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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 11

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Die Steinbrüche von Montfichet

Laroche-Boisseau und Legris fuhren, während sie sich zum großen Hof begaben, wo sie ihre Pferde finden sollten, fort, sich mit leiser Stimme zu unterhalten.

»Sambleu, Legris,« sagte der Baron mit fieberhafter Aufregung, »wir sollten uns veruneinigen! Das wäre sehr unsinnig. Ihr könnt meiner ebenso wenig entbehren, wie ich Eurer entbehren kann. Woran denkt Ihr denn, dass Ihr Euch mit meinen Feinden verbünden wollt? An dem Tag, wo sie mich zermalmt haben, werden sie mit Euch leichtes Spiel haben.«

»Baron, ich sage Euch nochmals, dass Ihr mich betrogen habt. Ich habe meinen Vater beinahe ruiniert, um Eure verschwenderischen Forderungen zu befriedigen. Ich habe mich, um Euch gefällig zu sein, zu den demütigenden Dingen verstanden und nun brecht Ihr mir auf unwürdige Weise Euer Wort, wenn ich die Belohnung verlange, die mir versprochen war, die mir gebührte.«

»Und welche Belohnung!«, sagte Laroche-Boisseau, »die Hand der Schlossherrin von Mercoire, weiter nichts! Aber Starrkopf, entsinnt Euch doch unseres Vertrages. Für den Fall, wo ich die Bestie getötet hätte – und Ihr habt mir soeben haarklein bewiesen, dass ich sie nicht getötet habe – hatte ich Euch versprochen, Euch in meine Rechte auf die junge Dame einzusetzen, dafern ich nämlich schon im Besitz der Erbschaft Varinas wäre. Nun aber bin jetzt nicht mehr Graf von Varinas, mein teurer, vielgeliebter Vetter, der soeben im Galopp zu den Steinbrüchen von Montfichet gesprengt ist, müsste denn den gescheiten Einfall haben, den Hals zu brechen oder sich vom Wolf fressen zu lassen.«

»Euer Vetter?«, fragte Legris große Augen machend, »was wollt Ihr damit sagen? Ich verstehe Euch nicht.«

Laroche-Boisseau erzählte ihm Leonces Geschichte und fuhr dann, ohne weiter auf die Ausrufungen seines Vertrauten zu achten, fort: »Meine Angelegenheiten scheinen verzweifelt zu stehen, aber ich muss mich rächen und ich werde es tun, bei allen Teufeln der Hölle … sollte ich selbst …! Kommt, Legris, tausendmal lieber will ich Euch die reiche junge Dame heiraten sehen, als sie diesem unverschämten Verwandten überlassen. Vereinigt Euch offen mit mir wie sonst und vielleicht wenden sich die Dinge noch nach Eurem Wunsch. Wenn wir uns sofort zu den Steinbrüchen begeben, wo, wie man sagt, die Bestie sich in diesem Augenblick befindet, so kann ein glücklicher Zufall uns noch begünstigen. Ihr wisst«, setzte er in düsterem Ton hinzu, »es ereignen sich auf der Jagd so außerordentliche Unfälle, so seltsame Verwechslungen …«

»In des Himmels Namen, Baron,« fragte sein Vertrauter erschrocken, »was wollt Ihr tun?«

»Memme! Dummkopf!« sagte Laroche-Boisseau, indem er mit dem Fuß stampfte. Es dauerte nicht lange, so fuhr er fort: »Wir werden je nach den Umständen handeln. Wir werden einander nicht verlassen. Wir wollen die erste Gelegenheit benutzen, die sich darbieten wird, und vielleicht … Seht, da Ihr es durchaus verlangt, so verspreche ich Euch nochmals, alles Mögliche aufzubieten, um Euch zum Gemahl dieser reizenden jungen Dame zu machen, welche ich in Bezug auf mich selbst nun wohl entsagen muss.«

»Ist dieses Versprechen auch ein aufrichtiges, Baron? Wenn ich glaubte …«

»Ich gebe Euch mein Wort als Edelmann darauf. So tief ich auch gesunken sein mag, so bin ich demselben doch niemals untreu geworden. Aber Ihr werdet mir gehorchen, nicht wahr?«, setzte er mit kaum verhaltener Heftigkeit hinzu, »Ihr werdet mir gehorchen, was ich auch sagen und tun möge?«

»Dennoch aber, Baron, möchte ich wohl wissen …«

»Ruhe! Vorwärts! Wir verlieren Zeit!«

Legris wagte nicht etwas zu entgegnen.

