um damit die Zunge der Gotteslästerer zu durchstechen.

Dieser Ort hieß damals, wie er heute noch heißt: der Ohrzwicker.

An dem anderen Ende der Stadt, unweit des Tores St. Jean, mitten unter eckigen Festungswerken, sah man den Turm der Abtei St. Aubert, den bischöflichen Palast und die halb in Trümmern liegenden Türme der Kathedrale sich erheben.

Die zahlreichen Werkleute, welche an der Wiederherstellung dieses unermesslichen Gebäudes arbeiteten, das vergangenes Jahr von Gerhard dem Böswilligen angezündet worden war, waren größtenteils Vasallen der Herren von Cambrai und von ihren Lehnsherren zu diesem frommen Dienst gesandt worden.

Der Abend brach herein. Die Arbeiter schickten sich an, truppenweise in ihre Dörfer zurückzukehren, denn die Wege waren damals nicht sicher. Wenn ein Unbesonnener es gewagt hätte, allein und unbewaffnet aus der Stadt zu gehen, würde er unfehlbar von den Räubern, welche das Land plagten, geplündert worden sein. Übrigens waren sie, wenn sie sich so vereinigten, von dem Zoll frei, den ein jeder Herr von den Reisenden erhob, die über oder durch sein Gebiet gingen. Die Nachlassung dieser Abgabe war den Werkleuten zugestanden, in Rücksicht der christlichen Beweggründe, welche sie nach Cambrai geführt hatten. Jeder dieser Arbeiter nahm vor dem Prevot der Kirche, Herrn Nicolas von Chievre, der auf der Zugbrücke von Sekours stand, ehrfurchtsvoll seine Kopfbedeckung ab.

Er zählte sie, so wie sie an ihm vorübergingen, um sich zu versichern, dass keiner von ihnen im Schloss bleibe. Er erfüllte hiernach die Pflichten seiner Stellung, Pflichten, welche die misstrauische Vorsicht dieser Zeiten des Krieges und der Unruhen vorschrieb.

Die Kleidung des Herrn von Chievre war die der Laien des 12. Jahrhunderts: Ein langer brauner Rock ging bis auf die Füße, deren weiche graulederne Bekleidung um den Knöchel herum aufgeschnitten war. Über diesen Rock trug er einen engen Mantel, der einen großen Rosenkranz blicken ließ, welcher um die Schultern hing und auf die Brust herabfiel. Dieser Mantel, in Blau gefüttert, bedeckte halb die Tasche, welche an der linken Seite des Gürtels befestigt und deren Gebrauch derselbe war, wie der unserer heutigen Taschen.

Aber der sonderlichste Teil seiner Kleidung war ohne Widerrede der Kopfputz, eine Mütze von braunem Zeug, die in eine lange Spitze ausging. Diese Spitze rollte sich zweimal um den Kopf und fiel als schmale Schnur über die Stirn herein. Herr Nicolas konnte 30 Jahr alt sein. Eine bleiche und regelmäßige Physiognomie zeigte eine Mischung von Festigkeit und Melancholie, die nicht ohne Anmut war. Sein zerstreuter Blick, sein unbestimmtes Lächeln, ließen vermuten, dass er lange Schmerzen erduldet, welche die Zeit mildert, nicht aber vertilgt, jene Schmerzen, welche das traurige Privilegium einer brennenden, gefühlvollen Seele sind.

Während die Person, deren Porträt wir soeben gezeichnet haben, sich mit der Zählung der Werkleute beschäftigte, sah er einen gewaffneten Mann im Galopp herbeistürmen. Er trieb sein Ross so zur Eile, dass die Brücke unter ihm ertönte, bevor man daran denken konnte, ihn aufzuhalten. Dieser Unbekannte warf eine Pergamentrolle zu den Füßen des Herrn Nicolas. Indem er mit Behändigkeit sein Ross herumwarf, verschwand er, wie eine Erscheinung, ohne dass man wissen konnte, woher er gekommen, noch wohin er geeilt war.

