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Review: Das alte Herrenhaus von Quarrington

Hanno Berg
Das alte Herrenhaus von Quarrington

Eine Horror-Kurzgeschichte
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 09. Februar 2009

 

I

 

»Sie können, wenn Sie wollen, schon nächste Woche anfangen,« sagte Mr. Barton zu Mobowe.

Mr. Barton war der Besitzer des Herrenhauses von Quarrington, ein alter, aber recht rüstiger Herr, der auch geistig noch völlig auf der Höhe war. Sein Gegenüber, ein etwa dreißig Jahre alter Mann, hatte sich auf seine Annonce im »Echo« gemeldet. Dort hatte Barton geschrieben, er wolle einen neuen Hausdiener anstellen.

»Das ist ja fantastisch!«, sagte Mobowe. »Den Lohn kann ich gut gebrauchen. Ich habe nämlich eine Frau und eine kleine Tochter. Es bleibt doch bei hundert Pfund die Woche?«

»Sicher!«, beruhigte ihn Mr. Barton. Dann schob er ein Blatt Papier über den Tisch und sagte: »Hier ist der Vertrag! Ich habe, wie Sie sehen, alles so übernommen, wie wir es besprochen haben. Sie müssen nur noch unterschreiben.«

Mobowe überflog noch einmal die Konditionen und nahm dann seinen Füllfederhalter zur Hand, den er immer in der Innentasche seiner Jacke bei sich trug. »Also dann!«, sagte er und begann damit, seinen Namen unter das Schriftstück zu setzen, während die Wanduhr im Salon, in welchem sie gerade saßen, zwölf Uhr mittags zu schlagen begann. Während er mit dem Schreiben fertig wurde, schlug die Uhr zum zwölften Mal. Als sie aber verstummte, tat sein Herz einen Schlag, und er war auf der Stelle tot.

»So, junger Mann!«, sagte Barton und grinste böse. »Du wirst nie wieder von hier fortgehen!«

Mit diesen Worten nahm er ein Blatt Papier und einen Pinsel zur Hand und malte Mobowes Gesicht. Als er damit fertig war, stieg er mit dem Gemälde zum Kellerverlies des Hauses hinab und öffnete die Tür mit einem Schlüssel, der an einem Haken daneben hing und den nur er selber sehen konnte. Für andere aber war er unsichtbar. Als er die Tür geöffnet und die Öllampe an der Decke entzündet hatte, konnte er an der Wand, die der Tür gegenüberlag, achtzehn Bildnisse von anderen jungen Männern sehen, die er selbst dort aufgehängt hatte. Er hängte Mobowes Porträt dazu, löschte das Licht, verließ den Raum und verschloss sorgfältig die Tür hinter sich. Den Schlüssel hängte er draußen wieder an seinen Platz, und dort war er wieder für alle anderen unsichtbar. Anschließend stieg er zum Salon empor, hob den Leichnam des jungen Mannes aus dem Sessel auf, trug ihn in den Garten und verscharrte ihn dort. Dann ging er zufrieden zum Salon zurück, setzte sich in seinen Sessel am Kamin und schlürfte in Ruhe seinen Tee.

 

II

 

Fünfzehn Jahre waren vergangen, als eine junge Frau an das Tor des Herrenhauses zu Quarrington klopfte. Der Hausherr, der scheinbar überhaupt nicht älter geworden war, öffnete und bat sie herein. Drinnen fragte er nach ihrem Begehr. Sie sagte, sie heiße Merla, und sie wolle als Köchin für ihn arbeiten, auch wenn er nicht viel dafür zahlen werde.

In Wirklichkeit aber war Merla die nun erwachsene Tochter von Mobowe, die sich zusammen mit ihrer Mutter viele Gedanken gemacht hatte, was aus ihrem Vater geworden sei. Er galt nämlich seit seinem Besuch bei Mr. Barton als vermisst. Die Polizei hatte sich vor fünfzehn Jahren nicht viel Mühe gemacht, nach ihm zu forschen, da er nur ein armer und unbedeutender Mann gewesen war. Sie hatten damals die Suche nach etwa einer Woche beendet, und Merla und ihre Mutter hatten nichts über den Verbleib des Vaters erfahren und sich künftig allein durch das Leben schlagen müssen. Nun wollte Merla am Ort seines Verschwindens heimlich Nachforschungen anstellen und sich zu diesem Zweck von Mr. Barton als Köchin einstellen lassen.

