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Das Gastmahl des Doktor Bertrand

Charles Collins
Das Gastmahl des Doktor Bertrand
Kleines Roman-Magazin. Berlin,1867-4.

Aus den frühesten Tagen meiner Kindheit, so weit nur die Erinnerungen zurückreichen bis zu jener Grenze des Bewusstseins und der Dämmerung des traumartigen Pflanzenlebens, entsinne ich mich eines vergilbten Manuskripts, das mein Vater sorgfältig aufbewahrte und in das er mir niemals einen Blick gestattete. Nur so viel teilte er mir mit, dass es ihm einige Jahre vor meiner Geburt von einem französischen Emigranten übergeben worden war und dass es den authentischen Bericht einer Begebenheit enthalte, die sich wenige Jahre vor der französischen Revolution zugetragen habe und die man ohne genaue Kenntnis und Erwägung der in Frankreich zu jener Zeit herrschenden Sittenverderbnis in das Reich der Fabel zu verweisen geneigt sei.

Nach dem Tod meines Vaters und beim Ordnen seines Nachlasses fiel mir auch das Manuskript in die Hände. Ich hoffe, man wird es mir nicht als einen Mangel an Pietät auslegen, wenn ich mich als gesetzlicher Nachfolger meines Vaters nun vollkommen berechtigt hielt, es zu lesen, ja noch mehr, wenn ich, nachdem ich den Inhalt kennen gelernt habe, es für angemessen erachtete, denselben auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Es lautet wie folgt:

Es ist allgemein bekannt, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Luft von jenen schweren, giftigen Dünsten erfüllt war, welche sich wenige Jahre später durch schlagenden Wetter und den Blutregen der französischen Revolution entladen sollten, wir Franzosen und namentlich wir Pariser, uns in einer über alle Beschreibung elenden Gemütsverfassung befanden. Der Luxus und das Raffinement waren auf eine Höhe gestiegen, dass wir uns jeder Fähigkeit des Genusses beraubt sahen, und was das Rechts- und Pflichtgefühl anbetraf, so war – Gott bessere es – wenig genug vorhanden. Was ging uns die Pflicht an? Was wussten wir von der Solidarität der Menschheit, von der Erfüllung einer höheren Mission? Wir lebten für uns, lediglich für unser eigenes Ich, solange wir das behaglich konnten, und konnten wir es nicht mehr – ja nun, so hatten wir schnell ein Mittel dagegen bei der Hand.

Jedem Denkenden, und es gab inmitten der versumpften Menge auch solche, musste es einleuchten, dass ein solcher Zustand der Dinge nicht lange mehr währen könne. Nach dem einstimmigen Ausspruch aller jener Männer musste über kurz oder lang eine furchtbare Katastrophe hereinbrechen und sie kam, kam in der Gestalt der französischen Revolution, jener modernen Sündflut, durch deren Wasser viel alter Schlamm hinweggespült, aber auch viel neuer Schlamm angesetzt wurde. Doch nicht von der Revolution will ich erzählen. Was ich mitzuteilen habe, trug sich einige Jahre vor diesem großen, welterschütternden Ereignis zu!

Dank den unerschütterlich feststehenden, sich unter allen Verhältnissen erfüllenden providentiellen Gesetzen konnten Leute, welche den in den höheren Klassen der Pariser Gesellschaft heimischen Ansichten huldigten, das daselbst sanktionierte Leben führten, nicht glücklich sein. Es war dahin gekommen, dass ein gerader, offener Mann, der so ziemlich zufrieden mit der Welt und gesonnen war, sich schlecht und recht darin zu bewegen, von der gebildeteren (und erbärmlicheren) Gesellschaft mit Verachtung betrachtet wurde, als ein Mensch, der keinen Geist und der allen Dingen keinen Ton besitze. Diesen ton- und formlosen Menschen gab es indessen wenig genug, desto ungehinderter konnten die Anhänger des anderen Systems ihren direkt zum Abgrund führenden Weg verfolgen. Haben wir nötig zu erwähnen, dass diesen Menschen wie die Kanonen der letzte Beweisgrund der Könige ist, der Selbstmord das letzte Hilfsmittel der Führer aus allen Schwierigkeiten und Verlegenheiten wurde und dass sie sich demselben weit leichter und unbedachtsamer zuwandten, als es die Fürsten, wenigstens in unseren Tagen, rücksichtlich der Kanonen zu tun pflegen. Die Opfer, welche in jenen Tagen dem Götzen der Selbstsucht durch die eigene Hand dargebracht wurden, gehen weit, weit über jede mögliche Grenze der Proportionen, welche man gewöhnlich dafür anzunehmen pflegt. Es war ein so leichtes, so bequemes Auskunftsmittel. Fehlte es an Geld, war das Leben mit der Frau unerträglich, die Maitresse zu anspruchsvoll, war die Luft nicht länger Luft, während der Schmerz doch immer Schmerz blieb. Wehte irgendein widriger Wind, war das Leben aus irgendeinem Grund nicht des Lebens wert, eine Last, eine Strafe, eine Hölle – wohlan, werfen wir es weg. Etwas darüber hinaus liegt – pah, darauf müssen wir es wagen! Vielleicht ist es gar nichts! Vielleicht erwarten uns elysäische Felder mit nie endenden Genüssen und einer nie endenden Jugend und Genussfähigkeit! Auf jeden Fall wollen wir den Weg versuchen, aber wer, aber was führt uns am sanftesten darauf?

Es fehlte nicht an solcher Hilfe. Da waren seine, schnell wirkende Gifte, welche den Lebensmüden in einem Augenblick, ohne dass er etwas davon merkte, aus dem Diesseits in das Jenseits beförderten. Da waren Bäder und Lanzetten, man nahm ein warmes Bad, öffnete sich darin die Adern und starb den klassischen Tod eines Seneca. Da waren Pistolen, allerliebste kleine Kunstwerke, mit Silber und Perlmutt eingelegt, mit dem Familienwappen und der Grafenkrone geschmückt – für diejenigen, welche noch im letzten Moment die Moment die Vorrechte ihres Standes genießen wollten. Und endlich war ja auch noch die Steinkohle da. Der durch ihren Dampf erzeugte Schlaf sollte, wie man sagte, sehr fest, sehr tief und ohne Erwachen sein. Freilich bedurfte es bei Anwendung dieser Todesart der größten Vorsicht. Man musste jedes Luftloch sorgfältig verschließen oder man lief Gefahr, wieder inmitten dieser Welt voll Gläubiger und sonstiger Unannehmlichkeiten zu erwachen und von seinem Reiseversuch nichts davonzutragen, als recht unangenehme Kongestionen. Alle die verschiedenen Methoden, durch welche das arme schwache Flämmchen unseres Lebens mit einem Hauch ausgeblasen werden kann, waren in jener Zeit in Paris sehr stark en vogue. Man würde aber ein großes Unrecht gegen eine so raffinierte und verfeinerte Gesellschaft begehen, wollte man annehmen, sie sei bei diesen jedermann bekannten und zugänglichen Todesarten stehen geblieben und habe für sich nicht noch etwas ganz Besonderes, noch nie Dagewesenes in Anspruch genommen. Von einer solchen vorzüglichen fashionablen und beliebten Art der Reise in das unbekannte Land will ich in Nachstehendem erzählen.