Das aber war der Inhalt des Pergamentes:

Kund und zu wissen, Herrn Lietard, dass Gerhard, genannt der Böswillige, Herr von St. Aubert, abgezogen ist von seiner Burg mit 400 Reisigen, um mit Einbruch der Nacht das bischöfliche Schloss zu überrumpeln, in Brand zu stecken und zu plündern. Zieht die Zugbrücken auf, lasst die Gitter nieder! Werk- und Fronleute, keiner von euch gehe von hinnen, steigt auf die Wälle, belastet die Ballisten mit Steinen und ein jeder halte sich fertig, große Steine in Menge zu schleudern. Holla, he, Herr Schützenkapitän, Ihr kommt eben recht, versammelt Eure Kompanie. Jeder Schütze führe einen guten, mit Pfeilen wohl angefüllten Köcher bei sich. Die Reisigen, Seneschall, mögen sich rüsten, und die Pferde alle geharnischt, werden zum Bestreigen fertig gehalten. Ihr aber, fromme Stiftsherren, während wir für das Haus des Höchsten kämpfen, wollt in der Kirche beten für die, welche heute Märtyrer werden, und für unsere heilige Sache den Schutz Jesu Christi und seiner unbefleckten Mutter anflehen.

Plötzlich sah man die Menge nach allen Seiten hin zerstieben, welche sich um den Herrn von Chievre versammelt hatte bei der sonderbaren Erscheinung des Reisigen, wovon die Nachricht sich sogleich im Schloss verbreitete. Wenige Augenblicke reichten hin, um die klugen Anordnungen des Prevot auszuführen.

Man beeilte sich umso mehr, als schon einige Personen erzählten, dass sie den geheimnisvollen Boten in der Luft hätten verschwinden sehen. Andere gingen noch weiter: Sie wären geblendet worden, von dem Heiligenschein, der um sein Haupt leuchtete. Sie hätten ihn zwei große, weiße Flügel entfalten sehen. Die Gläubigen zweifelten nicht, dass es der hochheilige Erzengel Michael gewesen sei, der durch die Vermittlung der Mutter Gottes gesandt worden war, um die Kathedrale von Cambrai gegen Zerstörung zu schützen.

Ein Jahr war verflossen.

Die Nacht brach herein. Herr Nicolas von Chievre stand auf der Zugbrücke und zählte wie gewöhnlich die Werkleute, welche herausgingen, als Meister Delavigne in Schwarz gekleidet, auf den Prevot loskam, der ihm liebreich die Hand reichte.

»Die heilige Jungfrau schütze Euch, Meister Delavigne. Seid willkommen! Noch einige Minuten und ich bin ganz zu Euren Diensten. Zieht die Brücke auf, Leute. Die Arbeiter sind fort. Lasst niemand herein oder hinaus, der nicht die Losung weiß.«

»Nun«, fuhr er, zu Delavigne gewendet, fort, »nun sagt, Meister, was mir so spät die Ehre Eures Besuches verschafft.«

Delavigne, an einen der Pfeiler der Zugbrücke gelehnt, war in tiefes Träumen versunken. Nicolas von Chievre musste das Wort noch einmal an ihn richten.

»Ich wünsche sogleich mit Herrn Lietard zu sprechen«, antwortete er endlich, »und ich beschwöre Euch, mich sofort bei ihm vorzuführen.«

Diese Bitte war offenbar dem unangenehm, an den sie gerichtet war. Lietard speiste in diesem Augenblick, und da er keineswegs gewohnt war, mäßig zu trinken, und er fast immer taumelte, wenn er von Tisch ging, verbot er dem Prevot der Kirche, ihn in einem solchen Zustand sehen zu lassen. Indem Herr Nicolas demgemäß einige Entschuldigungen machte, veranlasste er Delavigne, seine Unterredung mit dem Prälaten auf den anderen Tag aufzuschieben.

»O nein! Ich muss ihn sehen, ich muss ihn sogleich sprechen. Es geht um mein Seelenheil. Die geringste Verzögerung kann mir ewige Verdammnis bringen.«

Das Feuer, womit der Greis sprach, seine äußerste Aufregung, bewogen Herrn Nicolas zum Nachgeben. Wiewohl ungern, führte er Delavigne in den großen Saal, wo sich Lietard befand.

Beim Anblick des Prevot machte die lüsterne Fröhlichkeit, die auf der trivialen und pedantischen Figur des Prälaten sich machte, dem ernsten Zwang eines von seinem Lehrer bei einem Vergehen ertappten Schülers Platz.

