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Allerhand Geister – Die harte Kur – Kapitel V

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Die harte Kur

V.

Die Wunde zeigte sich bei der Untersuchung durch den glücklicherweise bald eintreffenden Arzt nichts so gefährlich, wie man hatte fürchten müssen. Die Hast und die Erschöpfung des Mörders hatten den Stoß unsicher gemacht. Eines jener Fischbeinstäbchen, welche Damen zu ihrer Kleidung gebrauchen, hatte seine Gewalt noch mehr gebrochen und ihn, nachdem er eine Rippe gestreift hatte, flach weiter gleiten lassen. Der Blutverlust war jedoch ein außerordentlicher gewesen. Die im folgende Schwäche und das eintretende Fieber machten auf mehrere Tage hinaus jede Vernehmung der Kranken über das Geschehene unmöglich.

Es sah mit einer Aufklärung des Vorfalls in diesen ersten Tagen überhaupt misslich aus. Die Nachforschungen der Gutsangehörigen begannen spät. Und noch später griffen die Behörden ein. Schon Willmann, der gleich anfangs eine kurze Strecke weit der Richtung folgte, in der man den Flüchtling suchen zu müssen glaubte, fand nichts Verdächtiges mehr. Die Waldung war allerdings nach dieser Seite hin nicht bloß ziemlich ausgedehnt, sondern auch dicht und so verwachsen, dass man Versteckplätze in Fülle finden musste. Draußen auf dem Feld, wo doch manche Leute beschäftigt waren, hatte man gleichfalls keinen Fremden bemerkt. Ein alter sogenannter Fischfahrer, der mit seinen Planwagen einen Waldweg passierte, welcher kaum eine Viertelstunde rückwärts den Schauplatz des Verbrechens umkreiste, hatte wohl die rufenden Stimmen vernommen, aber auch seinerseits keinen Flüchtigen gesehen. Auf die Ersteren hatte er nicht Acht gegeben. Er war im Land als ein mürrischer und roher Geselle verrufen, den sich jeder gern vom Leibe hielt.

Bei näherer Untersuchung des Waldes fand sich das Werkzeug, dessen der Verbrechen sich bedient hatte. Es war ein sogenannte Genickfänger, wie die Fabriken der gleichen zu hunderten anfertigten, und gewährte daher zur Entdeckung seines Besitzes keinerlei Anhaltspunkt.

Ein anderer Umstand aber, von dem man erfuhr, schien von größerem Gewicht zu sein. Die Schnellpost nämlich, welche die eine starke Stunde entfernte Chaussee befuhr, wurde in der ersten Nachmittagsstunde unterwegs von einem Fremden angerufen und bestiegen, der ihrer harrend am Graben gesessen hatte. Es war ein großer, stattlicher Herr mit starkem Bart, in anständiger, aber freilich zum Teil beschmutzte Kleidung, denn er habe auf seinem Weg beim Überspringen eines Grabens einen harten Fall getan, erklärte er. Er hinkte allerdings und die Schulter schien ihn gleichfalls zu schmerzen. Er sei von dem bestellten Vorwerk im Stich gelassen worden, erzählte er dem Kondukteur weiter, bei dem er einen Platz gefunden hatte. Da er bis zum Abend notwendig in der und der Stadt sein müsse, so habe er sein Gepäck, einen mäßigen Reisesack, in die Hand und den Weg unter die Füße genommen, um die Post abzufangen, was ihm ja auch gottlob gelungen sei. Auf der nächsten Station löste er ordnungsgemäß sein Billett, gab, wie damals noch üblich war, auch Namen und Stand als Kaufmann Freudenberg aus Amerika an und fuhr noch zwei Stationen weiter, bis er in der angegebenen Stadt ausstieg und sich entfernte.

In diesen ganzen Bericht musste sich für jeden Nachdenkenden fast schon auf den ersten Blick manches Auffällige und sogar durchaus Unwahrscheinliche finden. Ein solcher Herr würde schwerlich in solcher Weise und auf solchem Platz die Post erwartet haben, auf die Gefahr hin, vom Kondukteur zurückgewiesen zu werden, während er von allen kleineren Städten der Umgegend die betreffende Station zum Anschluss an die Schnellpost rechtzeitig und bequem hätte erreichen können. Dass ihn in einer Stadt ein Fuhrwerk zu solcher Fahrt in Stich gelassen haben sollte, war wenig glaubhaft, und auf dem Land war natürlich noch weniger davon die Rede.