Der Hausherr jedoch sagte sofort, er benötige keine Köchin, und sie müsse sich bei anderen Herrschaften eine Stelle suchen. Dann verabschiedete er sich von ihr und meinte, sie werde den Weg hinaus wohl schon allein finden. Damit verließ er sie, und sie machte sich traurig auf den Weg durch den langen Flur zum Ausgang. Würde sie nun nie mehr etwas über das Schicksal ihres Vaters erfahren? –

Als sie aber fast am Ende des Hausflurs angekommen war, erschien ihr plötzlich der Geist ihres Vaters.

»Ich bin es, dein Vater!«, sagte er zu ihr. »Ich und alle anderen achtzehn Bewerber um den Posten eines Hausdieners von Mr. Barton sind von ihm getötet und im Garten verscharrt worden. Unsere Seelen aber werden durch irgendeine Macht an diesem Ort gefangen gehalten und können deshalb nicht ins Paradies gelangen. All diese Dinge müssen etwas mit der Wanduhr im Salon und dem Verlies im Keller dieses Hauses zu tun haben. Mehr weiß ich allerdings auch nicht.«

Mit diesen Worten verschwand Mobowes Geist wieder. Merla aber verfiel auf der Stelle in tiefe Melancholie. Ihr Vater war ermordet worden, doch es kümmerte keinen! Außerdem war seine Seele gefangen und konnte nicht ins Paradies gelangen! Sie aber und ihre Mutter konnten nichts für seine arme Seele tun!

 

III

 

Auf Drängen ihrer Mutter begab sich Merla, die noch immer hochgradig melancholisch war und sogar darüber nachgedacht hatte, sich das Leben zu nehmen, in ärztliche Behandlung. Dabei erzählte sie dem jungen Arzt, der den Namen Barbos trug, von der Begegnung mit dem Geist ihres Vaters und von dessen Äußerungen.

Barbos aber traf sich am Abend mit einem Studienfreund namens Gentis und erzählte diesem von Merla und ihrem Erlebnis.

»Du hast dich wohl in Merla verliebt,« sagte Gentis lächelnd, als Barbos ihm voller Emotionen von der jungen Frau erzählte.

»Da magst du wohl Recht haben,« sagte Barbos schüchtern.

»Ich habe heute die Zeitung gelesen,« fuhr Gentis fort. »Und weißt du, was ich dort gefunden habe?«

»Sag schon!«, forderte Barbos ungeduldig.

»Im Anzeigenteil hat der Herr des Herrenhauses von Quarrington, Mr. Barton, eine Annonce aufgegeben, dass er wieder einen Diener sucht,« sagte Gentis.

»Das ist unsere Chance!«, entfuhr es Barbos.

»Das denke ich auch,« sagte Gentis ruhig. »Und ich habe sogar schon einen Plan!«

»Und der wäre?«, fragte Barbos.

»Das will ich dir sagen!«, entgegnete Gentis. »Barton hat in seinem Inserat geschrieben, dass ein Bewerber um den Posten vormittags bis zum Freitag bei ihm vorsprechen soll. Also haben wir noch zwei Tage Zeit.«

»Zeit wofür?«, fragte Barbos.

»Meine Großmutter, die im letzten Jahr gestorben ist, hat mir zwei Jacken meines alten Großvaters, der schon lange tot ist, vermacht,« antwortete Gentis. »Diese Jacken sind beide aus demselben Stück Stoff geschneidert, und sie haben Zauberkraft. Wenn man eine Nachricht in die Tasche der einen Jacke steckt, so bekommt sie der Träger der anderen, auch wenn er sich an einem ganz anderen Ort befindet.«

»Und wie können uns die Jacken in diesem Fall nutzen?«, fragte Barbos.

»Du wirst die eine der beiden Jacken anziehen und zum Archiv von Burban reisen, der größten Stadt der Region. Dort wirst du nachforschen, ob es Artikel oder ähnliche Schriftstücke über das alte Herrenhaus und seinen Besitzer gibt, die uns Aufschluss über seine Morde oder andere Schlechtigkeiten geben können. Hast du etwas gefunden, so steckst du es in die Tasche deiner Jacke. Ich aber werde am Vormittag des zweiten Tages Barton aufsuchen und dabei die andere Jacke tragen. Ich werde so tun, als ob ich mich für die Stelle eines Dieners interessierte. Dadurch bin ich am Ort des Geschehens und kann, wenn ich deine Nachricht bekomme, etwas unternehmen, um mich selbst zu schützen und Bartons Opfer zu befreien.«

Barbos, der natürlich Merla von ihrer Melancholie heilen wollte, kam Gentis Vorschlag gerade recht, und er dachte, dass dieses Mittel dazu geeignet sein konnte, ihr die Lebensfreude wiederzugeben. So willigte er ein und ging mit zum Haus seines Freundes, um die eine Jacke seines Großvaters zu holen. Anschließend ging er nach Hause und legte sich schlafen, um am nächsten Morgen frisch für die Fahrt nach Burban zu sein.