Lietard ordnete eilig sein Gewand, das auf der Brust ganz aufgeknöpft war. Indem er sich in dem großen Lehnstuhl, in welchem er halb liegend ausgestreckt war, sich aufrichtete, rief er: »Ach, da ist unser verehrter Prevot. Benedico tibi

»Wade retro, Satanas!«, fügte er ganz leise hinzu, in das Ohr eines dicken, zu seiner Rechten sitzenden Domherrn. »Man hätte uns wohl in Ruhe lassen sollen.«

»Bei unserer Mütze, da ist auch der reiche Wechsler, Meister Delavigne! Ach, ich verstehe, Ihr wollt die 400 Mark Silber zurückfordern, die Ihr uns mit so viel Umständen geliehen habt, ungeachtet der Bürgschaften, die wir Euch gaben. Ihr wählt eure Zeit nicht wohl, Meister: Wir sind gezüchtigt worden, mit Feuer und Schwert. Die Diener der Mutter aller Gnaden sind sehr arm, denn der verdammte Gerhard hat das Haus des Herrn von Grund auf zerstört. Und wenn der Erzengel Michael ihn nicht hätte vor einem Jahr durch den Blitz …«

»Das ist nicht der Grund, weswegen ich komme.«

»Nun dann, sprecht aufrichtig … aber einen Augenblick … Holla, Mundschenk, zwei Gläser und noch mehr Wein.«

»Herr«, unterbrach Nicolas von Chievre mit einem zu gleicher Zeit ehrfurchtsvollen und strengen Ton, »Meister Delavigne wünscht Euch insgeheim zu sprechen.«

»Insgeheim? Ohne Zweifel wollt Ihr mir irgendein vorteilhaftes Darlehen anbieten? Herr von Chievre, immer bedacht für den Vorteil der Kirche und bekannt mit deren Bedürfnissen, hat diese Sache anzuordnen verstanden. Wir erkennen ihn wohl daran, diesen ehrenwerten Prevot! Lasst sehen, seid nicht zu begehrlich und wir werden diese Sache inter pocula abschließen!«

»Bei dem Heil Eurer Seele!«, rief der Greis, die zitternden Hände faltend, »hört mich ohne einen anderen Zeugen als Herrn von Chievre.«

»Geht denn, meine frommen Herren und entschuldiget unsere Unhöflichkeit. Ihr seht, der Stab eines Bischoffs ist schwerer, als man denkt; die Pflichten unseres Dienstes überhäufen uns selbst nach der Mahlzeit, wenn Euch nichts bleibt, als ruhig zu verdauen und Euch in ein gutes Bett legen.«

»Jetzt sind wir allein, Meister Delavigne … Aber noch einen Augenblick … Zwei Gläser Unvermischten. Schenkt ein und füllt das meine. Jetzt sprecht, Meister, wir hören Euch.«

Ein Stillschweigen von einigen Minuten verfloss noch, bevor Delavigne, seine Gedanken sammelnd, die Beweggründe auseinanderzusetzen begann, welche ihn herbeiführten. Vielleicht wartete er, bis Lietard sein Glas vollends gefüllt und es sich in seinem Stuhl bequem gemacht hatte.

»Ich komme«, sagte er endlich mit langsamer Stimme, »ich komme, Herr, Euch zu bitten, mir, Wirembault Delavigne, und Marien Dauvillers, meiner gesetzmäßigen Gattin, zu erlauben, das Gelübde der Keuschheit in Eure Hände abzulegen, da ich alles, was ich besitze, frommen Stiftungen weihen und mich in das Hospital St. Julien zurückziehen will, um dort den Rest meiner Tage im Dienst der Kranken zuzubringen, und bitte Euch noch demütig, meine beiden Söhne Lucas und Wilhelm in das Kloster St. Aubert aufzunehmen; endlich, Euch bei dem Herrn Erzbischof von Rheims zu verwenden, um meine Tochter Bertha in ein Nonnenkloster aufzunehmen; das alles in der Hoffnung von dem göttlichen Erlöser Verzeihung für die Sünden unserer Familie und besonders meines verstorbenen Bruders, Gilles Amalrich Delavigne zu erhalten.«