In einer schönen Straße der Faubourg St. Germain lebte ein sehr gelehrter, in den geheimsten Naturwissenschaften tief erfahrener Mann, den wir Doktor Bertrand nennen wollen. Seine äußere Erscheinung musste jeder oberflächliche Beschauer angenehm nennen. Er war ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren, mit einer stattlichen, wohlproportionierten Gestalt und einem schönen, auffallend intelligenten Gesicht. Wer ihn jedoch nur einen Augenblick genauer ansah, der fühlte sich von einem gewissen Etwas in seinen Zügen mit einem eigentümlichen Schauer angeweht, ohne sich genauere Rechenschaft über den Ursprung dieser Empfindung geben zu können. Nur wenige wussten, dass es die Augen des Doktors waren, welche diesen Eindruck hervorbrachten. Sie waren starr, wechselten niemals ihren Ausdruck und bewegten sich selten, was umso eigentümlicher wirkte, als das übrige Gesicht durch seine große Beweglichkeit ersetzen zu wollen schien, was die toten, bleifarbenen, mit tiefen schwarzen Rändern Augen ihm an Lebendigkeit raubten. Auch die Gesichtsfarbe des Doktors hatte mehr vom Tod als vom Leben.

Trotz seiner toten Augen und seiner Leichenfarbe war aber Doktor Bertrand ein äußerst heiterer, liebenswürdiger Mann, dessen Höflichkeit ans Wunderbare grenzte. Nichts vermochte ihn aus seinem angenehmen Gleichgewicht zu bringen und ebenso wenig war es möglich, nur einen Zipfel vom Schleier des Geheimnisses, mit dem er sich zu umgeben verstand, zu lüften oder die Schranken zu durchbrechen, welche er eben durch seine Höflichkeit rings um sich aufgerichtet hatte. Doktor Bertrand hatte mancherlei Entdeckungen zum Nutzen und Frommen der Wissenschaft gemacht und seines eigenen Vorteils dabei nicht vergessen. Er war ein reicher Mann und sein Vermögen schien besonders in letzter Zeit noch sehr bedeutend gewachsen zu sein. Weit entfernt daraus ein Geheimnis zu machen, schien es viel mehr seiner innersten Natur gemäß, sich mit Glanz und Luxus zu umgeben und somit seinen Reichtum offen zur Schau zu stellen. Sein Haus in der Rue Manconseil war von einem mit den seltensten Blumen und Sträuchern angefüllten Garten umgeben und, obwohl nur von mäßiger Größe, seiner ganzen Einrichtung nach ein Muster des Geschmackes. Besonders war der Speisesaal das Ideal all dessen, was die kühnste Fantasie sich nur von einem solchen Gemach vorzustellen vermag. Die schönsten Gemälde, wirkliche Kunstwerke, nicht bloße Zimmerdekorationen, schmückten die Wände und wurden abends von Lampen beleuchtet, die ein an die Wunderpracht der orientalischen Märchen erinnerndes Lichtmeer ausstrahlten. Persische Teppiche bedeckten den Fußboden, Polster und Vorhänge waren vom feinsten Utrechter Samt und aus dem an den Speisesaal stoßenden, die wundervollsten exotischen Pflanzen bewahrenden Gewächshaus vernahm man die sanfte Musik einer unaufhörlichen plätschernden Fontäne.

Doktor Bertrand hatte mit gutem Grund eine so große Sorgfalt auf die Einrichtung seines Speisesaals verwendet. Es gehörte zu seinem Geschäft, auserlesene Diners zu geben, die sich in gewissen Kreisen einer großen Berühmtheit erfreuten, von denen man aber immer nur sub rosa zu sprechen pflegte. Man flüsterte von dem bei diesen Gastmählern herrschenden fabelhaften Luxus, erzählte sich, dass Speisen und Weine von einer anderwärts ungeahnten Vortrefflichkeit sein sollten, dass die Gäste von Dienern bedient würden, welche ihr Amt vollkommen verständen, was sehr viel gesagt ist, das sie auf Samtstühlen säßen, von goldenem Geschirr speisten, vor allen Dingen aber, dass Doktor Bertrand ein äußerst geschickter Chemiker sei, der den Geist seiner Zeit begriffen habe und dass alle seine Gäste das Leben nicht gerade nach ihren Wünschen fänden und keiner von ihnen je ein Verlangen trage, nachdem er die Gastfreundschaft des Doktors genossen, nach einen neuen Tag heraufdämmern zu sehen.

Ein seltsamer, ein entsetzlicher Ruf! Wer vermöchte unter der Last desselben zu leben? Der Doktor kannte es, denn er lebte nicht nur darunter, sondern befand sich allem Anschein nach auch sehr wohl dabei.

Es war etwas so Distinguiertes, so Delikates, an der Hand des Doktor Bertrand den Leiden dieser Erde Valet zu sagen. Man speiste in einem ganz ungewöhnlichen luxuriösen Stil, in der besten Gesellschaft, man empfand nicht den geringsten Schmerz, nicht das leiseste Unbehagen – der Doktor verstand sein Geschäft von Grund auf – man ging mit dem Gefühl einer Müdigkeit nach Hause, welche das Bett äußerst angenehm erscheinen ließ, schlief augenblicklich ein – der Doktor verstand alles auf die Minute zu berechnen – und erwachte in Elysiums Gefilden – wenigstens erwartete man ein solches Erwachen. Der letztere Punkt war der einzige Teil des Programms, über den der Doktor keine Garantie zu geben vermochte.

Eines Morgens empfing Doktor Bertrand einen Brief von einem jungen Edelmann, Namens De Clerval, durch welchen dieser die Bitte aussprach, der Doktor wolle ihm gestatten, am nächsten Tag an seinem gastlichen Tisch zu speisen. Diese Bitte war die gewöhnlich sich zu beachtende Form, der, die es ebenfalls Stil, eine recht ansehnliche Summe beigefügt war. Der Doktor beeilte sich, Herrn De Clerval sofort eine Einladungskarte für den nächsten Tag zum Mittagessen zugehen zu lassen und drückte ihm in den diese Karte begleitenden Brief in den höflichsten Worten das Vergnügen aus, das ihm die Aussicht gewähre, die Bekanntschaft des Herrn De Clerval machen zu dürfen.

Ein düsterer, regnerischer Novembertag ist durchaus nicht geeignet, jemanden, der ohnehin schon nicht sehr entzückt vom Leben ist, einen größeren Geschmack daran beizubringen. Es triefte alles. Die Bäume in der Champs-Élysées, die Dachtraufen an den Schilderhäusern, der Regenschirme derjenigen, welche sich eines solchen Luxus erfreuten und die Hüte derer, die seiner ermangelten. Die Nässe und des Triefen des Regens bildete einen so wesentlichen Charakter des Tages, dass der Doktor mit dem ihn auszeichnenden feinen Takt und seiner bewundernswürdigen Kenntnis der menschlichen Natur, für diesen Abend die Fontäne zu verstopfen befahl, damit ihr Plätschern keinen unangenehmen Eindruck auf seine Gäste hervorbringe. Es war immer eine Hauptsorge des Doktors, alles fern zu halten, was die Heiterkeit seiner Gäste in irgendeiner Weise beeinträchtigen könnte.