 

IV

 

Am nächsten Tag um die Mittagszeit kam Barbos in Burban an. Er suchte dort sofort das Archiv auf, in welchem alles Wissenswerte über die ganze Region lagerte. Der junge Arzt forschte darin den ganzen Tag lang nach, ob er etwas über das Herrenhaus von Quarrington und seinen Besitzer finden konnte. An diesem Tag aber hatte er kein Glück. Als das Archiv am Abend geschlossen wurde, nahm er sich ein Zimmer in einer nahen Pension, um am nächsten Morgen sofort weitersuchen zu können. Die Zeit drängte!

Am nächsten Tag hatte Barbos zunächst ebenfalls kein Glück. Um elf Uhr morgens aber stieß er in einer Akte auf ein Schriftstück, das der ehemalige Notar des Mr. Barton über diesen und das alte Herrenhaus verfasst hatte. Als Barbos aber weiterlesen wollte, sah er, dass der Text zu dieser Überschrift aus Hieroglyphen bestand, die an altägyptische Schriftzeichen erinnerten. So sehr er sich auch bemühen mochte, er konnte in der verbleibenden Zeit unmöglich die Bedeutung der Zeichen ergründen! Was nur sollte er tun?

In seiner Verzweiflung malte er schließlich die Zeichen auf einen Zettel und steckte diesen in die Tasche seiner Jacke. Als er aber zehn Minuten später noch einmal nachsehen wollte, ob er alles richtig aufgezeichnet hatte, war der Zettel aus der Jacke verschwunden!

 

V

 

»Damit sind wir uns nun wohl darüber einig, dass Sie gegen die vereinbarte Bezahlung ab Montag als Diener für mich arbeiten,« sagte Mr. Barton, dem Gentis seit nunmehr zwei Stunden am Tisch im Salon des alten Herrenhauses gegenübersaß. »Unterschreiben Sie dort!« Damit schob er den Vertrag über den Tisch zu Gentis hin, der ihn noch einmal überflog und dann in die Innentasche seiner Jacke fasste, um seinen Füller hervorzuholen, mit welchem er den Vertrag unterschreiben wollte. Als er aber in die besagte Tasche hineingriff, fühlte er, dass sich dort nun ein Zettel befand, der zuvor nicht an dieser Stelle gewesen war. Er zog den Zettel hervor, entfaltete ihn, um ihn zu lesen und dachte, dass es sich dabei wohl um die ersehnte Nachricht seines Freundes handeln musste.

»Einen Augenblick noch!«, sagte er lächelnd zu Barton, und dieser nickte ihm zustimmend zu.

Als Gentis den Zettel las, befanden sich darauf aber nicht mehr die Hieroglyphen, die Barbos aufgezeichnet hatte, sondern folgender Text:

Der Herr des Herrenhauses von Quarrington, Mr. Barton, ist inzwischen über sechshundert Jahre alt. Seit seinem frühen Mannesalter ist er in diesem Haus der Stellvertreter des Teufels, dem dieses Anwesen eigentlich gehört. Gelegentlich lässt er junge Männer einen Vertrag als Hausdiener unterschreiben, und zwar im Salon des Hauses immer dann, wenn die Wanduhr in diesem Raum zwölf Uhr mittags schlägt. Hat sie den zwölften Schlag getan, so trifft den jungen Mann, der während ihres Läutens den Dienstvertrag unterzeichnet hat, auf der Stelle der Schlag. Dann zeichnet der Hausherr sein Gesicht und hängt das Bild zu den Porträts der anderen in das Verlies im Keller des Hauses. Die Tür verschließt er mit einem Schlüssel, den nur der sehen kann, der ihn zuletzt berührt hat. Er hängt immer am Haken neben der Tür des Verlieses. Anschließend verscharrt Mr. Barton den Ermordeten im Garten, und dessen Seele ist an das Haus gefesselt, solange sein Bildnis im Keller hängt. Wer nun die Seelen der Ermordeten retten will, der muss den für ihn unsichtbaren Schlüssel neben der Tür des Verlieses erfühlen, damit die Tür öffnen und die Bilder der Ermordeten stehlen. Diese muss er dann in der Nacht, während die Wanduhr die zwölfte Stunde schlägt, im Kamin des Salons verbrennen.