Sie befanden sich nun im Hof. Auf ein Wort von Laroche-Boisseau führte man zwei gezäumte und gesattelte Pferde herbei. Legris schien jedoch noch nicht gänzlich entschlossen, sich an einem sicherlich gefährlichen, vielleicht verbrecherischen Unternehmen zu beteiligen, und zögerte, sein Pferd zu besteigen.

Als Laroche-Boisseau seinerseits den Fuß in den Bügel setzte, berührte ihn jemand, der ihn schon mehrmals gerufen hatte, ohne Antwort zu erhalten, leicht an der Schulter.

Der Baron drehte sich wütend herum und erblickte den Chevalier von Magnac.

Der alte Stallmeister hielt unter dem Schoß seines Rockes zwei Degen von gleicher Länge verborgen. Er hatte eine kavaliermäßige, dreiste Miene, die ihm sonst nicht eigen war, und behielt den Hut auf dem Kopf.

»Herr Baron,« sagte er in verhalten heftigem Ton, »so schleicht man sich nicht fort. Ich bin nicht seit einigen Stunden Euer Vetter geworden und habe im Gegenteil mehr als jemals das Recht, Euch aufzufordern, in meiner Gesellschaft eine kleine Promenade bis an den Saum des Waldes zu machen. Ich weiß einen Platz, wo wir wunderschön ungestört sein werden.«

Der Baron antwortete nicht, sondern stand unbeweglich und mit starrem Blick da, als ob er nicht verstünde, was man von ihm wollte. Endlich machte er eine rasche Bewegung.

»Geht zum Teufel, alter Schwätzer!«, sagte er, »ich habe keine Zeit, Dummheiten anzuhören. Wir werden Euch ein anderes Mal zufriedenzustellen suchen.«

Er wollte sich aufs Pferd schwingen. Magnac hielt ihn am Schoß seines Rockes zurück.

»Ich schwatze vielleicht, Monsieur,« sagte er mit jenem kalten Zorn gallsüchtiger Gemüter, »aber ich habe noch ein gutes Auge und meine Hand zittert nicht. Ich fordere Euch abermals auf …«

»Lasst mich los, alter Narr, lasst mich los oder wo nicht, so gebe ich Euch trotz Eures Alters und Eures grauen Haares …«

Er hob die Hand empor; der andere rührte sich nicht von der Stelle.

»Jetzt, Monsieur,« sagte er, »könnt Ihr mir die Genugtuung, die mir gebührt, nicht mehr verweigern.«

Diese Worte schienen Eindruck auf Laroche-Boisseau zu machen. Er dachte einige Sekunden lang nach.

»Er ist wütend,« sagte er endlich. »Wohlan, es sei, machen wir der Sache ein Ende. Sie wird mich ja nicht lange aufhalten. Legris, lasst Euer Pferd hier, Ihr werdet mit uns kommen.«

»Und wohin denn, mein lieber Baron?«

»Wohin es Herrn von Magnac belieben wird, uns zu führen. Und Ihr, Chevalier, habt Ihr einen Sekundanten?«

Magnac nahm seinen Hut ab. »Der Herr Baron von Laroche-Boisseau ist sehr gütig«, sagte er, indem er seine gewissenhafte Höflichkeit plötzlich wiederfand. »Ich gedachte einen Edelmann zum Sekundanten zu wählen und könnte noch den Marquis von Guillefontaine holen lassen, aber dies würde uns zu lange aufhalten.

Wenn Ihr es erlaubt, so werde ich den Revierjäger Comtois rufen lassen, den Ihr dort unten seht. Er ist Soldat gewesen, und wenn man erwägt, dass Monsieur Legris auch bloß ein Bürgerlicher ist, so könnte man sich in Ermangelung eines Besseren mit Comtois begnügen. «

»In Teufels Namen nehmt mit, wen Ihr Lust habt«, sagte der Baron ungeduldig, »aber halten wir uns dazu.«

Der Chevalier beeilte sich hocherfreut, den Revierjäger, der sich durch diese Bevorzugung ein wenig geschmeichelt fühlte, in Kenntnis zu setzen. Ohne sich viel um die Glossen der Dienstleute zu kümmern, die sich im Hof befanden, machten sich Gegner und Sekundanten auf den Weg.

» Man halte die Pferde bereit,« sagte der Baron zu seinen Leuten, indem er das Schloss verließ, »in fünf Minuten sind wir wieder da.«

Man erreichte den nahen Wald. An der ersten lichten Stelle blieb der Chevalier stehen.