Alfred de Clerval war eine Ausnahme von der gewöhnlichen Klasse der sich bei dem Doktor einfindenden Gäste. Es war weder die Langeweile noch der Wunsch nach Sensation, was ihn an die Tafel des Doktors geführt hatte. In ihm war ein Gefühl des Zornes und der Täuschung gemischt mit der wirklichen Überzeugung, dass dasjenige, woran sein Herz gehängt hatte, als allein imstande, ihn wahrhaft glücklich zu machen, für ihn verloren sei. Als eine heftige leidenschaftliche Natur entschloss er sich, das Leben zu verlassen, da er glaubte, dass alle Hoffnung und Lebensglück für ihn verloren sei. Alfred de Clerval war in einem Fieber der Liebe und Eifersucht. Er war der glühende Anbeter von Mademoiselle Therese de Farelles, einer berühmten Schönheit des Tages gewesen. Eine Zeitlang war alles nach seinen Wünschen gegangen, bis ein Cousin der Dame, ein gewisser Vicomte de Noel auf dem Schauplatz erschien und Alfreds Eifersucht erregte. Es kam zu einigen unangenehmen Auftritten und endlich zu einem förmlichen Bruch, denn Mademoiselle de Farelles gehörte unglücklicherweise zu den Personen, die zu stolz sind, sich von einem ungerechten Verdacht zu reinigen, selbst wenn es ihnen etwas sehr Leichtes wäre, dies zu tun. Und dass Alfreds Eifersucht sehr schwache Stützen hatte, musste jeder einsehen, der nicht wie er der Leidenschaft verblendet war. Er kannte den Vicomte nicht von Angesicht zu Angesicht, ja selbst der Verkehr zwischen diesem und Mademoiselle de Farelles war hauptsächlich ein schriftlicher gewesen, aber eben diese Korrespondenz hatte Alfreds Argwohn erregt und den Streit herbeigeführt.

Als Herr de Clerval in den Salon trat, in welchem sich die Gäste des Doktor Bertrand vor dem Mittagessen zu versammeln pflegten, fand er dort acht oder zehn Personen, alle in der verzweifelten Absicht hierhergekommen. Nach ihren Physiognomien vertraten sie alle Typen: Der eine war hager, der andere wohlgenährt, der eine von blühender Gesichtsfarbe, der andere bleich und hohläugig; in einem Punkt hatten sie aber eine wahrhaft unheimliche Ähnlichkeit. Man bemerkte an ihnen allen einen Gefühlsausdruck, der undurchdringlich sein sollte und es auch bis zu einem gewissen Grad war.

Sehen wir uns die Gesellschaft etwas genauer an. Hier steht ein wohlbeleibter Mann mit einem von Natur jovialen Gesicht, dem man auf hundert Schritten den Lebemann ansieht. Was in aller Welt bringt ihn hierher? Wäre er des Morgens gekommen, um den Doktor wegen seiner Verdauung zu konsultieren, so könnte man das eher begreifen. Was aber will er unter den Abendgästen? Dieser Mann weiß, dass morgen früh die Welt ihn als einen Bankrotteur und Betrüger kennen wird. Sein Geschäft wird wie ein Kartenhaus zusammenstürzen und er, der eine sehr große Empfänglichkeit für das Urteil der Welt hat und sich bisher einer sehr guten gesellschaftlichen Stellung erfreute, fühlte, dass er sich niemals wieder unter Menschen blicken lassen kann. Seine geselligen Gewohnheiten bis zum letzten Augenblick getreu, ist er gekommen, um in guter Gesellschaft seinem Leben ein Ende zu machen. Kein anderes System als das des Doktor Bertrand würde den Ansichten des unglücklichen Spekulanten entsprochen haben. Preis und Ehre daher dem Doktor Bertrand, der jeder Klasse die Mittel zum behaglichen Selbstmord leiht.

Neben ihm steht ein Mann mit dunklem glatt rasierten Gesicht, auf dem mehr als auf allen andere der undurchdringliche, geisterhafte Ausdruck ausgebildet ist. Diesen Morgen erst klopfte sein Kammerdiener an seine Tür und überreichte ihm einen an ihn adressierten Brief, den die Zofe aus Madames Toilettentisch gefunden hatte. Madame selbst war nicht in dem Zimmer gewesen, nur der Brief hatte unter dem Spiegel gelegen. Der Gatte las ihn – und er speist nun bei Doktor Bertrand, sein Gesicht ist totenbleich, er spricht kein Wort.

Solche Gäste wie die beiden geschilderten und Alfred de Clerval gehören jedoch immer noch zu den Ausnahmen. Der rechte Mann, der hier am rechten Platz, ist ein schlanker, verblichen aussehender junger Mann, der zu träge zu sitzen oder zu stehen, in einer halb liegenden Stellung am Kamin lehnt. Sein Gesicht war von schönem Schnitt, die Züge symmetrisch und wohlproportioniert, der Ausdruck desselben aber entsetzlich. Hier lag eine solche furchtbare Öde, eine solche Leere und Hoffnungslosigkeit, dass man fühlte, es war das Beste für ihn, bei Doktor Bertrand zu speisen. Er war prächtig gekleidet, nach dem Wert seiner Westen und Hemdknöpfe zu urteilen, konnte Geldnot ihn nicht hierher gebracht haben. Ebenso wenig konnte man aber, wenn man in dieses alles Lebens, aller Leidenschaft bare Gesicht blickte, nur einen Augenblick der Vermutung Raum geben, dass er Vergessenheit für eine unglückliche Liebe suche. Nein, ihn brachte die Langeweile hierher, die hoffnungslose, unendliche schreckliche Langweile. Einige seiner Freunde hatten bei Doktor Bertrand gespeist, das Mittel schien gewirkt zu haben, denn sie hatten ihn nicht wieder belästigt. Er war gekommen, es auch zu versuchen. Seinesgleichen waren mehrere da. Männer, die sich sozusagen schon ausgelebt hatten – ausgelebt ihr besseres Selbst, ihren Glauben, ihre Gesundheit, ihr natürliches menschliches Interesse an allen unter dieser Sonne sich ereignenden Dingen – Männer, deren Herzen und Seelen schon lange eingesargt waren und die ihnen nun nur nach die Körper nachsenden wollten.

»Wir dispensieren uns bei unseren kleinen Réunions von der Zeremonie der Herstellung. Wir nehmen an, dass wir uns sämtlich kennen«, flüstert der Doktor Bertrand Alfred de Clerval ins Ohr, in dem Augenblick, wo der Diener angekündigt hatte, dass serviert sei und die Gäste feierlich die Schwelle des Speisesaales überschritten.

Das Zimmer bot einen entzückenden Anblick. Der Doktor hatte nicht nur die Fontänen zu verstopfen befohlen, sondern auch, um den Komfort zu erhöhen, den Eingang zum Gewächshaus durch die schweren Samtportièrren schließen lassen. Ein munteres Feuer flackerte im Kamin und der Glanz unzähliger Kerzen erhellte Saal und Tafel. Der Doktor wusste sehr wohl, welche bedeutenden Faktoren der Behaglichkeit und Heiterkeit Licht und Wärme sind.

Die Gäste setzten sich zu dem unheimlichen Gastmahl und es war wohl keiner unter ihnen, den nicht in diesem Moment ein Schauer durchrieselte und die Bedeutung dessen, was er zu tun im Begriff stand, vor die Seele trat. Auch Alfred de Clerval bebte, als er seinen Platz einnahm. Noch einmal erhob sein guter Genius sich zu einem Kampf mit dem finsteren Dämon in ihm. Aber der Würfel war gefallen. Die Absicht, welche ihn hierher geführt hatte, war allen Anwesenden bekannt. Er musste diese Absicht nun ausführen. Es schien ihm überdies, als hefte sich des Doktors Auge ganz besonders forschend auf ihn. Er musste ein Mann sein – ein Mann!

