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Der Welt-Detektiv Band 6

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Hannikel – 2. Teil

Christian Friedrich Wittich
Hannikel
oder die Räuber- und Mörderbande, welche in Sulz am Neckar in Verhaft genommen und daselbst am 17. Juli 1787 daselbst justifiziert wurde
Verlag Jacob Friderich Heerbrandt, Tübingen, 1787

Jakob Reinhard ist Hannikels eigentlicher Name. Letzterer wurde ihm erst gegeben, da er als ein echtes Mitglied unter die Zigeuners Familie aufgenommen wurde.

Seine Mutter brachte ihn ohne fremde Hilfe auf offenem Feld und unter freiem Himmel hinter einer Hecke zur Welt. Das Plätzchen war nahe bei Kleinschieberstadt unweit von Mannheim.

Ein Weib, welches in einer kleinen Entfernung von ihr auf dem Feld arbeitete, bemerkte, was vorging, sprang mitleidig herbei, rieb den kleinen Hannikel auf dem Grasboden ein wenig ab, nahm ihn in ihre Schürze und trug ihn in das nahe gelegene Dorf, wohin sie auch die Mutter desselben zu gleicher Zeit am Arm geschleppt hatte. Weil in diesem Dorf kein Geistlicher war, so wurde das Kind am folgenden Tag nach Großschieberstadt, wohin solches eingepfarrt ist, zur heiligen Taufe gebracht.

Der Vater des kleinen Knaben war nicht zugegen. Er hatte seinen Strich aufs Land seitwärts genommen, um sich vermutlich nach den Bedürfnissen zur Taufsuppe umzusehen.

Inzwischen weißt sich Hannikel auf seine Herkunft weiter nichts zu gut tun, als dass er von dem ältesten Zigeunergeschlecht abstamme, und dass viele von seinen Ahnen noch in Ägypten gezeugt worden.

Sein Vater Friedrich Reinhard war in den dreißiger Jahrgängen Tambour unter dem Fürstlich Hessen-Darmstädtischen Regiment, entwich aber von demselben, weil ihm eine eingeschränkte Lebensart nicht behagte, und zog dem gewöhnlichen Zigeunerleben nach. Er starb, da sein kleiner Hannikel kaum 4 Jahre alt war, an der hitzigen Krankheit.

Hannikels Mutter aus dem echten Zigeunergeschlecht lebt noch und hat ihr Logis neben ihrem Sohn in Sulz. Sie ist ein sehr altes Weib, heißt ihrem Taufnamen nach Käthe; in der Zigeunersprache aber nennt man sie die Geißin.

Hannikels Großvater, der zu seiner Zeit sehr berüchtigte kleine Konrad röchelte ehemals zu Gießen unter dem Rad sein Leben aus, da an diesem nämlichen Tag seine beide Brüder in seiner Nachbarschaft aufgehängt wurden.

Kaum waren etliche Tage vorüber, so verlies die Geißin das Kindbett. Eine gute Portion starken Weins, die sie seit ihrer Niederkunft zu sich nahm, brachte sie gleich wiederum auf die Beine. Sie nahm daher ein Tuch, band es die quer über sich her, legte ihren Jungen dazwischen ein, dass ihm Kopf und Arme frei blieben und so durchstrich sie wieder mit ihm Hecken und Wälder, Häuser und Scheunen.

Die Nahrung des Kleinen war lange nichts anderes als die graue Pestmilch, die derselbe aus den Brüsten seiner Mutter zog und die sehr wahrscheinlich nicht nur auf seine körperliche Ausbildung, sondern auch auf die künftige Entwicklung seines Temperaments den stärksten Einfluss hatte, und seinem Herzen diejenige fatale Richtung geben half, die zu seinem sittlichen Ruin so vieles beitrug.

Indessen nahm der braune Bube von Tag zu Tag zu, war gesund und munter, und schon frühzeitig gegen Sturm und Wetter, gegen Frost und Hitze abgehärtet, sah schalkhaft hinter seiner Mutter hervor, klemmte sich an ihren Hals, spielte mit ihren Locken zermalmte die Brotrinde, die sie ihm über ihre Schultern hinaufstreckte. Man konnte schon von ihm als Kind sagen:

Was zum Dorn werden will,
spitzt sich bei Zeit darzu.