»Glaubt Ihr nicht, dass hier ein ganz passender Platz sei, Herr Baron?«, fragte er.

»Jawohl.«

Sofort warf der alte Edelmann seinen Rock und seine Weste von sich und bot dann Laroche-Boisseau die Wahl zwischen den beiden Degen, die er mitgebracht hatte. Der Baron nahm den ersten besten und begann dann seinerseits die Vorbereitungen zu dem Zweikampf.

In dem Augenblick, wo der Chevalier ausfiel, murmelte Legris erstaunt über dessen Gelenkigkeit und martialische Grazie bei sich selbst: »Hm! Der Soldat von Fontenoy hat keine üble Art und Weise, und Laroche-Boisseau wird, obwohl er ein raffinierter Duellant ist, vielleicht finden, mit wem er zu tun hat. Meiner Treu, ich weiß nicht recht, welchem von beiden ich den Sieg gönnen soll. Der Alte hat einen Zahn auf mich, aber Laroche-Boisseau wird jetzt ein sehr schlechter Gesellschafter, abgesehen davon, dass man keine großen Dinge mehr von ihm erwarten kann. Wohlan, Gott oder der Teufel möge zwischen ihnen wählen – ich für meinen Teil füge mich in alles.«

Während er diesen menschenfreundlichen Wunsch aussprach, fuhren die beiden Klingen mit unheimlichem Klirren zusammen.

Den Ausgang dieses Duells werden wir ein wenig später erfahren. Nun müssen wir vor allen Dingen zu Leonce und Denis zurückkehren, welche wir verließen, als sie zum Wald galoppierten.

Die Steinbrüche von Montfichet, wo der furchtbare Wolf eingeschlossen war, lagen in der Mitte jener gebirgigen und waldigen Region, welche man das Tal der Monadière nannte, und wo Leonce zu Anfang dieser Erzählung in so großer Lebensgefahr geschwebt hatte. Diese Erinnerung aber kühlte den Eifer des ungestümen jungen Mannes durchaus nicht ab. In weniger als einer Viertelstunde, nachdem sie das Schloss verlassen hatten, langten die beiden Reiter keuchend und ebenso wie ihre Pferde von Schweiß triefend am Eingang der Steinbrüche an, wo Gervais und einige Bauern mit Flinten und Stöcken bewaffnet, gute Wache hielten.

Dieser Eingang war eine schmale, früher in den Felsen gebrochene Bresche, um den zum Abholen der Steine bestimmten Karren den Zugang zu gestatten. Zwei Basaltblöcke standen rechts und links. Durch diese Öffnung tauchte der Blick in einen ziemlich umfangreichen, von spitzigen Felsen umgebenen und mit Steinen und Gestrüpp bedeckten kreisrunden Raum.

Gervais und seine Kameraden hielten zwei Hunde an der Leine, welche dann und wann knurrten und die Augen zu den Steinbrüchen wendeten.

Leonces Anblick schien Gervais sehr angenehm zu sein.

»Ich habe Euch sehnlich erwartet«, sagte er, während die Reiter abstiegen. »Diese hinterlistige Bestie hat sich mehrmals uns genähert, sodass ich schon fürchtete, sie würde versuchen, den Durchgang zu erzwingen. Übrigens beginnt der Tag sich zu neigen. Wenn sie nicht erlegt ist, ehe es Nacht wird, so können wir überzeugt sein, dass sie trotz aller unserer Vorsicht uns nochmals entwischt.«

»Jetzt aber stehst du dafür, dass sie noch nicht herausgebrochen ist, nicht wahr?«, fragte Denis.

»Jawohl, seht doch, wie die Hunde die Nasen in die Höhe recken und an der Leine zerren. Das verwünschte Tier ist höchstens fünfzig Schritte von hier.«

»Gut,« sagte Leonce seinerseits. »Denis, Ihr werdet hier bei diesen wackeren Leuten bleiben und Euch bereithalten, den Wolf zu empfangen, wenn er versuchen sollte, zu entrinnen. Was mich betrifft, so werde ich mit Castor allein in den Steinbruch hineingehen. Ich habe meine Bajonettbüchse und meinen Hirschfänger – das wird mir genügen.«

Der Piqueur hörte ihn mit einem Gemisch von Erstaunen und Schrecken.

