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Hexengeschichten – Furia infernalis – Kapitel 4

Ludwig Bechstein
Hexengeschichten
Halle, C. E. Pfeffer. 1854

Furia infernalis
Kapitel 4

Agaphonika ließ sich wieder von Aniuschka und Barynka lieblich schmücken. Ihre heutige Tracht war einfacher als die gestrige. Sie wollte nun auch in der Glorie der Hauswirtin dem geliebten Gast entgegentreten. Davon, dass Feodor Iwanowitsch nicht mit ihrem Vater zur Jagd gezogen war, hatte sie nicht die geringste Ahnung.

Die Jagd kam zurück. Agaphonika sah die Schlitten einfahren, sah sie halten, die Jäger aussteigen, einen nach dem anderen, ihr Verlobter war nicht darunter. Es kam der Schlitten mit der Dienerschaft, und dann noch eine Kibitka mit der Beute – Feodor fehlte. Diese Wahrnehmung trieb der liebenden Braut das Blut aus den Wangen. Sie zitterte. Sollte Feodor Iwanowitsch auf der Jagd ein Unglück begegnet sein?

Der Vater kam herauf. Agaphonika flog ihm entgegen, gab ihm den Gutenmorgenkuss und fragte bange: »Väterchen, wo ist Feodor Iwanowitsch?«

»Nicht bei uns, Töchterchen! Ist das Herzgespielchen nicht bei meinen Goldkindchen? So ruht er wohl noch in süßen Träumen, und schläft, wie ein Suslik!«, scherzte mit erzwungener Heiterkeit Polycarp Simeonowitsch. »Nun, er wird sich schon einfinden! Sorge Kindchen, dass wir essen, wir bringen alle von der Wolfsjagd Löwenhunger mit.«

Die Gäste traten in den Speisesaal, sie nahmen von der Sakuska, sie setzten sich, der Stuhl des Bräutigams, zwischen dem Edelmann und seiner Tochter, blieb noch immer leer. Letzterer flüsterte dem Haushofmeister einen Befehl ins Ohr, und dieser enteilte; man wurde indessen bedient.

Theophiliy kam zurück und flüsterte nach üblicher Verbeugung seinem Herrn ins Ohr: »Euer Hochwohlgeboren Befehl gemäß betrat ich das Vorzimmer und fand Petrynka fest schlafend und unangenehm überrascht, dass ich das Bürschchen weckte. Er gähnte sehr, rieb sich die Augen und fragte, wie viel Uhr es sei. Ich sagte ihm die Zeit und fragte, ob er nicht nun endlich doch seinen Herrn wecken wolle? ›Beileibe nicht‹, erwiderte mir Petrynka, ›da wären mir Scheltworte und Prügel mindestens so gewiss, wie dir, Theophiliy Nikodemonow heute ein gutes Mittagsbrot. Nicht anklopfen, um keinen Preis, und wenn er vierundzwanzig Stunden in einem weg schläft, was auch schon da gewesen ist; denn du sollst wissen, mein Väterchen, mein sehr munterer Theophiliy Nikodemonow, dass mein Herr meinem Vorgänger wegen unzeitigen Weckens hat zu Tode prügeln lassen.‹ Das ist alles, was mir Petrynka berichtete.«

»Es ist gut!«, sprach der Gebieter, dachte aber im Inneren: Es ist nicht gut. Er wunderte sich über diese üble Angewöhnung eines so lebhaften und sonst so feurigen jungen Mannes, schrieb indessen den heutigen überlangen Schlaf natürlichen Ursachen zu.

In der Gesellschaft fiel manches Neckwort, bis die Tafel fast zu Ende war. Vorher die frische kalte Luft, nun die Glut des Zimmers und die starken Getränke vereinten sich, sehr aufregend auf die Jagdgenossen zu wirken.

Und so erhob Aphanasiy Andreawitsch seinen Humpen und rief: »Jetzt ist’s genug geschlafen, jetzt auf und den Langschläfer, den Ratz, herausgetrommelt mit Pauken und Trompeten!«

Er stieg auf vom Sessel und alle folgten ihm ziemlich geräuschvoll, nur der Gutsherr blieb zurück in trüben Gedanken. Die soeben erfahrene Mitteilung machte ihm Kummer, um seiner Tochter willen. Dass der künftige Schwiegersohn so grausam sei, hätte er nicht geglaubt. Polycarp Simeonowitsch Kalugin war nicht grausam, und jene Übereilung, die dem armen Kolynka durch des Haushofmeisters eigene Rachsucht das Leben gekostet hatte, wurde von ihm immer noch bitter bereut.