Der Doktor schien besorgt, dass die Bewirtung nach keiner Seite etwas zu wünschen übrig lasse, und machte dann und wann den Dienern Zeichen, sich in der Ausübung ihres Amtes keine Lässigkeit schuldig zu machen. Es war Chateau Yquem. Des Doktors Weine hatten nicht ihresgleichen.

Der Wirt ließ es sich angelegt sein, keine Pause in der Unterhaltung eintreten zu lassen und arbeitete sich, während er sich den Anschein gab, als amüsiere er sich höchlich, im Schweiß seines Angesichts ab, das Gespräch in beständigem Fluss zu erhalten. Man sprach; aber in diesem Gespräch trat ein schauerlicher Umstand zu Tage. Niemand erwähnte die Zukunft, keiner deutete mit einem Wort auf den nächsten Tag hin. Es wäre dies von dem Wirt eine Unzartheit, von den Gästen aber eine Torheit gewesen.

»Bei dem Wetter, was wir heute haben, sind Sie wohl um Ihre Spazierfahrt im Bois de Boulogne gekommen, Herr Baron?«, bemerkte der Doktor, sich an eine am anderen Ende der Tafel sitzende, wie das Gespenst eines vornehmen Herrn aussehende Gestalt wendend.

»Keineswegs«, entgegnete der Angeredete, »ich bin zwei Stunden lang draußen gewesen.«

»Aber der Nebel – konnten Sie sehen?«

»Ich hatte Läufer mit Fackeln vor mir. Ich hoffte, das würde vielleicht interessant sein.«

»Und war es so?«, fragte aufblickend eine andere gespenstische Erscheinung, der es wahrscheinlich leidtat, des Doktors Gastfreundschaft in Anspruch genommen zu haben, ohne vorher auch noch dieses neue Experiment zu versuchen. »War es interessant?«

»Nicht im Geringsten«, antwortete zur sichtbaren Genugtuung der des Fragenden der Baron mit halb erloschener Stimme. »Es war unmöglich, vorwärts zu kommen. Man sah nichts als dichten, undurchdringlichen Nebel. Die Pferde verloren jede Spur und mussten geführt werden; kurz, es war eine Partie, die einen Mann zum Selbst …«

»Erlauben sie mir, Ihnen diesen Salm zu empfehlen, mein Koch besitzt eine besondere Force darin«, rief der Doktor mit lauter Stimme.

Der Baron war auf ein gefährliches Terrain geraten und die Notwendigkeit gebot, ihn zu unterbrechen. Doktor Bertrand wusste aus Erfahrung, wie schwer es hielt, bei seinen Gastmählern das soeben beinahe ausgesprochene entsetzliche Wort aus der Unterhaltung zu verbannen. Jeder bestrebte sich, es fern zu halten und immer war es da, man wusste nicht wie.

»Ich bin heute den ganzen Tag im Louvre gewesen«, sagte ein kleiner Mann mit grünem Teint und sich jeder Beschreibung entziehenden Gesichtszügen. Es war ein Herr, der es schon mit verschiedenen Todesarten versucht hatte und noch durch keine zum ersehnten Ziel gelangt war. Er hatte sich schon zweimal erhängt, war beide Male wieder abgeschnitten worden. Bei einem dritten Versuch war ihm der Strick gerissen. Er hatte sich ins Wasser gestürzt und war von einem vorübergehenden Freunde gerettet worden, den er von da an als seinen bittersten Feind hasste. Er machte darauf das Experiment des Erstickens durch Kohledampf, vergaß aber unglücklicherweise, das Schlüsselloch zu verstopfen, und stürzte sich endlich aus dem Fenster, nur um im entscheidenden Augenblick von einem vorüberfahrenden Düngerkarren aufgefangen zu werden. »Ich brachte den Tag im Louvre zu«, wiederholte der Unglückliche, der nicht leben wollte und nicht sterben konnte, »die Bilder sahen bei dem Nebel schrecklich aus.«

»Alle Wetter«, sagte der Herr, der vorher schon bedauert hatte, die Nebelfahrt im Bois de Boulogne nicht gemacht zu haben und der alles im allem doch etwas vorschnell zu Doktor Bertrand gekommen zu sein schien. »Das hätte ich sehen mögen, wirklich, das hätte ich gern gesehen. Ob der Nebel wohl noch …«

Er war im Begriff, morgen zu sagen. Der Doktor kam diesem kritischen Moment zuvor, indem er die Champagnerpfropfen knallen ließ. Selbst in dieser Gesellschaft tat der Schaumtrank seine Wirkung, indem er das Gespräch heiterer und freier kreisen ließ.

»Dieser Kapaun«, sagte der Doktor, »ist ein Gericht, auf das wir uns in meinem Haus etwas einbilden.« Es war sonderbar, dass die Gäste des Doktors geneigt waren, den von ihm am meisten empfohlenen Schüsseln am wenigsten zuzusprechen. Sie wussten, weshalb sie hier waren und hatten sich mit ihrem Schicksal vertraut gemacht, aber in diesen Anspielungen lag doch etwas gar zu Heimtückisches. Der Doktor ließ sich davon indessen nicht anfechten. Er hatte genug solcher Feste gegeben, um beobachten zu können, dass, und wie diese Scheu sich regelmäßig zeigte und so wandte er die Taktik des Lebens und Empfehlens so geschickt an, dass er gewiss sein durfte, den Gerichten den Weg zu bahnen, von denen er seine Gäste essen lassen wollte. Die nächste Schüssel war ein Curry à la Anglaise, ein Gericht, welches damals selbst in England noch etwas Neues, in Frankreich aber beinahe unbekannt war. Der Doktor hob lächelnd das Champagnerglas an die Lippen und sagte: »Diese englischen Currys reizen den Appetit.«

»Appetitreizende Gerichte bekommen mir nicht«, sagte ein kleiner, am äußersten Ende der Tafel sitzender Mann, der bis dahin noch nicht gesprochen hatte, und aß kein Curry mehr.

Alfred de Clerval war trotz seines Grams doch so lebhaft von dem, was um ihn vorging, in Anspruch genommen, dass er einige der bevorzugten Schüsseln des Doktors an sich vorübergehen ließ. Außerdem hatte er sich auch in eine besondere Unterhaltung mit einem seiner Nachbarn eingelassen. Zu seiner Linken saß der Kaufmann, dessen Ruin am nächsten Tag die Stadt in Aufregung und Schrecken setzen sollte, und der als echter Lebemann nach den Augenblick benutzte und des Doktors Speisen und Weinen mit entsetzlichem Appetit zusprach. An Alfreds rechter Seite hatte ein Herr Platz genommen, den der junge Mann erst in dem Augenblick, wo man sich zu Tisch setzte, bemerkt hatte, dessen ganze Erscheinung ihm aber ein lebhaftes Interesse einflößte. Sie sprachen zuerst von gleichgültigen Sachen, tauschten Bemerkungen über ihre Umgebung aus und wurden bald vertrauter miteinander. Wenn der Becher kreist und der Wein die Zunge löst, pflegt man nicht sehr förmlich mit dem Bekanntschaft machen zu sein, am allerwenigsten haben aber Leute einen Grund dazu, deren Lebensdauer höchst wahrscheinlich nur noch nach Stunden zählt. So sprachen denn auch die beiden so offen, als ob sie sich nicht seit einer Stunde, sondern seit Jahren gekannt hätten.