Nun hatte Hannikel einen Bruder, der hieß Geuder. Sie waren im Alter nur etliche Jahre voneinander. Mit diesem vertrieb er sich seine Zeit. Sie wuchsen zusammen auf, waren sich beständig Gesellschafter, ergriffen nachher eine gleiche Lebensart, nämlich die, die den Zigeunern eigen ist, und betraten unvorsichtig und mutig Arm an Arm miteinander einen Weg, über dessen tiefe Sümpfe und Moraste, und über dessen fürchterlichen undurchschaubaren Schlund, am Ziel sie wohl niemals nachgedacht haben.

Ein jüngerer Bruder, namens Wenzel, sprang ihnen hintennach, holte sie wirklich ein und durchschritt mit ihnen eben dieselbe unglückliche Straße.

Nun hätte freilich die Mutter ihre Pflicht an ihren Söhnen erfüllen, ihnen eine gute Erziehung geben und alles anwenden sollen, sie zu brauchbaren Gliedern der Menschenfamilie zu bilden; besonders da es ihnen an körperlichen- und Geistesanlagen eben nicht gefehlt hatte.

Allein wie war das von einem Weib zu erwarten, die selbst ehemals lediglich keine Erziehung genoss und von Jugend auf an ein irreligiöses, lasterhaftes Leben gewöhnt war, keinen Sinn für heilige und erhabene Gegenstände hatte und dümmer als das Vieh die Krippe ihres Herrn selbst nicht einmal kennen lernte. Ja, wie konnte es anders sein, als dass sie die noch obendrein nirgends kein Heimwesen, kein Vermögen, keinen treuen Gehilfen hatte, die Seelen ihrer Kinder ganz verkrüppeln lassen musste.

Und das geschah dann auch wirklich. Hannikel und seine beiden Brüder Geuder und Wenzel mussten lebenslänglich das große Glück entbehren, aus dem Munde redlicher Eltern heilsame Lehren zu hören, an ihrer sorgfältigen Hand zu Gott geführt und mit ihm bekannt gemacht zu werden. Sie vernahmen kein Gebet, das ihre Seele eine gute Stimmung hätte geben können.

Was sie hörten, waren Flüche und Schwüre, Lügen und Betrügereien, Pläne zu Diebstahl und Mord. Sie kamen in keine Schule, in welcher sie lesen lernen und ausgebildet hätten werden können.

Sie wurden nie zur Kirche geschickt, in welcher vielleicht Worte von der Unsterblichkeit der Seele, von Gottes Allgegenwart und Allwissenheit, von einem künftigen allgemeinen Weltgericht, von der in jenem Leben bevorstehenden Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen, von Himmel und Hölle, ihr Herz hätte erschüttern und bleibende selige Eindrücke in dasselbe einpfropfen können.

Da war kein gutes Exempel in ihrer Nähe, das sie aufmerksam auf sich selbst machen und zur Nachahmung hätte reizen können. Da war nirgends ein Freund, der manchmal seinen Finger über ihnen gehoben, sie liebreich vor dem Bösen gewarnt, großmütig in sein Haus geführt und edle Samariterproben an ihnen abgelegt hätte. Was man an ihnen tat, war das, dass man ihnen je und je ein Stück Brot zur Tür hinausbot und ihnen befahl, dass sie schleunig wieder aus der Grenze weichen möchten.

Also sich selbst ganz überlassen, zu keinem anhaltenden Verstand und Körper nützlichen Geschäft gewöhnt, durch keine Religionsbegriffe aufgeklärt, von Eltern und Großeltern angesteckt und allenthalben verschrien, durch böse Exempel vergiftet, durch die Farbe ihres Gesichts verraten, von allen Mitteln entblößt, von keinem Menschenfreund mitleidig unterstützt und zur Arbeit gedingt, bei Nacht oft um Gottes willen nicht einmal auf eine Viehstreu gelegt – wie leicht war es bei diesen Umständen möglich, dass der vom Schöpfer ihnen anfangs eingehauchte gute Funken nach und nach verlosch, dass ihr Schiff ohne Segel und Ruder an jenen gefährlichen Syrten scheiterte und in den Wellen unterging!