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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aus dem Wigwam – Der König der Hirsche

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Der König der Hirsche

nter den Ottawäern am Großen Bibersee lebte einst ein junger Mann, den jeder für den Sohn des großen Manitu hielt. Sechzehn Jahre vor der Zeit, von welcher ich spreche, hatte man nämlich ein Knäblein, das kaum zwei Sommer alt sein konnte, gefunden, und von dem niemand wusste, woher es kam, noch wer seine Eltern waren. Dass das Kind nicht zum Stamm der Ottawäer gehörte, sah man seiner Gesichtsfarbe an. Auch waren seine Arme und Beine mit Schwimmhäuten versehen und sein Kopf glich dem eines Bibers. Dann hatte es sich auch die meisten Gebräuche jenes Tieres angeeignet.

Täglich ging der Knabe an den See und hielt sich mitunter einen halben Tag lang im Wasser auf. Fische zog er einer jeden anderen Speise vor. Zuweilen leckte er auch den Saft junger Weiden. So wuchs er allmählich zum Mann heran, ging aufrecht und sprach wie ein anderer Mensch, aber seine Gewohnheiten waren noch immer die eines Bibers. Er war sehr gutmütigen Charakters und von einem unermüdlichen Fleiß. Währenddessen die faulen Ottawäer schlafend in der Sonne lagen, trug er Feuerholz herbei oder flickte die Netze. Nie sang er ein Kriegslied, noch sehnte er sich nach Kriegsruhm. Sein Herz war das einer Frau, welcher der Friede über alles geht.

Da nun die Ottawäer glaubten, dass ihr Hauptgott Mischabo sein Vater sei, so ließen sie ihm sein unmännliches Wesen gern ohne Tadel hingehen und sagten ihm nur, er habe keine Aussichten, jemals Häuptling zu werden.

Nun bemerkten die Leute einst im siebzehnten Sommer, dass sich der Jüngling sehr häufig vom Dorf entfernte und auch seine Arbeiten, in denen früher seine einzige Freude bestanden hatte, vernachlässigte, niemand wusste, wohin er ging, noch was er eigentlich tat. Sobald die Sonne unterging, begab er sich zum Wald und blieb darin den größten Teil der Nacht. Die Greise fragten ihn mehrmals nach dem Grund dieser nächtlichen Wanderungen, aber er gab keine Antwort. Die jungen Mädchen versuchten durch Aufbietung ihrer ganzen Liebenswürdigkeit hinter sein Geheimnis zu kommen, doch gelang es ihnen ebenfalls nicht. Endlich fand es ein altes Weib heraus.

Auf einer großen Ebene, welche sich vom Ottawadorf zum Land der untergehenden Sonne hinzog, lebte ein Völkchen, mit dem die Ottawäer stets im besten Einvernehmen gestanden hatten. Jene Leute liefen auf vier Beinen, hatten sehr lange Köpfe mit weit ausgeschnittenen Mäulern und breiten Nasenlöchern. Auf dem Kopf trugen sie zwei mit vielen scharfen Zacken besetzte Hörner. Ihr Körper war mit hellgrauen und dunkelroten Haaren bedeckt.

Die Hirsche, so hießen nämlich die Nachbarn der Ottawäer, waren im Ganzen genommen ein sehr gutherziges Volk, aber wenn man sie ärgerte, so musste man sich so schnell als möglich aus dem Staub machen.

In das Land dieser Leute war also ein altes Weib dem Biberjüngling unbemerkt gefolgt und bis zum Versammlungsplatz der Hirsche gekommen. In der Mitte derselben stand ein wunderbarer Hirsch, welcher König zu sein schien und so groß war, dass die Übrigen gegen ihn aussahen wie Moskitos neben einem Büffel. Seine Hörner glichen breitästigen Eichenbäumen und seine Haut war so dick, dass der schärfste Pfeil nicht durchgedrungen wäre. Der König bemerkte das alte Weib bald, und einer seiner Diener fragte sie barsch: »Was willst du hier?«