»Das ist ein würdiger, ein lobenswerter, ein frommer Wille«, rief Lietard vor Freude zitternd und die Hände reibend. Mit Dank nehmen wir das Geschenk an, das Ihr uns macht. Auf das Epitaphium, das man, wenn Ihr nicht mehr sein werdet, in dem Chor der Kathedrale setzen wird, (denn Ihr werdet in den Grabgewölben unserer Kirche beige setzt,) soll eingemeißelt werden, dass Ihr Eure Güter der Wiedererbauung der Wohnung Eures von den Ketzern verfolgten Bischofs geweiht habt. Unser Prevot, Herr Nicolas von Chievre, der im Schreiben keinem Rubrikator nachsteht, wird sogleich die Schenkung aufsetzen.«

»Aber, im Namen unsers heiligen Patrones!«, fragte ängstlich der bestürzte Prevot, »was hat Euch denn zu einem so gewichtigen Entschluss gebracht? Ich habe Euch vor zwei Tagen gesehen. Ihr schient geeignet, als guter Christ in Frömmigkeit zu leben, wie Ihr es bis auf diesen Tag getan habt, aber nicht Euch und Eure Familie alles Vermögens zu berauben?«

Während Nicolas so redete, warf ihm der Bischof zornige Blicke zu und suchte ihm Stillschweigen aufzulegen.

»Es ist die Seele meines Bruders, die mir gestern um die Abendstunde in der Karmelitenkirche erschienen ist.«

»Ihr habt die Seele Eures Bruders gesehen?«, fragte der Bischof sich bekreuzigend. »Requiescat in pace! Der Himmel bewahre mich vor ähnlichen Erscheinungen!«

»Ihr habt sie gesehen? Recht gesehen?«, fuhr er mit jenem Interesse fort, welches eine Frau Gevatterin an einer Geschichte nimmt, die sie fürchten macht und doch amüsiert.«

»Ach, es ist nicht das erste Mal, ehrwürdiger Herr. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen das Unglück meines Bruders und seine unbegreiflichen Abenteuer …«

»Gern, gern: Nie in meinem Leben habe ich eine so wunderbare Geschichte erzählen hören, wie die Eure, Meister Delavigne … Aber vorher wollen wir niederknien und andächtig ein de profundis für die Verstorbenen beten.«

Alle drei knieten nieder und als sie sich wieder erhoben hatten, begann Delavigne: »Sie erinnern sich, dass am Tage der Verstorbenen vergangenen Jahres das bischöfliche Schloss vom seligen Herrn Gerhard von St. Aubert belagert wurde …«

»Heilige Jungfrau! Ja, ich erinnere mich dessen! Und wenn ich versucht wäre, es zu vergessen, würden mich die Ruinen der Kirche und meines eigenen Hauses, die schönen Summen, die ich verwendet habe, sie wieder aufzubauen, nur zu bitter daran erinnern! Ohne die Klugheit des Herrn von Chievre, denn wir waren in diesen Tagen der Verwüstung nicht in Cambrai, ohne die wunderbare Protektion des heiligen Erzengel Michael, wäre es für immer um unsere Schätze geschehen gewesen … denn der Böswillige respektierte nicht einmal mehr die heiligen Gefäße und Reliquien, als ob sie dem elendsten Juden angehört hätten.«

»Herr Gerhard hatte kaum eine Stunde seine Burg verlassen, um das bischöfliche Schloss zu überrumpeln, als man in dem großen Turmgraben den Leichnam meiner Schwägerin fand. Sie haben erzählen hören, dass ein Soldat den Abend zuvor ihren unglücklichen Gemahl, meinen Bruder Amalrich hatte hineinfallen sehen, und dass die Seele des Toten den folgenden Tag kam und dem Ritter den verhängnisvollen Rat gab, das Schloss anzugreifen. Wir haben seitdem erfahren, dass Frau Gertrude die Sünde des Ehebruchs begangen hatte mit Herrn Gerhard …«

»Seht Ihr? Ich erkenne ihn wohl daran, diesen lustigen Gesellen, den wüstesten Burschen, dem ich jemals begegnet bin.«