Leider erfuhr man von ihm und seiner Reise erst am folgenden Tag etwas, als der Postillon, durch das Geschehene gleich aller Welt in Aufregung versetzt, sich zu einer Angabe verpflichtet fühlte. Die Nachforschungen auf den Stationen nach Namen und Reiseziel des Fremden und die weiteren in der Stadt, wo er die Post verlassen hatte, dass alles nahm noch mehr Zeit weg und blieb obendrein völlig umsonst. In jener Stadt verlor sich die Spur. Niemand wollte etwas von dem Mann wissen. Da die Telegrafen dazumal noch in ihren Anfängen waren, ja eigentlich nur hier und da auf kurze Strecken getestet wurden, so konnte man sich auch dieses, heutzutage so mächtigen Hilfsmittels nicht bedienen, sondern sah sich auf die alte Verfolgungsweise durch Steckbriefe und dergleichen beschränkt, welche bekanntlich bei einem nicht allzu geringen Vorsprung und einiger Vorsicht des Gesuchten in den meisten Fällen resultatlos blieb.

Als Frau von Rehbeck am dritten Tag endlich ihre Abreise nicht länger verschieben konnte und der Wagen für sie schon bestellt war, wurde sie von Willmann um eine kurze Unterredung gebeten.

»Eine gnädige Frau«, sagte der Kaufmann, der in diesen Tagen ungewöhnlich schweigsam und finster war, sich fast immer von den Hausgenossen entfernt gehalten hatte und selbst Adnes’ Lager meistens nur kurze Zeit verweilte, »ich möchte Sie um Antwort auf ein paar Fragen bitten, die mir zur Aufklärung dieses rätselhaften Vorfalls von Bedeutung zu sein scheinen. Ich suche den Täter nicht in der Nähe, sondern in der Ferne, und muss trotzdem annehmen, dass er mit meiner Frau in irgendeiner Verbindung steht oder gestanden hat. Ohne eine solche Voraussetzung müssten wir es mit einem wirklichen Wahnsinnigen zu tun haben, der uns auch alsbald in die Hände fallen würde. Seit zehn Jahren und länger bin ich kaum von der Seite meiner Frau gekommen und weiß in unserer Umgebung niemand, dem eine solche Tat zuzutrauen wäre. Es ist daher begreiflich, dass sich weiter in die Vergangenheit zurückschaue, obwohl die Eltern unsere Sophie versichern, dass auch dort niemand gewesen sei, der dem damaligen jungen Mädchen jemals näher gestanden hatte. Nun haben sie uns neulich Abend von einem Herrn erzählt, der vor fünfzehn, sechzehn Jahren ihr Haus häufig besuchte, bald nach dem Ausbruch der Krankheit meiner Frau jedoch die Gegend verließ …«

»Sie meinen Herrn Wedening?«, unterbrach ihn Frau von Rehbeck mit einer Art von Verlegenheit. Nicht nur die Worte Willmann, sondern auch der Ton, in dem sie gesprochen wurde, und seine fast stark zunehmende Haltung überraschten sie.

»So, denke ich, nannten sie ihn«, sprach der Handelsherr unverändert. »Also jetzt zu meiner Frage: In welchen Beziehungen stand dieser Herr zu ihrem Gast?«

Frau von Rehbeck war sichtlich erschrocken. »Um alles in der Welt«, rief sie lebhaft, »suchen Sie hinter meiner törichten Neckerei nichts Unrechtes, Herr Willmann! Ich bitte ernstlich um Verzeihung. Es war in Wirklichkeit gar nichts. Herr Wedening kam allerdings ziemlich häufig zu uns und erwies Agnes auch viel Aufmerksamkeit – so schön und liebenswürdig wie sie war, verstand sich das ganz von selbst. Sie ließ sich auch gern von ihm unterhalten und war freundlich gegen ihn – auch er war ein schöner und interessanter Mann. Wir, mein Mann und ich, haben Agnes auch wohl einmal mit ihm geneckt. Aber, Herr Willmann, im Ernst habe ich nie an eine Neigung zu ihm geglaubt. Sie zeigte niemals mehr als die ruhigste Freundlichkeit und Unbefangenheit, sie ertrug unsere Neckereien mit der besten Manier. Und endlich, als er fort war, hat sie seiner, meines Wissens, so gut wie gar nicht mehr erwähnt.«

Willmann neigte leicht das Haupt. »Auch Sophie und ich erfuhren erst durch Ihre Worte von ihm. Meine Frau hat niemals seinen Namen genannt«, sagte er kalt wie vorhin. »War es ein leidenschaftlicher Mensch?«

»Seine Untergebenen sollen über seinen Jähzorn und seine Härte geklagt haben, wir beobachteten dergleichen natürlich niemals. Er war lebhaft, auch ein wenig exzentrisch; mehr nicht«, lautete die Antwort der Dame.

