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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 36

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Einhornhöhle

Die Einhornhöhle, früher Zwergloch genannt, ist wohl die größte Höhle des Harzes. Sie hat ihren Namen dem Umstand zu danken, dass Forscher behaupteten, Hörner und Knochen des fabelhaften Einhorns in ihr entdeckt zu haben; gibt doch Leibniz in seiner Protogäa sogar die Abbildung eines in der Höhle gefundenen Einhornskeletts. In Wirklichkeit aber waren das freilich Knochen des antediluvianischen Höhlenbären, welche man dort gefunden hatte. Übrigens ist die Einhornhöhle, wenn auch nicht sagenumwoben wie zum Beispiel das Weingartenloch, so doch durch die vielen Funde eine der interessantesten Höhlen des Harzes. Sie liegt in der Zechsteinformation am Südrand auf der schön bewaldeten Schneie.

Vom Bahnhof Scharzfels ist der Eingang zur Höhle bald erreicht, und der Wirt des Hotels Scharzfels ist gern bereit, den Reisenden seinen Burschen als Führer mitzugeben. Denn erst das helle Licht der von diesem abgebrannten bengalischen Flammen gibt dem Besucher einen Begriff von der ungeheuren Ausdehnung der Räume, in denen er sich befindet. Steinerne Stufen führen zur Tiefe hinab, welche in der Vorhalle noch durch Tageslicht erhellt wird, da infolge eines Deckeneinsturzes eine große Spalte entstanden ist. Weiter rechts befindet sich ein prächtiges Seitengewölbe, die Kapelle, indessen wir durch den Hauptgang der Höhle in die großartige, einem Dom gleichende Leibnizhalle gelangen. Nun heißt es Vorsicht, denn nur in gebückter Stellung können wir durch den engen und feuchten Bärengang in die bekannte Schillergrotte kommen, wo eine eiserne Gedenktafel zur Erinnerung an den hier gefeierten hundertjährigen Geburtstag des Dichters in die Wand eingelassen ist. Nun sind noch die Wolfskammer und die sich weit ausdehnende Carlsgrotte zu besuchen; aber das ist mit so vielen Schwierigkeiten verknüpft, dass sich eigentlich nur Forscher dazu verstehen.

Häufig sind hier Nachgrabungen angestellt worden, die eine Menge Interessantes zutage förderten. Die reichste Ausbeute gewährte die im Jahr 1881 von Herrn Struckmann unternommene Untersuchung, die er mithilfe von Bergleuten aus Lauterberg ausführte.

Schon vor zweihundert Jahren war die Höhle wegen der darin vergrabenen fossilen Tierknochen berühmt. Behrens erzählt in seinem Kuriosen Harzwald, dass sein Vater, der Ratsapotheker in Nordhausen war, einen schwunghaften Handel damit betrieben hatte, da dieselben als ein begehrtes Arzneimittel durch ganz Deutschland und bis nach Italien gehandelt wurden.

Überall sind die Wände glatt und nur zuweilen finden sich, so zum Beispiel an verschiedenen Stellen der Decke, trichterförmige Vertiefungen, die mit den sogenannten Gletschertöpfen die größte Ähnlichkeit haben. Die nähere Erklärung dieser Erscheinung sowie die Ergebnisse der neuesten Ausgrabungen entnehmen wir dem hochinteressanten Werk Der Harz von F. Günther. Die sichtbaren Spuren der auswaschenden Wirkung des Wassers bei der hoch am Berg gelegenen Höhle lassen sich nur dadurch erklären, dass zu der Zeit, als der Südrand des Harzes, als der größte Teil unserer deutschen Mittelgebirge noch von Gletschern bedeckt war, das Schmelzwasser als tobender Gletscherbach durch die Höhle seinen Abzug nahm. Die bisherigen Ausgrabungen sind vorzugsweise in der Kapelle, in der Vorhalle, in der Schillergrotte und in der Wolfskammer vorgenommen worden. Der ganze Boden ist durch einen geblichen, mit Steinen vermengten Höhlenlehm bedeckt. In diesem Höhlenlehm befinden sich nun zahlreiche Knochen und andere Reste aus grauer Vorzeit. Die unteren Schichten desselben enthalten in allen Teilen der Höhle neben wenigen Knochen des Höhlentigers, ziemlich häufigen Resten des Wolfes, der Fischotter und des Dachses eine überaus große Menge von Bärenknochen, und zwar von der längst ausgestor­benen, sehr großen Art der Höhlenbären. Man findet jedoch nicht die ganzen Skelette, sondern meistens nur zerschlagene oder zerklopfte Knochen. Die größeren Röhrenknochen sind fast ohne Ausnahme gespalten und zersplittert. Dasselbe gilt von Schädeln, die nur in Bruchstücken neben zahlreichen vortrefflich erhaltenen Zähnen gefunden werden.