»Ich bin dem Bibersohn gefolgt.«

»O, dann bist du wohl der Hochzeit wegen gekommen. Schade, dass du zu spät kommst.«

»Was? Wie? Wer hat sich hier verheiratet?«

»Wer? Ei, der Jüngling, den die Ottawäer den Sohn ihres Gottes und die Hirsche den Knaben mit dem Schweinsgesicht nennen, hat sich diese Nacht mit der Tochter eines unserer weisesten Männer vermählt.«

»Also das ist die Ursache dieser Versammlung?«

»Nicht die einzige. Die meisten sind hergekommen, unserem König zu huldigen und ihm ihre Dienste anzubieten. Du musst dich ihm auch vorstellen.«

Darauf führte sie der Hirschdiener, der mit dem König auf sehr ver­trautem Fuß zu stehen Schien, vor seinen Herrn. Dieser fragte die alte Frau, warum sie ohne alle Einladung zum Hochzeitsfest des schweinsköpfigen Ottawäers gekommen sei. Seine Stimme hallte gleich fernem Donner durch das Tal. Die alte Frau wäre sicherlich vor Schreck hingefallen, wenn sein milder Blick ihr nicht den Mut verliehen hätte, ihm den Beweggrund ihres Hierseins erzählen zu können.

Der alte König, der wohl wusste, dass man die Neugierde einer alten Frau nicht als Verbrechen auslegen dürfe, lachte heimlich und bat seinem vertrauten Diener, das junge Paar herbeizurufen. Während dieser nun forteilte, machte sich der König das Vergnügen, der Ottawafrau zu erzählen, wie seine Leute ihre Ohren mit den Hinterfüßen kratzten und wie sie mit ihren Hufen alle Krankheiten heilen könnten, außer der, die durch den Genuss von Branntwein entsteht, denn Branntwein sei ein Getränk, welches aus Weiberzungen und Kriegerherzen gemacht sei. Er hätte ihr sicherlich noch viele interessante Geschichten erzählt, wenn nicht plötzlich ein mächtiger Hase, in dem er Mischabo, den Hauptgott, erkannt hätte, vor ihn getreten wäre.

»Warum hast du meinen geliebten Sohn mit der Tochter eines armseligen Hirsches verheiratet?«, rief er dem Hirschkönig zu. »Was freilich einmal geschehen ist, kann selbst ein Gott nicht mehr ändern. Um nun für die Zukunft ähnlichen Vorfällen vorzubeugen, werde ich die Tiere, besonders aber die Hirsche, ihrer Sprache benehmen, sodass sie sich untereinander nicht mehr verstehen können!«

Dann wandte er sich zur Ottawafrau und bat sie, ihm ein Seil aus dem Bast des Maulbeerbaumes zu drehen, was sie augenblicklich mit großer Geschicklichkeit tat. Dann bohrte er mit einem spitzen dicken Dorn dem Hirschkönig ein Loch in die Zunge, zog das Seil hindurch und befestigte es an einem Tannenbaum. Danach hieß er die Frau schwarze Pilze und Beeren und einige andere Pflanzen holen. Als sie dies getan hatte, zerrieb er sie und machte kleine Pillen, die kaum so groß waren wie das Auge eines Kolibris, daraus und befeuchtete sie mit dem Speichel der großen Zunge des Hirschkönigs. Dann rief er: »Geister der Tiere in der Luft, im Wasser und auf der Erde, mit Ausnahme der Menschen, hört auf die Stimme Mischabos und kommt hierher!«

Diese gehorchten auch und kamen. Jedem gab er dann eine seiner Pillen zu schlucken. Als sie dies getan hatten, verloren Sie mit Ausnahme des Spottvogels, der nur eine halbe gegessen, und des Papageis, der seine wieder ausgespuckt hatte, die Gabe, mit den Menschen reden zu können.

Da noch einige Pillen übrig blieben, so gab sie Mischabo der Ottawafrau, die sie zwar einsteckte, aber nie davon Gebrauch machte.