»Ohne Zweifel entdeckte der unglückliche Amalrich, der eher, als man ihn erwartete, nach St. Aubert zurückkam, die Untreue seiner Gattin und stürzte sich aus Verzweiflung in den Turmgraben. Nun war es das Fest der Verstorbenen; und Sie wissen, dass der Körper eines jeden, der an diesem Tag eines gewaltsamen Todes stirbt, erst dann ruhig im Grab ruht, wenn er sich an dem gerächt hat, der die Ursache seines Todes ist.«

»Bei der Nachricht von dem schrecklichen Tod ihrer Kammerfrau bekam die gnädige Frau so heftige Konvulsionen, dass der Arzt erklärte, es bliebe ihr keine Stunde mehr zu leben. Ich stieg sogleich zu Pferde und eilte, diese traurige Nachricht dem gnädigen Herrn zu bringen.«

»Als ich ihn erreichte, war er nahe bei Cambrai, und mein Bruder soeben erst zu ihm getroffen, was mich sehr wunderte, denn er war wenige Augenblicke zu dem Herren vom Schloss geritten. Und doch hatte er die ganze Strecke galoppiert, sein Pferd war schweißgebadet. Nachdem ich mich meiner traurigen Pflicht bei dem Herren entledigt hatte, der sich nicht eben sehr zu grämen schien und fortfuhr, seine Reisigen anzufeuern, näherte ich mich meinem Bruder, nicht wissend, mit welcher Vorsicht ich ihm den traurigen Tod seiner Frau verkünden sollte.

›Gertrude! … Gertrude!‹ … Das Schluchzen brach mir die Stimme, ich konnte nur diesen Namen herausbringen.

›Nun denn?‹, sagte er, seine starren Augen auf mich heftend und fast ohne seine bleichen Lippen zu bewegen.

›Man hat soeben ihren Leichnam in dem Turmgraben gefunden.«

Er fing an zu lachen … Lachen, bei einer solchen Nachricht! Ich entfernte mich eilig, denn sein Lachen war erschreckend, als ob es das des Teufels wäre.

Mit schmerzlich gepresstem Herzen, denn leider sah ich nur zu deutlich, dass das nicht mein Bruder, sondern sein Geist war, ging ich zum gestrengen Herrn, um mich von ihm zu verabschieden und nach den Befehlen zu fragen, die er mir aufzugeben hätte.

›Keiner‹, sagte er, ›folge mir nach Cambrai: Ich bedarf deiner. Du sollst sogleich erfahren, wozu.‹

Unterdessen war die Nacht eingebrochen. Als wir unter den Mauern des Bischofsitzes angekommen waren, herrschte die größte Stille um uns. Man lehnte die Leitern an; die Mannen füllten den Graben an und bereiteten sich, das unverteidigte Schloss, dessen Bewohner schliefen, im Sturm zu nehmen … Sie kennen das Übrige. Eine furchtbare Ladung Pfeile und Steine überschüttete die Stürmenden und ein Hinterhalt von 200 Reisigen, die in der Nähe lagen, griff uns von hinten an. Nie war ein Blutbad so schnell und so schrecklich. Ich meines Teils irrte in der Dunkelheit umher, mitten unter den Pfeilen, die von allen Seiten pfiffen. Ich führte ein frisches Pferd am Zügel, um es dem Herrn zu geben, denn es blieb ihm nichts weiter übrig, als die Flucht zu ergreifen. Ach! Ich fand ihn tödlich verwundet und laut nach einem Priester schreiend. Nachdem ich, so gut wie ich es konnte, seine breite Wunde verbunden hatte, wollte ich einen Priester suchen, den ich einige Schritte weiterhin gesehen hatte, wie er die Beichte der Verwundeten hörte,  als eine eisige Hand mit einer übernatürlichen Kraft mich anfasste und festhielt … Es war die Seele meines Bruders! Dieses Mal war kein Zweifel mehr darein zu setzen. Nie in meinem Leben hatte ich ein ähnliches Gesicht, einen solchen Blick gesehen.