»Mein junger Herr wird mir meine Dreistigkeit verzeihen,« sagte er ehrerbietig, »aber er wird nicht die Tollkühnheit haben, in dieser Höhle einem furchtbaren zur Verzweiflung gebrachten Tier die Spitze zu bieten. Mit Eurer Erlaubnis werde ich Euch begleiten und vielleicht gelingt es uns beiden …«

»Das kann ich nicht zugeben, Denis«, entgegnete Leonce mit Festigkeit. »Ich will von niemanden bei dem Kampf unterstützt sein, den ich ohne Zweifel zu bestehen haben werde. Niemand wird in den Steinbruch eindringen, möge geschehen, was da wolle. Ihr habt mich doch verstanden, nicht wahr?

Wehe dem, der meine Befehle überschreiten würde! Ich würde es ihm in meinem Leben nicht verzeihen. In dem Fall, wo das Tier die Passage zu forcieren suchen sollte – aber nur

in diesem Falle – könntet Ihr darauf schießen. Bis dahin verhaltet Euch ruhig und seid aufmerksam.«

Leonce sprach mit seinen Untergebenen sonst gewöhnlich in sehr leutseligem Ton. Diesmal aber war seine Ausdrucksweise kurz, schroff und entschlossen. Dennoch ließ der Piqueur sich noch nicht entmutigen.

»Monsieur,« sagte er mit Eifer, »ich bin ein alter Jäger und meine Pflicht ist, Euch vor der Gefahr zu warnen.«

»Genug, genug«, unterbrach ihn Leonce, »ist meine Büchse geladen?«

»Ich habe sie soeben selbst geladen – zwei Maß Pulver und zwei eiserne Kugeln.«

»So ist es recht.«

Er überzeugte sich, dass das Zündkraut nicht feucht geworden sei, fuhr mit dem Nagel über den Stein der Batterie und schien dann, nachdem er seinen Hirschfänger ein wenig gelüftet, damit derselbe leicht aus der Scheide gehe, bereit, sich in Bewegung zu setzen.

»Vergesst nicht, was ich Euch empfohlen habe, meine Freunde«, hob er in einem Ton an, welcher sehr sanft und beinahe heiter geworden war. »Bewacht gut Euren Posten.

Das ist alles, was man von Euch verlangt.«

Er wollte eben, nachdem man Castor, Godarts Hund, von der Leine losgelassen hatte, den Eingang dieser Art Zirkus durchschreiten, als Denis in bittendem Ton zu ihm sagte: »Wenigstens, guter Herr, nehmt auch den anderen Hund mit. So feige er auch ist, so wird er Euch doch von der Annäherung des Wolfes in Kenntnis setzen und Euch verhindern, überrascht zu werden.«

Leonce willigte ein, obwohl er von dem Spürhund nicht viel erwartete, und drang, während die beiden Hunde ihm voraneilten, in den Umkreis der Steinbrüche ein.

Hier herrschte tiefe Stille und die Unbeweglichkeit des Todes. Nichts rührte sich unter den unfruchtbaren Felsen und dem trockenen Gestrüpp, welches den Boden bedeckte. Von allen Seiten erhob der Berg seine glatten, senkrechten Wände. Es war, als befände man sich in einem geschlossenen Raum, wo dem Besiegten jeder Rückzug unmöglich wäre, wo der Tod unvermeidlich auf die Niederlage folgen müsste.

Hier und da hoben sich halb geschmolzene Schneewehen von der dunklen Färbung des Farnkrautes ab. In der Mitte des Beckens befand sich eine vom Regenwasser gebildete Lache. Sie war gefroren und weiße Streifen zogen sich über die bläuliche Rinde hinweg.

Über diese öde Landschaft breitete der nebelige, noch durch die Annäherung der Nacht verdüsterte Himmel seinen dunklen Schleier aus.

Leonce schritt langsam vorwärts mit wachsamem Auge und Ohr und dem Finger an dem Drücker seiner schweren Kugelbüchse. Er betrachtete genau jede Höhlung des Terrains, jedes dichtere Buschwerk. Die Bestie konnte sich in der Tat auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen, ohne dass ihre Gegenwart vorher durch irgendetwas kundgegeben worden wäre. Dann und wann blieb er stehen und hielt den Atem an.

Seine Hunde liefen um ihn herum, aber ohne anzuschlagen. Der Spürhund namentlich schien unruhig zu sehn. Häufig unterbrach er sich in seinen Nachforschungen und kehrte furchtsam zu seinem Herrn zurück. Dann musste ihn dieser mit der Hand streicheln und durch leises Zureden ermutigen, um ihn zu bestimmen, die Fährte wieder aufzunehmen.