Nach einer Pause fragte Willmann: »Könnte er vielleicht mit jener unglücklichen, verschwundenen Tochter des Müllers Volkmann bekannt gewesen sein?«

Frau Rehbeck schaute erschrocken auf. »Herr Willmann«, rief sie, »wenn ich Sie nicht falsch verstehe, deuten ihre Worte etwas an …«

»Ich bitte Sie nur um ein Ja oder Nein«, unterbrach er sie trocken.

Ihre Wangen röteten sich, denn dieser Ton und diese Weise fingen an, ihr unbehaglich zu werden. »Also weder ja noch nein«, versetzte sie gemessen, »vielleicht aber möglich. Herr Wedening wohnte, wie Sie wissen, in unserer Gegend. Und Röschen Volkmann war ein wegen seiner Schönheit bekanntes junges Mädchen.« Frau von Rehbeck trat einen Schritt zurück.

»Verzeihen Sie, meine gnädige Frau, ich bin sogleich fertig, nur noch ein wenig Geduld!«, sagte er höflich. »Der Herr ging also damals fort und kehrte erst jetzt zurück. Ließ er inzwischen nichts von sich hören?«

»So viel ich davon erfuhr – nein.«

»es ist ein großer, starker Herr?«

»Ja, stattlich und beinahe imponierend.«

»Trägt er einen Bart?«

»Auch das! Aber was wollen Sie eigentlich mit all diesen Fragen, Herr Willmann?«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu. Es überkam sie allmählich doch mit einer Art von Erbarmen für den Mann der mit aller Anlage und aller Berechtigung zum freundlichsten und glücklichsten Leben dennoch niemals zu demselben gelangen zu sollen und nun obendrein unter neuen Qualen zu leiden schien, wie er, so glaubte sie, es heißen zu müssen, sich selber und ohne Not bereitete.

»Ich weiß nicht«, sprach er nun mit der früheren Starrheit, »ob Sie vom Postreisenden erfahren haben, der dem Gericht und mir verdächtig erscheint. Ich redete hier im Haus bisher davon nicht. Genug, es existiert ein solcher Mensch, dessen Äußeres mit der von Ihnen geschilderten Persönlichkeit wirklich höchst merkwürdig übereinstimmt. Aber es ist damit nicht genug«, fuhr er, die Stirn in Falten ziehend, fort. »Das letzte Wort meiner Frau, dass ich, mich über sie beugend, vernahm, war der Anfang eines Namens und lautete, wie ich deutlich verstand, We…«

»Aber Herr Willmann!«, stammelte sie, da er innehielt, aufs Höchste bestürzt.

»Genug, Sie sehen, ich habe guten Grund zu diesen und noch zu vielen anderen Fragen, auf die ich freilich von Ihnen keine Antwort erhalten kann«, sagte er finster. »Aber ich verzweifle nicht, sie endlich dennoch zu finden und diesen, für meine Frau und mich immer unerträglicheren Zuständen ein Ende zu machen. Bitte aber, lassen Sie uns hineingehen und verzeihen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe«, brach er ab. »Nicht wahr, über meine letzte Mitteilung schweigen Sie? Sie begreifen wohl, weshalb mir dies nötig erscheint.«

Sie drückte ihm, ohne etwas zu erwidern, warm die Hand. Erbarmen und Sorge erfüllten sie immer mehr. Was war aus dem Mann geworden, der nach allem, was sie von ihm erfahren hatte, bisher in den schwierigsten Lebenslagen und in den trübsten Stunden sich frisch und kraftvoll zu erhalten vermocht und seinen Leben und seiner Ehe mit der armen Agnes noch immer eine freundliche Seite abzugewinnen gewusst hatte! Begreiflich erschien es der Freundin wohl, dass auch er allmählich zu unterliegen begann – wie zäh die Natur und stark das Herz des Menschen sein mag. Es gibt auch für sie eine Grenze, über die es mit ihnen nicht mehr hinausgeht. Aber mit tiefen Schmerz und schwerer Sorge erfüllte sie der Ausblick in die Zukunft. Die traurige Frage, was zumal aus Agnes werden sollte, welche, auch wenn sie vollständig genas, der Geduld des Gatten und vor allem seine Heiterkeit nach wie vor bedürftig sein muss, um wieder festen Fuß im Leben zu fassen und es lang entbehrten Glückes froh werden zu können.

Hätten sie in den Mann hineinsehen und seine Gedanken und Empfindungen lesen können, ihre Sorgen und Befürchtungen würden noch gewachsen sein. Denn es sah in Willmann noch viel schlimmer aus, als sie oder irgendein anderer auch nur zu ahnen vermochte. Die Heiterkeit und Leichtgläubigkeit seiner Natur hatten einen Stoß empfangen, von dem, wie er ihn gegenwärtig empfand, sie sich vielleicht niemals wieder erholen durften.