Fernher aus dem Schloss, von Feodors Zimmer her, erschallte lautes Hallo, untermischt mit Pochen, Hämmern und Klopfen. Das Schlafgemach wollte durchaus nicht aufgehen und ebenso wenig erwachte von all dem Lärm und den rufenden Stimmen drinnen der Schläfer.

»Hat das Zimmer keinen anderen Eingang? Man hole ein Brecheisen! Das ist doch bedenklich! Gott, nur kein Unglück!«, so klangen die Stimmen der Männer und Jünglinge durcheinander. Die Dienerschaft beeilte sich, geeignete Werkzeuge zum gewaltsamen Öffnen der Tür schleunigst herbeizuschaffen. Aphanasiy Andreawitsch setzte zunächst an, andere drückten nach, die Tür krachte, aber sie ging nicht auf. Es war eine gewaltige große schwere Doppeltür, mit altem riesigem Doppelschloss versperrt. Es kostete die größte Anstrengung, sie zu öffnen. Lange widerstand das Schloss selbst den Schlägen einer schweren Art, die dagegen donnerte – und drinnen noch kein Laut – die Laune erstarb, die Scherze verstummten, die Gesichter der Männer wurden bleich, angstvoll gespannt.

Mit einem Mal fuhr mit Donnerkrachen die Tür auf und Aphanasiy Andreawitsch riss den schweren Vorhang vom Bett.

O, welch über alle Maßen grauenvoller Anblick! Da lag Feodor Iwanowitsch starr und kalt, entseelt mit furchtbar verzerrten Zügen, die den allerqualvollsten Todeskampf dieser rüstigen und kräftigen Natur anzeigten. Beide Hände waren in das Haar gekrallt, die Beine gewaltsam, wie von Krämpfen verrenkt, hoch zur Brust heraufgezogen. Alles verriet eine entsetzliche Spannung, in welcher, so schien es, ein jäher Anfall den Entseelten versetzt hatte.

Schreckensbleich umstanden alle Freunde das Lager, laute Ausrufe der Überraschung, des Schmerzes erschollen. Sie pflanzten sich fort, einer rief es dem anderen zu.

Der Leibkutscher Gregor Constantinow war es, der vor den Schlossherrn zuerst mit ernster Meldung trat: »Euer Hochwohlgeboren gnädiger Herr

Schwiegersohn, Feodor Iwanowitsch wurde soeben tot in seinem Bett gefunden.«

»Tot sagst du? Tot!«, schrie der Schlossherr und wurde marmorbleich. »In meinem Haus! In meinem Bett, mein Gast, mein Sohn!« Der kräftige Mann wankte, er hielt sich an einem Tisch fest und seufzte aus tiefster Seele: »O Agaphonika!«

Die Schreckenskunde zeterte durch das ganze Schloss. Ehe sich noch der Edelmann Polycarp Simeonowitsch entschieden hatte, ob er zuerst die Tochter aufsuchend, das Schreckliche ihr schonend und vorbereitend mitteilen oder erst sich von der entsetzlichen Wahrheit überzeugen sollte, war der Pfeil dieser Botschaft durch der Dienerinnen Mund schon eilig zu Agaphonika geflogen und hatte ihr liebendes Herz mit tödlicher Wunde getroffen.

Feodor Iwanowitsch war und blieb tot, nicht der stumme Schmerz der Freunde, nicht der Diener Geheul erweckten ihn. Der Arzt erklärte, dass allem Anschein nach um oder gleich nach Mitternacht, wo alles im festesten Schlaf gelegen hatte, der Tod erfolgt sein müsste, den er so wenig als jenen ganz unter ähnlichen Erscheinungen des Haushofmeisters Paul Michaylow erfolgten anders erklären könne, als dass eine giftige Luft in diesen beiden einzeln gelegenen aneinanderstoßenden, vielleicht selten gelüfteten Zimmern herrschen müsse, die Apoplexie hervorrufe und herbeiführe. Solche Fälle seien indessen weder ihm noch seinen Kollegen bereits vorgekommen.

Grauenvoll war Agaphonikas so heiter begonnenes Verlobungsfest gestört worden. Eine dunkle Wolke umhüllte ihr bisher so schönes Dasein. War auch ihre Liebe zu Feodor Iwanowitsch keine leidenschaftliche gewesen, so war doch ihre Trauer groß und ihr Schmerz gerecht, denn sie war eine beneidete Braut.

Ganz anders als der fröhliche Zug zur Jagd war jener, mit dem die Freunde des dahingeschiedenen und der Vater Agaphonikas dem Schlitten das Geleit gaben, auf welchem der Sarg mit der irdischen Hülle des toten Bräutigams nach Selo Chondelewka gefahren wurde, um in der Familiengruft der Gurianow beigesetzt zu werden.