Nachdem Gentis dies gelesen hatte, begann die Wanduhr, zwölf Uhr mittags zu schlagen. Mr. Barton deutete noch einmal auf den Vertrag und sagte: »Unterschreiben Sie doch jetzt! Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es vereinbart war!«

Gentis aber wartete zunächst ab, bis der zwölfte Schlag der Uhr verklungen war, und machte sich erst dann daran, den Vertrag zu unterzeichnen. Da aber rief Barton: »Einen Moment! Ich will mir den Vertrag bis morgen Mittag noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Sie können natürlich im Haus bleiben und warten. Morgen werden wir den Vertrag dann wohl endgültig abschließen.«

Gentis verstand sehr wohl, warum er den Vertrag nun erst am nächsten Mittag unterzeichnen sollte, aber er willigte ein, da er dadurch die Zeit gewann, die Seelen der Ermordeten zu befreien.

Der Hausherr zeigte ihm sein Zimmer im oberen Stockwerk und zog sich danach zurück.

 

VI

 

Als es dunkel wurde, schlich Gentis in den Keller. Er fand dort das Verlies mit dem Schlüsselhaken neben der Tür, an welchem aber kein Schlüssel zu hängen schien. Gentis jedoch fasste an die Stelle, an welcher der Schlüssel hängen musste, und kaum hatten seine Finger diesen berührt, da war er für ihn sichtbar. Er schloss die Tür auf und entzündete die Öllampe an der Decke. Drinnen hingen die Bilder der Ermordeten an der Wand. Er nahm sie ab und schlich mit ihnen leise die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, ohne die Tür des Kellerverlieses zu verschließen und den Schlüssel an seinen Platz zu hängen.

Mr. Barton aber, der ein misstrauischer Mann war, ging, wie jeden Abend, kurz bevor er zu Bett gehen wollte, noch einmal in den Keller, um sich zu vergewissern, dass dort alles in Ordnung war. Er fand das Verlies offen vor, und alle Bilder waren fort. Sofort dachte er an seinen Gast und suchte unverzüglich dessen Zimmer auf. Gentis aber lag im Bett und schien zu schlafen. Die Bilder waren nirgendwo zu sehen. Barton weckte Gentis auf und forderte, dass dieser ihn in den Schrank und unter das Bett schauen ließ. Aber dort war ebenfalls nichts zu finden. Da befahl er Gentis, seine Taschen zu leeren und den Inhalt auf den Tisch zu legen, da er vermutete, auf diese Weise den Schlüssel zum Verlies zu entdecken. Gentis tat, wie befohlen. Als er schließlich seine eigenen Schlüssel auf den Tisch legte, ergriff er dabei auch den Schlüssel vom Verlies im Keller und legte ihn dazu. Barton aber konnte ihn nicht sehen, da Gentis ihn zwischenzeitlich angefasst hatte.

»Es muss wohl ein Fremder in den Keller eingebrochen sein,« dachte Barton bei sich.

Dann sagte er zu Gentis: »Also dann, nichts für ungut! Ich dachte nur …! Aber lassen wir das! Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«

Damit verließ er Gentis Zimmer und beschloss, erst einmal zu schlafen und am nächsten Morgen nach den Bildern und dem Schlüssel zu forschen. Gentis aber schloss die Tür hinter ihm und seufzte erleichtert auf.

 

VII

 

Kurz vor zwölf Uhr nachts, als Mr. Barton schon schlief, gelang es Gentis, die Bilder unbemerkt aus ihrem Versteck unter einer Kommode im Flur zu holen und in den Salon zu tragen. Dort entfachte er das Kaminfeuer, und als die Wanduhr begann, zur zwölften Stunde zu schlagen, warf er die Porträts ins Feuer, wo sie auf der Stelle verbrannten. Kaum aber waren sie verbrannt, da tat es einen gewaltigen Donnerschlag, und das ganze Haus begann, zu vibrieren. Gentis lief so schnell er konnte zum Eingangstor und stürzte ins Freie. Im selben Moment aber fiel das ganze Haus mit großem Getöse in sich zusammen, und man konnte die Schreie des Hausherrn hören, der dabei zu Tode kam.

In derselben Nacht erschien Merla im Traum der Geist ihres Vaters erneut, und er teilte ihr mit, dass er und die anderen Seelen nun frei seien und ins Paradies gelangen könnten. So wurde Merla bald wieder gesund, und sie und Barbos heirateten wenige Wochen später.

Über den Trümmern des alten Herrenhauses von Quarrington aber wucherte Gebüsch und Gras in Mengen, und es ist heute niemandem mehr bekannt, wo es einst gestanden hat.