»Sie sind noch ein junger Mann, viel zu jung, um schon bei Doktor Bertrand zu speisen«, sagte der Fremde nach einer Pause, während welcher er Alfred forschend betrachtet hatte.

»Die Gastfreundschaft des Doktors mag meines Erachtens unter gewissen Umständen wohl jedem Alter wünschenswert sein können«, erwiderte Alfred, »und beiden Geschlechtern, möchte ich hinzufügen. Wie mag es wohl kommen, dass sich unter des Doktors Gästen keine Damen befinden?«

»Ich vermute, er will sie nicht haben«, versetzte der andere mit Bitterkeit, »und er hat recht! Sie würden mitten in der Mahlzeit hysterische Krämpfe bekommen und das ganze wohlgetroffene Arrangement stören, wie sie ja jedes System stören, von dem sie einen Teil bilden. Die Welt selbst gerät durch sie in Unordnung.«

Nur zu wahr!, dachte Alfred. Dieser Mann hat gleich mir gelitten, weil er Tor genug war, sein Lebensglück einer Frau anzuvertrauen.

De Clerval konnte sich nicht enthalten, dabei einen verstohlenen Blick auf seinen Nachbarn zu richten. Er war bedeutend älter als er, sehr groß und von jener Langsamkeit der Bewegungen, die besonders großen Figuren zuweilen eigen ist. Sein Gesicht hatte sehr tiefe Linien und Falten, welche mehr ein wild bewegtes Leben, als das Alter gegraben zu haben schien, aber es hatte einen milden, menschenfreundlichen Ausdruck und zeigte, wenn es auch abgespannt und vielleicht indolent erschien, doch durchaus keine eigentliche Blasiertheit. Er sah aus, wie ein Mensch, der gut ist, jedoch mehr aus Instinkt als aus freiem, auf Grundsätzen beruhenden Willen. Es waren hier vortreffliche Anlagen eine großmütige, ehrenhafte Natur, aber dem Mann fehlte Kompass und Steuerruder, das Schiff zu lenken und so war es denn, vom Sturm erfasst, an diese Klippe geworfen worden.

Man hätte denken sollen, in der eigentümlichen Lage, in welcher sich die Gäste des Doktor Bertrand befanden, hätte keiner Lust und Muße gehabt, sich mit etwas außer sich zu beschäftigen. Es war dies auch wohl bei den meisten der Anwesenden der Fall. Alfreds Nachbar machte jedoch davon eine Ausnahme. Seine Augen wanderten zu wiederholten Mal rings um die Tafel und seine Gedanken beschäftigten sich lebhaft mit der Frage, für welches Leid wohl jeder Einzelne von Doktor Bertrands Patienten hier Heilung suche.

»Es müsste interessant sein, wenn jeder der hier Anwesenden seine Lebensgeschichte erzählte«, sagte er endlich an Alfred. »Da sitzt uns ein Herr gegenüber, der hat noch keine Silbe gesprochen. Sehen Sie, jetzt schreibt er ganz verstohlen etwas in ein Taschenbuch. Es sind vielleicht Worte an jemand, der morgen traurig sein wird, wenn er hört, was geschehen ist. Was in aller Welt mag den hierhergebracht haben? Man hätte eher denken sollen, der wäre irgendwo in einem Winkel allein gestorben. Vielleicht hat es ihm dazu an Mut gefehlt. Jener Mann dort an der anderen Ecke ist augenscheinlich durch körperliche Leiden aufgerieben worden. Vielleicht hat er ein unheilbares, langwieriges Übel, das er nicht länger ertragen kann – oder will. Auch von ihm hätte man eher erwarten sollen, dass er zu Hause geblieben wäre. Mir scheinen aber alle den Tod in der Einsamkeit zu fürchten und der Doktor, das muss man ihm lassen, weiß die Sache sehr gut zu arrangieren! Hören Sie, da gibt es eine neue Überraschung für uns.«

Doktor Bertrand war ein energischer Mann und niemals verlegen um Mittel, die seinen Zwecken entsprachen. In Rücksicht auf den melancholischen Nebel hatte er nicht nur die Fontänen verstopfen und die Vorhänge über dem Eingang zum Gewächshaus schließen lassen, er war auch darauf bedacht gewesen, noch in anderer Weise die Stimmung seiner Geiste zu erhöhen und seinem Festmahl einen neuen Reiz zu verleihen. Er hatte hinter dem Vorhang ein Musikkorps aufgestellt und zwar nicht etwa gewöhnliche Musiker, sondern auserlesene Künstler, da er sehr wohl wusste, dass die Musik, wenn sie nicht mit äußerstem Takt und der größten Geschicklichkeit ausgeführt werde, leicht gerade die entgegengesetzte Wirkung haben und die Gäste eher traurig, als fröhlich stimmen könnte. Seine Wahl war eine vortreffliche gewesen und die Künstler entledigten sich ihrer Aufgabe mit solcher Meisterschaft, dass der Eindruck auf die Zuhörer ein außerordentlich angenehmer war.

»Wie gut der Mann sein Geschäft versteht«, bemerkte Alfred gegenüber seinem Nachbarn, »er ist wirklich groß in seiner Art.«

Die Musik war ein von Doktor Bertrand noch nicht versuchtes Experiment und er beobachtete aufmerksam die Wirkung desselben.

Es gibt wohl nichts auf der Welt, was je nach den Umständen, unter denen es auf uns wirkt, einen verschiedeneren Eindruck hervorbringt, wie die Musik. Sie vermag uns sowohl zur größten Lust als auch zum tiefsten Schmerz zu bewegen, unser Herz in süßer Freude erzittern und in banger Wehmut schmelzen zu lassen. In dem vorliegenden Fall, wo der unaufhörlich kreisende Becher, der Glanz der Kerzen und das lebhafte Gespräch schon gehörig vorgearbeitet hatten, gelang es der Musik, die Heiterkeit zu ihrem höchsten Gipfel zu steigen, umso mehr, da sie, wie schon bemerkt, der Gelegenheit völlig angepasst war. Man vernahm keine sanften, rührenden Weisen, sondern es erklangen rauschende, brillante Tonstücke, welche das Blut leicht durch die Adern hüpfen lassen und die Nerven weit eher aufregen, als beruhigen.

De Clerval und sein Nachbar schwiegen eine kurze Zeit, teils weil sie der Musik lauschten, teils weil es schwierig geworden war, einander zu verstehen. Der Wein hatte seine Schuldigkeit getan und die anfänglich gefesselten Zungen gelöst; des Doktors Gäste waren jetzt sehr laut. Und was für Geräusche waren das! Enthüllungen vom Spieltisch und den nächtlichen Gelagen. Der grässliche Unglaube, der schauerliche Materialismus der Zeit gab sich kund durch diese Zungen, die seit den Tagen der frühesten Kindheit kein Wort des Gebetes mehr gesprochen hatten.