›Einen Priester!‹ sagte er, ›einen Priester! Du, Gerhard? Nein. Du sollst verdammt sein! Mörder deines Vaters, Henker deiner Frau, Verführer Gertrudes, du sollst verdammt sein, verdammt in Ewigkeit!‹

In demselben Augenblick ließ mich die Hand, die mich zurückhielt, los. Ein ungeheurer Stein kam gesaust und zerschmetterte den Kopf des Herrn, und die Seele meines Bruders verschwand.

Nachdem ich gestern Abend dem Gottesdienst zur Feier der Toten in der bischöflichen Kirche beigewohnt hatte, ging ich vor dem Karmelitenkloster vorbei. Ich wollte dort in der Kapelle, welche offen stand, ein Gebet sprechen und hatte kaum die Hälfte eines de profundis gebetet, als ich ein Gespenst gerade auf mich zukommen sah. Es bewegte die Arme mit verzweifelten Gebärden, es stieß unartikulierte Seufzer aus … O, Heilige Jungfrau! Es war mein Bruder Amalrich. Ich sah ihn, wie ich Euch sehe. Meine Kräfte verließen mich … Als ich wieder zu mir kam, war die Kirche leer geworden. Als ich mit großer Mühe nach Hause kam, war jedermann von meiner Blässe und Erregung betroffen. Meine Verwirrung war so groß, dass ich kein Wort von meinem entsetzlichen Abenteuer erzählen konnte. Ich musste mich sogleich niederlegen. Das Fieber schüttelte meine Glieder dermaßen, dass ich ein Gegenstand des Mitleids für den Härtesten wurden. Nach einer langen schlaflosen Nacht des Wahnsinns schlief ich endlich gegen Anbruch des Tages ein. Plötzlich drückte eine eisige Hand auf meine Brust. Sie beengte, erstickte mich. Ich wollte schreien, mich loswinden und konnte weder ein Wort hervorbringen noch eine Bewegung machen. Die Seele meines Bruders war noch da.

›Betet für mich, betet für mich, vom Morgen bis zum Abend. Ich brenne im Fegfeuer; rettet meine Seele. Um sie zu erlösen, bedarf es mehr de profundis, als es Seelen in der Hölle gibt.‹

Kein Mund sprach diese Worte und doch hörte ich sie sehr deutlich, bis zu drei wiederholten Malen. Nach diesem entfernte sich die Hand von meiner Brust und ich verfiel in einen tiefen Schlaf bis um die Mittagsstunde. Bei meinem Erwachen versammelte ich meine Familie und fing zu erzählen an, was mir seit gestern Abend zugestoßen war. Alsdann, ehrwürdiger Herr, beschlossen wir alle einstimmig, den Rest unsers Lebens der Erlösung der Seele meines Bruders aus dem Fegefeuer zu weihen. Ich habe Euch soeben gesagt, in welches Kloster jeder von uns sich zu begeben gedenkt. Was die Güter anbetrifft, die ich erworben habe, so will ich sie in drei Teile teilen: Der eine soll dazu dienen, die Kirche unserer lieben Frauen wieder herzustellen; mit dem zweiten will ich das Hospital St. Julien beschenken, wo ich mein Leben im Dienste der Kranken beschließen will; und mit dem dritten will ich das Weggeldrecht kaufen, das an dem Sellertor angebracht ist. Jeder Reisende soll weder eine Obole noch ein Maß Hafer zu geben haben, wenn er ein de profundis für meinen verstorbenen Bruder Amalrich betet.«

»Das sind sonderbare Geschichten!«, sagte Nicolas von Chievre mit nachdenklicher Miene.

»Ja, sehr sonderbare Geschichten«, fuhr Lietard fort. »Aber, Meister Delavigne, Ihr habt einen weisen und frommen Entschluss gefasst.«

»Wir billigen ihn sehr, und es soll nicht an uns liegen, dass er prompt ausgeführt werde. Wir nehmen es auf uns, jenes Weggeldrecht von Herrn Fulcard zu kaufen, das ihm Frau Gildeberg, seine Gemahlin, als Mitgift eingebracht hat. Auf unser Ansehen und zu Gunsten Eures frommen Beweggrundes, wird er es Euch billig verkaufen. Jetzt, Herr Nicolas, geht und setzt sogleich die Schenkungsakte von all den Gütern auf, welche Meister Delavigne der Kirche unserer Frauen und dem Hospital St. Julien gibt. Setzt dazu: Perturbatoresbprecipitentur in infernum cum Dathan et Abiron; conservatores aeternae beatitudinis gaudio donentur. Setzt noch hinzu, dass es sich auf unsere Weisheit in der Teilung bezieht.«