Agaphonika hatten Schreck und Schmerz auf das Krankenlager geworfen. Sie lag im Fieber. Abwechselnd wachten ihre Dienerinnen bei ihr. Auch die alte Naenka teilte diese Wache mit Aniuschka und Barynka.

Agaphonika phantasierte und sprach im Fieber: »O Liebling … o mein Tauber … wer tötete mein Täubchen?«

Mataphka hatte ihre knochigen Arme auf ihre Knie gestützt und die dürren Finger in ihr jetzt ergrautes Haar vergraben. Wachsam und scharf auf die Kranke blickend, glich sie einer Norne der Nordlandsmythe, zumindest einer Velleda. Das Baumwollgewand, das sie umhüllte, war schwarz.

»O meine Taube!«, flüsterte Mataphka unhörbar, »wer tötete meinen Tauber, mein Herzchen, meinen Liebling? Die Furie der Hölle über ihn und über ein Haus, darin man der Mutter den Sohn erschlägt um zweier Tauben Willen!«

Agaphonika stöhnte im unruhevollen Schlaf: »Basiliy! Brüderchen! Komme, komme, komme! Bringe mir Kolynka wieder! Unseren Gespielen – dass die alte Naenka wieder froh werde!«

Mataphkas Augen rollten. Sie blickte starr auf die Schlummernde und flüsterte: »O Agaphonika Polycarpovna! Die Toten bringt keiner wieder! O Kolynka, mein Seelchen, das kommt nimmermehr zur alten Mutter. Drüben, sagte der Christenpope, drüben, sagte der Imam, im Paradies, oh, es gibt kein Paradies, es gibt nur eine Hölle!«

Wieder flüsterte es von den bleichen brennenden Lippen Agaphonikas: »Halte den kleinen Kolynka ja recht gut, mein Brüderchen, mein Herzens-Basiliy, auf dass er vergesse, vergebe und vergesse.« Die fernere Rede erstarb, der Schlummer der Kranken wurde sanfter und ruhiger.

Mataphka schüttelte streng das Haupt. »Vergeben, vergessen! Nimmer, kein Vergeben, kein Vergessen.«

In dem großen alten Gastgemach waltete des Schlossherrn Dienerschaft unter Aufsicht und Leitung des Haushofmeisters forschend, spähend und reinigend. Die mit Eisenstäben verwahrten Fenster wurden geöffnet, das Gastbett genau durchsucht und auseinandergelegt. Zwei lebensgroße, in der Wand mit schweren breiten Rahmen befestigte Familienbilder wurden abgenommen, die Wand dahinter sorglich gekehrt und neu gekalkt. Dem großen Spiegel samt dem Pfeilertisch widerfuhr dasselbe wie den Bildern. Ein mächtiger, mit schwerem Schnitzwerk verzierter Gewehr- und Kleiderschrank, fast so hoch wie das Zimmer, der vielleicht hundert und mehr Jahre auf seiner Stelle gestanden hatte, wurde abgerückt. Auf einer Leiter stieg Theophil selbst hinauf und spähte, ob oben im Gesims etwas Schädliches sich verberge, und fegte allen Staub heraus. Auch unter dem Schrank, der auf starken kolossalen Löwenfüßen ruhte, fegte der Borstwisch. Wohl fand sich Mulm und Wuwel, jenes rätselhafte Staubgerölle, das selbst in unbewohnten Zimmern sich in, auf und unter alten Schränken und Spinden bildet und findet, doch nichts von eigentlichem Moder, nichts, dass in so hohem tödlichen Grad die Luft zu verderben vermocht hätte.

All dieses Suchen und Nachforschen war dem bekümmerten Schlossherrn noch nicht genug. Er gebot, dass die gepressten uralten Ledertapeten, mit denen das Zimmer bekleidet war, abgerissen und durch neue ersetzt werden sollten. Sowohl die Holzvertäfelung der Decke als auch des Fußbodens wurde von Schreinern auf das sorgfältigste untersucht, jeder Sprung verspant, jede Fuge verkittet, jedes Mauseloch am Boden wurde mit Kalk und Gips verschlossen, der Boden frisch gebohnert. Und als alles nach des Herrn Gebot auf das Genaueste vollzogen, auch das Bett gesäubert und erneuert, wieder aufgeschlagen war, da gebot Polycarp Simeonowitsch, dass nie wieder, so lange er lebe, weder ein Gast noch irgendein Bewohner des Hauses in diesem Zimmer wohnen und schlafen sollte.