Plötzlich wurde die Aufmerksamkeit der beiden Nachbarn auf einen aus der ihnen gegenüber befindlichen Seite des Tisches statthabenden Vorfall gelenkt.

Hinter dem Stuhl des Doktors stand ein Mann von mittleren Jahren, dessen Amt es war, unveränderlich an diesem Platz zu verharren, ein wachsames Auge auf sämtliche Gäste zu haben und sobald es ihm schien, als sei mit irgendeinem derselben nicht alles in Ordnung, seinen Herrn sofort darauf aufmerksam zu machen und die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Die Berechnungen des Doktors erwiesen sich im Allgemeinen als außerordentlich genau und zutreffend. Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, dass ihm hin und wieder doch durch eine ganz unvorhergesehene Eigentümlichkeit in der Konstitution eines oder des anderen seiner Patienten ein Streich gespielt wurde oder dass zuweilen einige Gerichte unmittelbar hintereinander verzehrt wurden, die nach des Doktors Absicht hatten allmählich wirken sollen. In einem Wort, es kamen gelegentlich unangenehme Dinge vor, sodass die Gegenwart eines solchen speziellen Aufsehers dringend geboten war.

Mit einem Mal beugte sich dieser Vertraute zu seinem Herrn und lenkte dessen Aufmerksamkeit auf einen der Gäste, dessen Figur und Gesicht eine gewisse eigentümliche Starrheit angenommen hatten. Messer und Gabel waren seinen Händen entsunken, er saß ganz steif in seinem Stuhl, blickte mit verglasten Augen vor sich hin und ließ den Unterkiefer hängen. Der Doktor sah mit einem Blick was vorging.

»Zum Henker auch«, rief er, »manche Konstitutionen sind doch auch gar zu trügerisch, man weiß niemals, wie man mit ihnen daran ist. Hier ist keine Minute zu verlieren; rufe die anderen und bringe ihn fort. Der Mensch ist epileptisch; mach schnell.«

Der Vertraute verschwand und kehrte im nächsten Augenblick in Begleitung von vier sich geräuschlos vorwärts bewegenden Dienern zurück, die sich schleunig dem verdächtig aussehenden Gaste näherten. Dieser begann sehr laut zu schreien, seine Züge verzerrten sich in scheußlicher Weise und Schaum trat ihm vor den Mund!

»O, mein Leben!«, tobte er. »Mein verlorenes Leben! Gib es mir zurück … ich muss es haben … es war nur ein Darlehen … ein Darlehen! Ich habe es vergeudet! Ich will es wieder haben! Nur ein klein wenig davon, nur etwas! Ach, das ist der Mann!«

Der Doktor war ihm nahe getreten und der Rasende machte einen wütenden Versuch, sich auf ihn zu werfen.

»Dieser Mann hat mir mein Leben genommen, mein übel angewandtes Leben … es verlässt mich … verlässt mich auf sein Geheiß … mein Leben … mein verlorenes …«

Der Unglückliche verlor Sprache und Besinnung und die vier Diener trugen ihn fort. In dem Augenblick aber, als sie die Schwelle mit ihm überschritten, ermannte er sich, wahrscheinlich infolge der Luftveränderung, noch einmal und schrie laut nach seiner Jugend, seiner verlorenen Jugend, die er besser anwenden wolle, wenn sie ihm zurückgegeben würde.

Das Geschrei tönte noch eine Zeitlang durch das Haus, so sorgfältig dasselbe auch gegen unliebsame Echo sonst verwahrt war. Der Auftritt war markerschütternd und brachte einen entsetzlichen Eindruck auf sämtliche andere Gäste hervor. Es erfolgte ein wahrer Höllenlärm, von allen Seiten drang man mit den schärfsten Vorwürfen auf den Doktor ein. Was sollte das heißen? Er war ein Betrüger. Er hatte sie unter falschen Vorspielungen hierher gelockt. Sie waren in dem guten Glauben gewesen, in diesem Etablissement geschehe alles mit Anstand, mit gebührender Schonung für das Gefühl der Gäste, in einer feinen, vornehmen Weise. Und nun sahen sie sich im Gegenteil zu Zeugen einer über alle Beschreibung entsetzlichen, empörenden Szene gemacht, einer Szene, die in einem Hospital vorkommen könne, aber nicht hier!

Der Doktor ließ den Sturm ruhig über sich ergehen. Er wäre, sagte er, unaussprechlich, tief unglücklich über den Vorfall, so etwas geschehe selten – wirklich sehr selten. Es kämen aber Konstitutionen vor, bei denen jede Bewachung sich als trügerisch erweise, Leute, die nicht wüssten, wie man zu leben und wie man zu … Er könne mit einem Wort nur sein lebhaftes Bedauern über das Vorgefallene ausdrücken. Dann bat er die Gäste, ihm die Ehre zu erweisen und die frisch aufgesetzten Weinsorten zu kosten. Es sei Lafitte, und zwar von einem sehr berühmten Jahrgang. Um seiner Einladung mehr Nachdruck zu verleihen, füllte der Doktor ein großes Kelchglas und leerte es auf einen Zug. Sein Beispiel fand Nachahmung bei den ohnehin halb betrunkenen Tischgenossen und bald war das Stimmengewirr und Gläserklingen lauter und betäubender als vorher.

»Bemerkst du, was der Herr, der uns soeben den Auftritt bereitete, gegessen hat?«, fragte Doktor Bertrand sein Faktotum.

»Durch einen unglücklichen Zufall genoss er hintereinander von drei oder vier Ihrer am stärksten gewürzten Schüsseln. Ich dachte mir – doch nein, mir kommen dergleichen Bemerkungen nicht zu …«

»Doch, doch, sprich nur. Was dachtest du?«

»Ich dachte, Herr Doktor, ob es wohl ganz richtig sein möchte, drei so kräftige Schüsseln schnell hintereinander zu geben?«

»Sehr wahr, sehr wahr«, flüsterte der Doktor. »Ich werde mir den Fall notieren.«

Während dieses Gesprächs zwischen dem Doktor und seinem würdigen Helfer und gelehrigen Schüler stattfand, hatte sich auch wieder eine Unterhaltung zwischen Alfred de Clerval und seinem Nachbar entsponnen! Der Fremde hatte, so seltsam dies auch in einer solchen Situation erscheinen mag, ein Interesse für den jungen Mann gefasst und kam auf seine schon früher gemachte Bemerkung zurück, dass er das Speisezimmer des Doktor Bertrand für keinen angemessenen Aufenthalt für ihn halte.

»Wenn ich zu jung bin, um hier zu sein, sollten Sie, der Sie in reiferen Jahren stehen, nicht zu weise dazu sein?«, erwiderte Alfred.

»Nein«, versetzte der andere, »ich habe das, was ich tue, lange und reiflich bei mir erwogen. Nach vielen fehlgeschlagenen, vielen durch meine Schuld vernichteten Hoffnungen, hatte ich noch eine Aussicht auf Glück. Ich habe auch diese jetzt verloren, gänzlich unwiederbringlich verloren. Es gibt nichts, was mir noch eine Befriedigung bieten könnte. Die Welt ist nutzlos für mich, ich bin nutzlos für die Welt.«

Es entstand eine Pause. De Clerval mochte fühlen, das auf derartige Eröffnungen es keine Antwort gäbe, vielleicht auch einsehen, wie wenig es ihm zustehe, gegen eine Handlungsweise zu sprechen, in deren Verfolgung er selbst begriffen war. Er schwieg deshalb, obwohl ihm eine ganze Reihe von Widerlegungen auf die Lippen trat.