Der andere Hund, welcher stark und mutig war, verriet weniger Zögern, aber sein stumpfer Geruchsinn nötigte ihn, sich auf seinen Kameraden zu verlassen, dessen Nase feiner war. Übrigens war die Spur ganz frisch und an verschiedenen Stellen zeigten sich im Schnee breite tiefe Abdrücke, welche wenige Minuten vorher gemacht zu sein schienen.

Dennoch aber zeigte das Tier sich nicht. Wenn die Umfassungswände nicht beinahe senkrecht gewesen wären, so hätte man glauben können, dass es ihm gelungen sei, diese natürlichen Schranken zu überklettern. Aber so etwas stand nicht zu fürchten. Um dies auszuführen, hätte der Wolf zwanzig oder dreißig Fuß hochspringen müssen, und der Wolf besitzt, so behände er auch sein mag, in seinen Muskeln nicht die ungeheure Elastizität des Tigers, des Panthers und anderer zum Katzengeschlechte gehörigen wilden Tiere. Die Bestie war daher noch ganz gewiss in den Steinbrüchen und konnte jeden Augenblick erscheinen, um den Kampf aufzunehmen oder vielleicht selbst zu beginnen.

Seit länger als zehn Minuten schon irrte Leonce unter den Steinen und dem Gestrüpp umher, als plötzlich der Spürhund erschrockener, als er bisher gewesen war, zurückfuhr und sich zwischen die Beine seines Herrn flüchtete. Castor dagegen blieb stehen, streckte seinen mit einem Stachelband geschützten kräftigen Hals aus und ließ ein dumpfes Knurren hören.

Alle diese Anzeichen verrieten, dass die Bestie in der Nähe war, aber der junge Jäger mochte seine Aufmerksamkeit verdoppeln, wie er wollte – er sah nichts.

Endlich jedoch gelang es ihm, die Position seines furchtbaren Feindes zu erkennen. Etwa dreißig Schritte von ihm befand sich die gefrorene Lache, von welcher wir gesprochen haben, und am Rand der Lache stand ein kleines Dickicht von trockenen, vergilbten Binsen. Durch die Halme der Hecke hindurch entdeckte Leonce zwei feststehende, glänzende Punkte, welche selbst am Tage eine drohende Flamme sprühten. Weiter sah man nichts, aber der Jäger wusste nun genug.

Die Bestie war da und schickte sich ohne Zweifel an, sich auf ihn zu stürzen, sobald er nahe genug gekommen wäre.

Leonce war stehen geblieben und hatte langsam den Kolben seiner Kugelbüchse an die Schulter gesetzt, aber er schoss nicht. Das Herz pochte ihm gewaltig und seine Augen umflorten sich. Ein Schwindel begann sich seiner zu bemächtigen. Vielleicht erinnerte er sich in diesem Augenblick, dass das Ungeheuer, welches hier nur wenige Schritte entfernt von ihm lag, dreiundachtzig Personen gerissen1 und fünfundzwanzig bis dreißig schwer verwundet; dass es den Verfolgungen von zwei- oder dreihunderttausend Jägern getrotzt und dass ganz Frankreich seinetwegen in Alarm gesetzt worden war.

Zum Glück tauchte das schöne und lächelnde Bild eines geliebten Wesens empor und verscheuchte diese düsteren Gedanken aus dem Gemüt des jungen Mannes. Sofort zirkulierte das Blut wieder ruhiger, der Schwindel verflog und nach Verlauf von wenigen Sekunden hatten die ihn umgebenden Gegenstände für Leonce wieder die Formen und Verhältnisse der Wirklichkeit angenommen. Sei es nun, dass er noch zu weit stand, sei es, dass sein Gegner sich keine ihm genügend erscheinende Blöße gab, kurz, er begann mit angeschlagener Büchse vorwärts zu gehen. Die Hunde folgten ihm immer noch knurrend, der eine vor Zorn, der andere vor Furcht.

Dieses Manöver des jungen Jägers hatte aber kein Resultat. Der Wolf rührte sich nicht und man sah von ihm immer noch nichts weiter als seine beiden gespenstischen Augen.

Endlich blieb Leonce, durch diese Unbeweglichkeit ungeduldig gemacht, abermals stehen und zielte gerade zwischen die zwei leuchtenden Punkte.

Nun aber wechselten die Rollen.

Das wütende Tier fasste, als es sich entdeckt sah, einen tapferen Entschluss. Sein gewaltiger Kopf mit den emporgerichteten Ohren, sein ungeheurer dunkelgelber Rumpf, sein schwerer wallender Schweif tauchten aus den Binsen auf. Dann stürzte es, mit seiner breiten Brust alle Hindernisse auf die Seite werfend, sich wütend auf seine Feinde.