Die gleichförmige Beschaffenheit der Knochen lässt darauf schließen, dass ihr Zustand nicht eine Folge der Verwitterung, sondern dass dieselben absichtlich von Menschenhand zerschlagen wurden. Auch bezeugen Stückchen von Holzkohle und einige rohe Topfscherben die damalige Gegenwart des Menschen. Demnach sind die Tiere nicht in der Höhle gestorben, sondern fielen der Urbevölkerung dieser Gegend zur Beute, wurden hierher geschleppt, um bis auf die letzten Reste verspeist zu werden. Die Knochen wurden zerschlagen, um nur das Mark zu gewinnen, welches für einen besonderen Leckerbissen galt. Es lässt sich annehmen, dass die Einhornhöhle schon vor Tausenden von Jahren bewohnt war, also zu einer Zeit, als der Harz noch von Gletschern bedeckt war. Dies geht unter anderem daraus hervor, dass viele der zerschlagenen Knochen zugleich deutliche Spuren der Abrollung zeigen. Sie müssen daher vom Wasser fortbewegt worden sein, was nur geschehen konnte, als noch ein Gletscherbach durch die Höhle floss.

Über dem älteren Lehm wurde eine zweite, jüngere Kulturschicht entdeckt. Dies liefert wiederum den Beweis, dass die Höhle auch nach der Eiszeit bewohnt wurde.

In der Ablagerung dieser Periode sind ebenfalls die Knochen des Höhlenbären noch vor allen anderen überwiegend, daneben auch Reste des Wolfes und der Fischotter, jedoch auch des Wildschweines, des Hirsches und des Rehes, also echter Waldtiere, ein Anzeichen, dass das Eis von den Bergen gewichen war und sich die Gegend mit Wald bedeckt hatte. Von unseren Haustieren findet sich noch keine Spur. Die damaligen Bewohner waren also ein auf niedriger Kulturstufe stehendes Jägervolk, über welches alle geschichtlichen Aufschlüsse fehlen. Interessant ist es, dass in dieser Schicht primitive Topfscherben in großer Anzahl auftreten.

Endlich wurde noch eine dritte Kulturschicht aufgefunden, die sich schon äußerlich durch ihre dunkle, fast schwarze Farbe von den älteren Ablagerungen unterschied. Sie ist mit Asche und Holzkohle stark vermischt und macht den Eindruck einer Moderschicht. Die ganze Schicht war mit Knochenresten von wilden und gezähmten Tieren erfüllt, von denen viele deutliche Spuren künstlicher Bearbeitung zeigen. Außerdem wurden über vierhundert Topfscherben gefunden, die, nach ihrer Form zu urteilen, etwa fünfundneunzig verschiedenen Gefäßen angehört haben. Die an einigen Gefäßen vorhandenen Verzierungen sind sehr primitiver Art und meist mittels der Fingerspitzen oder -nägel eingedrückt. Viele der Scherben sind rauchgeschwärzt und haben offenbar als Kochgeschirr gedient. Aber auch Geräte und Schmucksachen, die desgleichen einer sehr frühen Kulturstufe angehören, sind aufgefunden, wie zum Beispiel ein Schleifstein, ein Steinhammer, ein Steinkeil und Perlen von Ton, Knochen und Bernstein, Pfriemen von Knochen und selbst Gegenstände aus Metall, wie eine Nadel und eine Spirale von Bronze sowie dergleichen mehr.

Der ganze Charakter der aufgefundenen Reste lässt nicht daran zweifeln, dass dieselben Abfälle des Haushaltes einer vorhistorischen Niederlassung bilden.

Als Herdstelle hat eine große Tropfsteinplatte gedient. Rings herum wurden die unbrauchbaren Reste der Mahlzeiten zusammen mit Asche und zerbrochenem Geschirr aufgehäuft. Durch eine sorgfältige Bestimmung der Knochenreste ist es sogar möglich gewesen, das ungefähre Verhältnis der verschiedenen Tierarten festzustellen, was zu hochinteressanten Ergebnissen führte und deutlich beweist, dass zwischen der zweiten und der dritten Kulturschicht große Veränderungen in der Fauna vor sich gegangen sind. Der Höhlenbär hat dem Braunären Platz gemacht, und neben den Jagdtieren finden sich zahlreiche Reste von Haustieren, ein Zeichen, dass die Bevölkerung nicht mehr allein auf den Ertrag der Jagd angewiesen, demnach in der Entwickelung bedeutend fortgeschritten war. Die Niederlassung in der Höhle war keine vorübergehende, sondern offenbar von langjähriger Dauer. Die meisten Reste weisen auf die sogenannte jüngere Steinzeit hin, jedoch lassen einige Gegenstände von Metall darauf schließen, dass die Einhornhöhle vielleicht noch in den ersten Jahrhunderten unserer christlichen Zeitrechnung bewohnt war. Ein ungelöstes Rätsel bleiben einstweilen noch die zwischen den Küchenabfällen zerstreuten menschlichen Gebeine. Einzelne Umstände legen den Verdacht nahe, dass die alten Bewohner, als dieses mit größter Wahrscheinlichkeit auch an einigen anderen Orten nachgewiesen ist, Kannibalen waren. Jedoch fehlen dafür einstweilen die sicheren Beweise.

Vielleicht wird die beabsichtigte Fortsetzung der Ausgrabungen auch über diesen Punkt noch weitere Aufklärung geben und die bisherigen Resultate, die bereits einen interessanten Beitrag zur Urgeschichte der Harzgegend geliefert haben, noch vervollständigen. Die Fundgegenstände sind dem Provinzial-Museum zu Hannover einverleibt.