Der Fremde nahm wieder das Wort: »Es geht uns zuweilen ganz sonderbar mit Verwandten. wir verlieren sie eine Zeit lang, oft sogar eine recht lange Zeit aus den Augen. Irgendein Zufall bringt uns wieder in Berührung mit ihnen und der Verkehr wird nun ein lebhafter und vertraulicher. So war es mit mir und meiner Cousine. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen, denn ich war größtenteils fern von Paris, in Russland, Österreich und anderen Ländern in Verfolgung der diplomatischen Karriere. In den wilden Ausschweifungen, zu denen sich an den verschiedenen Höfen, bei denen ich attachiert war, nur zu viel Gelegenheit fand, war ich einer der Ausschweifendsten und ich hielt mich, als ich endlich vor Kurzem nach Paris zurückkehrte, für einen total verlebten Menschen, der keines wahren Gefühls mehr fähig sei. Aber ich hatte mich getäuscht.«

»Es gibt keine Täuschung, der sich Männer leichter hingeben als eben diese«, bemerkte Alfred.

»Bei mir war es wenigstens so«, fuhr der Fremde fort. »Wie gesagt, ich begegnete meiner Cousine, die ich mehrere Jahre nicht gesehen hatte, wieder und fand in ihr so unwiderstehliche Eigenschaften, etwas so ganz anderes, als ich bisher in der Welt kennen gelernt hatte, eine solche Frische und Wahrheit …«

»Es gibt noch solche Frauen auf Erden«, unterbrach ihn Alfred.

»Mit einem Wort«, erzählte der andere, ohne die Unterbrechung zu beachten, weiter, »ich kam zu der Überzeugung, dass ich noch ein neues, glückliches Leben beginnen könne, sofern sie sich entschlösse, ihr Geschick an das meine zu knüpfen. Ich glaubte, es werde mir gelingen, den alten Adam abzulegen und einen neuen Menschen anzuziehen. Ich träumte einen schönen Traum von einem neuen, einem besseren Leben, in welchem sie mein Schutzengel, meine Führerin sein sollte auf einem Weg, den sie weit besser kannte als ich! Ich entschloss mich, den Wurf zu wagen, von dem für mich Leben oder Tod abhing. Gestern ist der Würfel gefallen – und ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen – Sie sehen mich hier.«

Alfred schwieg. Ein eigentümliches Gefühl des Mitleids für diesen Mann bemächtigte sich seiner. Trotz seines eigenen Leides entdeckte er noch einen Winkel in seinem Herzen, wo die Teilnahme für den Nächsten nicht erstorben schien.

»Bei der gestern zwischen uns stattgefundenen letzten Unterredung presste ich die Wahrheit aus ihr heraus«, fuhr der Fremde fort. »Es hielt schwer, denn Therese ist eine zurückhaltende, keusch verschwiegene Natur, die ihr Innerstes nicht leicht jemanden kundgibt. Es mag dies vielleicht ein Fehler sein, wie auch ihr Stolz, die Hauptsünde derer, die noch nie gefallen, ein Fehler ist.«

Von dem Augenblick an, wo der Name Therese genannt wurde, gewann die Erzählung ein ganz anderer Interesse für Alfred und er folgte jedem Worte mit gespannter, fieberhafter Aufregung.

»Ich brachte sie zum Sprechen und ich glaubte, sie sah auch die Notwendigkeit ein, offen gegen mich zu sein, weil es ihr daran lag, mich jeder Täuschung zu entreißen und mich mitleidsvoll vor einer Hoffnung zu bewahren, die mir nie verwirklicht werden konnte. Ich beschwor sie im Namen des Himmels, mir die Wahrheit zu sagen, ob es jemand auf Erden gebe, der glücklicher als ich in ihrem Herzen bereits den Platz ausfüllte, den ich mir zu erringen suchte. Sie zögerte, aber ich drang immer stärker in sie und endlich gab sie nach. Ja, es gibt einen Mann, dem ihr Herz für ewig gehört. Ich begnügte mich damit nicht, ich wollte mehr wissen, seinen Namen, seine Stellung, und ich erfuhr alles, die Geschichte ihrer Liebe, den Namen meines Nebenbuhlers.«

»Und wie heißt er?«, fragte Alfred mit einer Stimme, die ihm wie die eines anderen erschien.

»Alfred de Clerval.«

Alfred sprang auf und warf einen schnellen Blick auf den Doktor. »Sie liebt mich«, ächzte er, »und ich bin hier!«

Alfreds heftige Bewegung hatte die ganze Tischgesellschaft aufmerksam gemacht. »Wieder einer«, hieß es von mehreren Seiten. »Wieder einer, der sich nicht zu benehmen weiß, uns mit seinem Geschrei wahnsinnig macht und hier vor unseren Augen stirbt.«

»Nein, nein!«, schrie Alfred. »nein, nein, nicht sterben, sondern leben! Ich muss leben! Alles hat sich geändert, ich flehe Sie an, Doktor retten Sie mich!«

»Wie meinen Sie das?«, flüsterte der Fremde, dessen Erzählung diesen Wechsel hervorgebracht hatte. Wieso ist alles verändert, ist es durch meine Mittheilung?«

Der Lärm war so groß, dass Alfred nicht sogleich zu antworten vermochte. Die rings um den Tisch versammelten, durch eigenen Spruch verurteilten Todeskandidaten schienen von furchtbarem Neid erfasst, bei dem Gedanken, dass einer seinem Geschick noch entgehen könne. Selbst des Doktors Versuche, die Ruhe wiederherzustellen, waren fruchtlos.

»Ein Renegat, ein Feigling!«, brüllten die Gäste. »Er fürchtet sich. Er hätte sich das vorher überlegen sollen! Wozu ist der Betrüger hierhergekommen, wenn er nicht aushalten will!«

»Halt, meine Herren!«, rief Alfred mit einer Stimme, welche die Gläser erzittern machte, »ich bin weder ein Feigling noch ein Renegat. Ich kam hierher zu sterben, weil ich zu sterben wünschte. Und jetzt wünschte ich zu leben – nicht aus Furcht oder Laune, sondern weil die Umstände, welche mich den Tod aufsuchen ließen, sich völlig geändert haben, weil ich in diesem Zimmer, an diesem Tisch, von diesem Herrn erfahren habe, in welchem Irrtum ich befangen gewesen bin.«

»Sagen Sie mir«, fragte der Fremde, Alfreds Arm ergreifend, »was geht Sie meine Geschichte an? Sind Sie etwa …«

»Herr Vicomte de Noel«, unterbrach ihn der Angeredete, »ich bin Alfred de Clerval und die Gefühle, die Sie mir erzählten, betraf Therese de Farelles. Urteilen Sie jetzt, wie sehr viel mir am Leben liegen muss.«

Das Gesicht des Vicomte wurde von entsetzlichen Konvulsionen verzerrt; er sank leblos in seinem Stuhl zurück.

Der Tumult der übrigen Gäste wurde inzwischen immer stärker.