Leonce ließ sich durch diesen unerwarteten Angriff nicht einschüchtern. Als das Tier etwa noch zehn Schritte vor ihm war, zielte er kaltblütig nach dem Kopf und drückte ab.

Der Knall seiner schweren Büchse erzeugte von dem tausendfachen Echo wiederholt ein Getöse gleich dem des Donners, obwohl man ein wildes Gebrüll hindurch hörte. Durch den Pulverdampf hindurch sah Leonce das Tier vom Schuss niedergestreckt und wie zum Tode getroffen. Schon öffnete er den Mund, um einen Freudenschrei auszustoßen und seine Kameraden zu rufen. Er hatte aber nicht die Zeit dazu.

Die Bestie hatte sich von Blut triefend, aber furchtbarer als je, wieder erhoben. Der Schmerz, der Rachedurst hatten ihre Kraft und ihren Mut verdoppelt. In einem Augenblick warf sie sich über den Jäger her.

Vergebens versuchte dieser ihr die Spitze seines Bajonettes entgegenzusetzen. Das Bajonett, obwohl von gehärtetem Stahl, zerbrach wie Glas, die Kugelbüchse selbst wurde krumm gebogen und Leonce stürzte, von überlegener Kraft über den Haufen geworfen, wie betäubt auf den Schnee nieder. Er schien verloren, denn er war nicht imstande, sich zu verteidigen, aber seine treuen Bundesgenossen verließen ihn nicht.

Der Bullenbeißer Castor, welcher, wie man sich erinnert, noch seine Niederlage am Sprungwald zu rächen hatte, stürzte sich auf den Wolf und packte ihn mit wütender Gewalt. Auch der Spürhund, sei es, dass der Anblick des Blutes seines Feindes ihn ermutigt hatte, oder sei es, dass die Gefahr seines Herrn ihn seine Furcht überwinden ließ, sprang dem Wolf, ohne zu zögern, an die Kehle. Derselbe hatte daher vor allen Dingen diese neuen Gegner von sich abzuwehren.

Diese Aufgabe nahm nicht lange Zeit mehr in Anspruch. Ein einziger Biss genügte, um dem unglücklichen Spürhund das Rückgrat zu brechen, während ein Hieb mit der Tatze ihm den Bauch aufriss und seine Eingeweide weit hinwegschleuderte. Der arme Hund stieß ein klägliches Gewinsel aus und verendete.

Nun blieb noch Castor übrig, welcher ebenfalls den Wolf an der Gurgel gepackt hatte und festhielt. Der Wolf versuchte sich seiner durch jenen Ruck mit dem Kopf zu entledigen, der ein beliebtes Manöver von ihm war. Der durch die Erfahrung aber ohne Zweifel belehrte Bullenbeißer wusste geschickt diesem Ruck auszuweichen. Nun wälzten sich beide übereinander weg und zerrissen und zerbissen sich mit unaussprechlicher Wut.

Der Wolf aber behauptete trotz seiner Wunde einen Vorteil, der sich bald in einen vollständigen Sieg verwandeln musste.

Dieser furchtbare Kampf fand auf Leonces Körper selbst statt. Dieses fortwährende Stoßen und Stampfen und vielleicht auch das Drohende der Gefahr brachten den Jäger wieder zum Bewusstsein. Noch halb betäubt von seinem Sturz, geblendet vom Staub und gefrorenen Schnee, der auf sein Gesicht flog, hob er sich auf dem Ellbogen empor und zog seinen Hirschfänger. In dem Augenblick, wo die beiden Kämpfer sich abermals auf ihn stürzten, öffnete er mit Mühe die Augen. Indem er alles, was ihm noch von Kraft übrig war, zu einer letzten Anstrengung zusammenraffte, stieß er die Klinge bis an das Heft in eine haarige Masse, unter welcher er fast erstickte.

In demselben Augenblick rief man in seiner Nähe: »Mut, Monsieur! Fest, Castor! Wir sind da!«

Leonce aber konnte nichts weiter hören. Etwas wie eiserne Stacheln zerriss ihm die Brust, dann fiel eine zermalmende Last auf ihn, der Atem versagte ihm und er verlor die Besinnung vollständig.

Ein Gefühl von Frische und Wohlsein erweckte ihn wieder. Um ihn herum standen Denis, Gervais und einige andere Leute, welche ihm ihren eifrigen Beistand angedeihen ließen. Man hatte ihm das Gesicht mit ein wenig aus der nahen Lache geschöpftem eiskalten Wasser benetzt und ihm die Kleider aufgemacht. Leonce erlangte das Bewusstsein sofort wieder und die Erinnerung kehrte zurück.