»Einen solchen Entschluss«, warf der Prevot ein, »sollte man einige Tage reifen lassen.«

»Heilige Jungfrau, wenn der Himmel gesprochen hat, noch verhindern wollen, seinen Befehlen zu gehorchen! Geht, Herr, gehorcht gleich dem, was wir befohlen haben, oder fürchtet unsere Ungnade.«

Der Prevot gehorchte, obwohl augenscheinlich mit Widerwillen. Meister Wirenbault Delavigne unterzeichnete das Pergament, das mit dem großen Siegel der Kathedrale gesiegelt wurde.

»Meister, sagte Lietard, als alles beendet war, »von Morgen an werdet Ihr unter die Gemeinschaft derer vom Spital St. Julien aufgenommen werden. Was Euren Willen im Übrigen betrifft, so soll er beobachtet werden, wie der eines Vaters auf seinem Totenbett. Wir werden noch mehr tun; wir werden unsere Gebete mit den Euren für die Ruhe der Seele Gilles-Amalrich Delavignes verbinden. Morgen soll für ihn ein feierlicher Gottesdienst gehalten werden. Jetzt empfangt unseren Segen und geht in Frieden, vertrauensvoll auf die Barmherzigkeit des Herrn.«

Den folgenden Morgen schlief Lietard noch einen tiefen und süßen Schlaf, als man ihm meldete, dass der Superior der Karmeliter ihn dringend und ohne Aufschub zu sprechen wünsche. Nach einigen bitteren Klagen des Prelaten über die Beschwerden seines Amtes wurde der Mönch eingeführt.

»Ehrwürdiger Herr«, sagte er, nachdem er niedergekniet war, um den Segen Lietards zu empfangen, »ich kam vor ungefähr einem Jahr, Euch rücksichtlich der Bitte eines Unbekannten um Rat zu fragen, der dem Kloster ein reiches Geschenk machen wollte, wenn man ihn als Novizen annehme, ohne je nach seinem Namen zu fragen.«

»Sehr wohl; ich erlaubte es Euch, ich erinnere mich dessen.«

»Dieser Mann übte über seinen Körper die grausamste Strenge. Er brachte die Nächte mit Seufzen zu, verließ nie seine Zelle, und zerfleischte sich mit harten Geißeln. Nach der Tiefe und Härte seiner Reue zu urteilen, musste er große Sünden begangen haben.«

»Diesen Morgen fand man ihn sterbend im Chor der Kapelle. Ich wollte ihn in seinem letzten Augenblick stärken und trösten – aber nichts konnte seine Gewissensbisse lindern. Er gab seinen letzten Seufzer von sich, indem er an der Barmherzigkeit Gottes verzweifelte und sich des Mordes seiner Frau, der Verdammnis des Herrn Gerhard von St. Aubert anschuldigte.«

Bei diesen Worten erhob sich Lietard mit Hast von seinem Sessel.

»Bei Strafe einer Todsünde, Bruder Superior«, rief er, von einer Bewegung, die ihm nicht gewöhnlich war, ergriffen. »Ja, bei Strafe einer Todsünde, ich verbiete Euch, je ein Wort von all diesem zu sagen; besonders nicht dem Prevot unserer Kirche, Herrn Nilolas von Chievre. Denkt daran, Bruder Superior, bei Strafe der Todsünde!«

»Jetzt geht! Lasst sogleich den Toten begraben, mit über das Gesicht geschlagener Kapuze, zum Zeichen tiefster Demut. Betet, ihr und Eure Mönche, dass er in Frieden ruhe. Die Barmherzigkeit des Herrn ist unendlich.«

»Die große Reue, welche der Novize an den Tag gelegt hat, wird ihm ohne Zweifel Gnade vor dem Allerhöchsten finden lassen. Unsere bischöflichen Gebete werden ihm dazu so sehr behilflich sein, als es ihr schwaches Verdienst vermag. Requiescat in pace! Mi frater.«

»Amen!«, antwortete der Karmeliter und ging.