»Wir lassen nichts, gar nichts als einen Entschuldigungsgrund gelten, dem Tod die Treue brechen«, schrie der eine. »Wir sind Eidgenossen, die alle hierher kommen, um uns in guter Kameradschaft zu ihm zu bekennen. Hurra, für den Tod! Hier ist ein Mensch, der unserer Religion abwendig werden will. Er ist Renegat, ich wiederhole es, und welches Los verdienen Renegaten?«

»Folgen Sie mir, ohne eine Minute zu zögern«, flüsterte eine Stimme Alfred ins Ohr. »Sie sind in der größten Gefahr.«

Es war das Faktotum des Doktors. Alfred wandte sich um und wollte der Aufforderung Folge leisten, aber er besann sich, beugte sich schnell nieder und flüsterte de Noel zu: »Um Gottes willen, opfern Sie Ihr nicht in dieser entsetzlichen Weise. Folgen Sie mir, ich beschwöre Sie!«

»Zu spät! Es ist vorbei!«, keuchte der Sterbende. Er schien noch einige vergebliche Versuche zu machen, um mehr zu sagen, dann breitete er die Arme auf dem Tisch aus und ließ den Kopf schwer darauf niederlassen.

»Noch eine Minute und es ist für Sie zu spät«, sagte des Doktors Diener, indem er Alfred ergriff. Als der junge Mann durch eine von dem Diener geöffnete Seitentür schritt, entstand eine so drohende Bewegung unter den Zurückbleibenden, dass Alfred wohl merkte, wie er nur mit knapper Not davongekommen sei. Sein Begleiter verschloss und verriegelte jedoch noch rechtzeitig die Tür, sodass die halb verbitterten und halb trunkenen Elenden ihr wahnsinniges Vorhaben nicht ausführen konnten.

Nun, wo die Aufregung vorüber war, empfand Alfred eine ganz eigentümliche Schwäche und Müdigkeit und er sank derselben nachgebend, auf ein Sofa, in dem er mechanisch seinen Weg gefunden hatte. Es war ein großes Zimmer, in dem er sich befand, nur schwach erhellt von einer einzigen, von einem Schirm beschatteten Lampe, die auf einem großen, beinahe eine ganze Wand des Zimmers einnehmenden, mit Papieren, Flaschen, chirurgischen Instrumenten und dergleichen bedeckenden Schreibtisch stand. Auch die übrigen im Zimmer befindlichen Gerätschaften kennzeichneten es als das Studierzimmer des Doktors, während sich ein anstoßendes Gemach, in das man durch die offenstehende Tür blickte, durch Ofen, Schmelztiegel, Retorten und Chemikalien als das Laboratorium erwies.

»Der Doktor wird gleich hier sein«, sagte das Faktotum zu Alfred, indem er demselben ein Glas reichte, das er schnell mit einer Flüssigkeit gefüllt hatte. »Inzwischen befahl er mir, Ihnen diesen Trank zu geben.«

De Clerval stürzte schnell die Mixtur hinunter und der Diener, dessen Tätigkeit unzweifelhaft auch im Speisesaal sehr notwendig war, verließ ihn, nachdem er ihm vorher noch eingeschärft hatte, alles aufzubieten, um sich wach zu halten.

Um dieser Anordnung nachzukommen und die sich seiner bemächtigende ganz ungewohnte Müdigkeit abzuschütteln, hielt es Alfred für das Beste, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er war schon nicht mehr Herr seiner Sinne. Bald blieb er, ohne es zu wissen, mitten im Zimmer stehen, dann raffte er sich plötzlich mit einer heftigen Anstrengung auf, da er fühlte, dass er das Gleichgewicht verlor. Einmal fiel er sogar zu Boden, aber er sprang wieder auf, wohl wissend, dass sein Leben nun von seiner Willenskraft abhänge. Er stellte sich geistigen Aufgaben, prüfte sein Gedächtnis, versuchte sich zu vergewissern, ob er noch im Besitz seiner Denkkraft sei, indem er sich vergegenwärtigte, wo er sei, was ihn hierher gebracht habe usw. »Ich bin in Doktor … Doktor … Studierzimmer«, sagte er laut, »ich kenne alles, was mich umgibt … ich warte hier … ich warte hier … auf wen warte ich denn? … auf Doktor …« Trotz aller Aufregung schwanden ihm die Sinne, s dass er den Eintritt des Doktors nicht eher bemerkte, als dieser dicht vor ihm stand. Der Anblick desselben ermunterte ihn wieder.

»Doktor, können Sie mich retten?«

»Zuerst muss ich eine Frage an Sie richten«, erwidert der Doktor. »Sie betrifft eine der heute bei Tische servierten Gerichte. Besinnen Sie sich, haben Sie von dem Curry à l’Anglaise gegessen?«

De Clerval schwieg einige Augenblicke und machte verzweifelte Anstrengungen, seine verwirrten Geisteskräfte zu sammeln. Endlich erinnerte er sich eines Umstandes, der ihn auf die Spur half.

»Nein, ich habe nicht davon gegessen. Ich erinnere mich, dass ich es vorübergehen ließ, indem ich dachte, ein englisches Gericht könnte doch in Frankreich nicht gut zubereitet werden.«

»Dann«, sagte Doktor Bertrand, »habe ich die beste Hoffnung für Sie. Folgen Sie mir in jenes Zimmer.«

Lange Zeit schwebte Alfred in der größten Lebensgefahr. Obwohl er nicht von dem einem Gericht genossen, dessen zerstörender Wirkung Doktor Bertrand kein Mittel entgegenzusetzen gewusst hätte, um seine Wiederherstellung mehr als zweifelhaft erscheinen zu lassen. Höchst wahrscheinlich wäre niemand als derjenige, welcher ihm die Mittel zum Selbstmord geliefert hatte, imstande gewesen, ihn das Leben wiederzugeben. Doktor Bertrand dagegen wusste, was nicht immer bei Ärzten der Fall ist, wo es bei seinem Patienten fehlte. Außerdem verstand er sich vortrefflich auf die in diesem Fall anzuwendenden Heilmittel. Nach einer längeren Krankheit und einer sehr langsam fortschreitenden Genesung sah sich Alfred de Clerval endlich soweit wieder hergestellt, um von dem ihm grauenhaft gewordene Doktor Bertrand für immer Abschied nehmen und von den Enthüllungen des unglücklichen Vicomte de Noel Vorteil ziehen können.

Mademoiselle de Farelles verzieh das Verbrechen, das ihr Geliebter beinahe begangen hätte, in Erwägung, dass es ja nur die Liebe zu ihr gewesen war, welche ihn zum Selbstmord trieb.

Es ist, wie meine Leser wohl vermuten werden, Alfred de Clerval selbst, dem ich die in diesen Blättern enthaltenen Mitteilungen verdanke, denn er ist unter allen, welche je an Doktor Bertrands Tisch gespeist haben, der Einzige, der eine Beschreibung dieses Gastmahls zu liefern vermochte.

Den würdigen Doktor ereilte indessen doch trotz aller Vorsicht bald die rächende Hand der Gerechtigkeit. Die Behörden erhielten Kunde von den Künsten, vermittelst welcher er so schnell ein großes Vermögen angehäuft hatte. Man erachtete es an maßgebender Stelle für die Gesundheit des Doktors als ersprießlich, ihm für seine noch übrige Lebenszeit einen Aufenthalt in der Gegend von Cayenne anzuweisen, wo er, wenn es ihm sonst beliebte, denjenigen Verurteilten, die das Gouvernement am leichtesten missen konnte, splendide Gastmähler geben mochte.

Ende