»Die Bestie!«, fragte er, »wo ist die Bestie?«

»Tot, Monsieur«, entgegnete der alte Piqueur, »dieses Mal wirklich tot, und es hat viel Mühe gekostet, ihr den Garaus zu machen.«

Gleichzeitig zeigte er auf den ganz mit Schmutz und Blut bedeckten furchtbaren Wolf, welcher leblos neben den noch zuckenden Überresten des armen Spürhundes ausgestreckt lag. Ein wenig weiter hin leckte Castor keuchend und zerschlagen, traurig seine Wunden.

Ein schmerzlicher Argwohn durchzuckte Leonces Gemüt.

»Denis«, hob er an, indem er sich mühsam ein wenig aufrichtete, »Ihr seid meinen Befehlen ungehorsam gewesen. Ihr seid mir zu Hilfe gekommen. Ihr seid es, der die Bestie des Gévaudan erlegt hat.«

Der Piqueur lächelte. »Seht doch mein Gewehr an, guter Herr,« sagte er, indem er seine noch geladene Büchse vorzeigte. »Allerdings fehlte es mir durchaus nicht an Lust, diesem Burschen eine Kugel durch den Pelz zu brennen, aber Ihr hieltet einander so inbrünstig umarmt, dass die Sache nicht möglich war. Und übrigens wäre es ja auch schade um das Pulver gewesen. Ihr hattet der teuflischen Bestie schon ihr Teil gegeben, seht selbst!«

Indem er den riesigen Körper des Wolfes emporhob, zeigte er Leonces Hirschfänger, der seiner ganzen Länge nach unter der Schulter hindurch in den Leib des Tieres gedrungen war. Die Klinge steckte so fest zwischen Knochen und Muskeln, dass es einer großen Anstrengung bedurft hätte, um sie herauszuziehen. Der Tod musste augenblicklich erfolgt sein. Die Risswunden, welche dem Jäger vollends die Besinnung geraubt hatten, rührten allem Anschein nach bloß von den letzten Zuckungen des verendenden Tieres her.

Als Leonce diesen unbestreitbaren Beweis seines Triumphes erhielt, war er vor Stolz und Freude außer sich.

»O mein Gott, ich danke dir!«, rief er. »Es ist also wahr, dass ich die Bestie des Gévaudan getötet habe!«

 

***

 

Einige Augenblicke später kehrten die siegreichen Jäger zum Schloss Mercoire zurück. Leonce, der mit Kontusionen und frisch blutenden Wunden bedeckt war, ging von Denis unterstützt zu Fuß. Man hatte den furchtbaren Wolf auf ein Pferd geladen, sodass sein noch drohender Rachen und die langen Beine mit den scharfen Klauen zu beiden Seiten des Sattels herabhingen. Dann kam Gervais, welcher in seinen Armen den bedauernswerten Castor trug, dem der Schmerz ein klägliches Gewinsel auspresste, obwohl der Anblick seines toten, aber vom Trab des Pferdes hin- und hergeschaukelten Feindes in gewissen Augenblicken noch seine Wut zu erwecken schien. Den Schluss des Zuges machten die Bauern, welche ihrer Freude, das Land endlich von seiner Geißel befreit zu sehen, lauten Jubel liehen.

So erreichte man das Schloss. Als man sich dem Haupteingang näherte, begegnete man einem zweiten Trupp, der ebenso traurig und schweigend einherkam, als der andere freudig und lärmend war. Er bestand aus mehreren Dienern, welche auf einer Bahre einen leblosen, mit einem Mantel zugedeckten Körper trugen. Hinter ihm kamen in verschiedenen Gruppen mehrere Personen, welche das immer tiefer hereinbrechende Dunkel der Dämmerung nicht gestattete zu erkennen.

Leonce befahl seinen Leuten stehen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Als die Träger an ihn herankamen, fragte er mit leiser, erstickter Stimme, indem er auf die Leiche zeigte: »Wer ist das? Mein Gott! Welches Unglück haben wir wiederum zu beklagen?«

Es schien, als ob die Träger diese Frage nicht gehört hätten oder als ob sie dieselbe nicht gern beantworten wollten. Sie zogen mit ihrer traurigen Bürde vorüber und verschwanden unter dem Gewölbe des Eingangstores.

Leonce wagte kaum seine Frage zu erneuern, als der Ton einer Stimme, welche ihm vertraut war, an sein Ohr schlug. In demselben Augenblick fühlte er sich sanft in die Arme des Priors geschlossen.

»Mein lieber Leonce, bist du es?«, fragte der Mönch mit Rührung. »Gott sei gepriesen! Du wenigstens kommst gesund und unversehrt zurück.«

»Und dies, guter Vater, ist noch nicht die ganze Gnade, welche Gott mir erwiesen, denn er hat mir den Sieg über das Ungeheuer verliehen, welches das Land verheerte. Aber, ich bitte Euch, wer ist der Unglückliche, der soeben …«

»Ein Mann, dessen Leben ein sündhaftes gewesen und der, wie ich fürchte, in seiner Unbußfertigkeit gestorben ist. Ich wurde zu spät benachrichtigt. Er hatte schon seinen letzten Seufzer ausgehaucht, als ich auf dem Kampfplatz ankam. Möge der Richter im Himmel ihm seine Fehler verzeihen!«

»Aber, hochwürdiger Vater, Ihr habt ihn mir noch nicht genannt …«

»Was brauche ich ihn zu nennen? Mein Sohn, du bist jetzt der einzige Repräsentant der alten, edlen Familie Varinas.«

Leonce versank einen Augenblick lang in Gedanken. Er konnte sich nicht eines innigen Mitleids mit dem Schicksal seines Verwandten erwehren, dessen Leben und Ende so beklagenswert gewesen war.

Während er sich so seinen Betrachtungen überließ, gingen zwei Personen an ihm vorüber. Er hörte wie die eine zu der anderen sagte: »Ich habe nur erst die Hälfte meiner Aufgabe erfüllt, Maître Legris. Ich habe den Hauptbeleidiger meiner Herrin gezüchtigt, bin aber nicht gesonnen, es dabei bewenden zu lassen. Ihr habt drei Tage Zeit, um das Begräbnis Eures Freundes besorgen zu können. Nach Ablauf dieser Frist aber macht Euch darauf gefasst, überall wo ich Euch finden werde, die Tracht Hiebe zu bekommen, die ich Euch versprach.«

Der Chevalier verneigte sich tief und entfernte sich. Bonaventura fasste den jungen Grafen am Arm und führte ihn weiter zum Schloss. Als sie sich dem inneren Hof näherten, rief jemand.

»Leonce! Mein lieber Leonce!«

Fräulein von Barjac erschien auf der Terrasse. Der junge Mann eilte auf sie zu.

»Christine«, rief er, »Gott hat mir den Sieg gegeben und ich komme nun, um den Lohn dafür zu verlangen!«

Statt aller Antwort ließ Fräulein von Barjac, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, sich in seine Arme sinken.

 

***

 

Zwei Monate später wurde der Graf von Varinas, Baron des Gévaudan und königlicher Wolfsjägermeister für die Provinzen des Gévaudan, in der Kathedrale zu Mende mit dem hochgeborenen Fräulein Christine von Barjac, Gräfin von Mercoire und anderen Herrschaften, vermählt. Das Volk begrüßte mit lautem Beifall den unerschrockenen Jäger, welcher das Land von dem furchtbaren Wolf befreit hatte, dessen blutige Verheerungen einen Platz in der Geschichte des Königreiches einnehmen sollten.

Die Vermählung wurde durch Seine Eminenz Monseigneur von Cambis, Bischof von Aleppo, vollzogen, der von Seiner Hochwürden Dom Bonaventura, dem vierunddreißigsten Abt von Frontenac, assistiert wurde, weil der arme alte Abt, der in unserer Erzählung figuriert, vor Kurzem gestorben und der ehemalige Prior an seiner Stelle ernannt worden war.

Schwester Magloire begleitete in ihrer Nonnentracht die Braut zum Altar und vertrat Mutterstelle.

Was den Chevalier von Magnac betraf, so hielt das Unglück, welches er gehabt hatte, den nächsten Verwandten des Bräutigams im Zweikampf zu töten, ihn ab, offiziell an dem Fest teilzunehmen, obwohl eine reichliche Pension ihn für die Zukunft gegen jeden Mangel sicherstellte. Wohl aber beobachtete er von Weitem seine junge Herrin mit unaussprechlicher Freude und murmelte: »Gleichviel, ich habe ihr doch gehörige Achtung verschafft, so lange sie unter meinem Schutz stand – den einen habe ich getötet und dem anderen seine Tracht Schläge verabreicht. Gott tue das Übrige!«

Ende

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  1. Historisch