Wir erinnern uns, mit welchen Misstrauen, ja mit welchen Verdacht in schon jener erste Unfall in der Stadt und das, was er an Agnes beobachtet und von ihr vernommen hatten, auf das Peinlichste erfüllt hatte. Wir wissen auch, wie er sich darüber gegen Sophie äußerte und wie ihre Einwendungen vergeblich geblieben waren.

Der neue Unfall nach dieses Mitteilungen machte die Sache, wie wir gleichfalls wahrnahmen, nicht besser, sondern steigerte seinen Verdacht bis zu einer Art von Überzeugung: Hier war keine Krankheitserscheinung, eine leere Fantasie eines kranken Kopfes, sondern ein wirkliches, wenn auch noch verborgenes, doch augenscheinlich verderbliches Etwas. Irgendeine furchtbare Begegnung, deren Schrecken so wenig wie dessen Einfluss trotz aller seitdem vergangenen Jahre an Macht verloren hatten. Nein, sie waren vielmehr so gewaltig geblieben, dass sie Agnes’ ganzes Sein und Wesen beherrschten, ihr Denken, ihr Handeln bestimmten und dem Gatten sogar das Vertrauen der Gattin vorenthielten, obwohl ein solches die letztere, nach menschlicher Voraussicht, doch am leichtesten, am schnellsten und sichersten von ihrer Qual hätte erlösen sollen.

Es ist ein trostloses, zugleich demütigende und bitteres Gefühl, wenn man sich, wo man bisher am sichersten und festesten zu stehen geglaubt hatte, plötzlich in der Luft schweben sieht und vergeblich nach einem Halt sucht, wenn man das Herz, in dem man allein und einzig zur herrschen gewöhnt war, mit irgendeinem oder irgendetwas anderem teilen soll, und die Entdeckung machen muss, dass man vielleicht nie in diesem Herzen wirklich aufgenommen wurde und niemals vielleicht die wirkliche Liebe und Treue desselben sein Eigen nennen durfte!

War eine solche Erwägung, eine solche Empfindung etwa eine ungerechte und krankhafte, musste Willmann sich selbst stets von Neuem fragen.

Drängte nicht alles zu ihr hin und schien sie nur allzu ernstlich zu rechtfertigen? Was in all den Jahren weder die Kunst des Arztes zu erreichen vermocht hatte noch was der treuesten, sorgenden, unermüdlichen Liebe gelungen war, das erzwang jener alte, geheimnisvolle Einfluss auf den ersten Anstoß. Und nicht genug, dass Geist und Körper zur Klarheit und Gesundheit, man musste wohl sagen, zurückgeschreckt wurden, offenbarte sich an beiden auch plötzlich eine Kraft, die man selbst vordem im zarten und weichen weiblichen Wesen niemals gesucht hatte, und die von ihm dennoch in all den Lebensjahren, in den Stunden der tiefsten Versunkenheit, mit einer unglaublichen Ausdauer, mit unbesieglicher Fähigkeit zur Ausübung gebracht worden war. Das war jene außerordentliche Willenskraft, deren wir Willmann erwähnen hörten, welche sie nicht bloß die Strecken auf sich allein nehmen und ertragen und das Geheimnis vor jedermann und unter allen Umständen hüten, sondern auch nur noch aus jedem augenblicklichen Unterliegen sich wieder aufraffen und der Entdeckung stets von Neuem entgegentreten ließ.

Eine solche Kraft vermag sich aber, sagen wir kurz, aus dem Verstand allein nicht zu erheben. Es müssen diesem notwendig andere Faktoren zu Hilfe kommen, und zwar die mächtigsten, dies überhaupt Menschen gibt. Ja, gerade diese tiefsten Kräfte müssen noch vor dem Verstand in Mitleidenschaft gezogen sein und unabänderlich in ihr erhalten werden.

Und trotz alledem hatte man bisher niemals auch nur eine Ahnung davon gehabt, dass es in Agnes’ Leben ein Ereignis von solcher Schrecklichkeit und Tragweite, dass es in ihrem Inneren eine Bewegung von solcher Intensität gegeben habe, dass sie einem so unbesiegbaren und unauslöschlichen Eindruck unterlegen sein können, wie Willmann es nun erkennen zu müssen glaubte. Man hatte ja damals vergeblich dies alles ins Auge gefasst und danach geforscht. Und nun mit einem Mal schien das Dunkel durch die neckenden Worte der Freundin gerichtet werden zu sollen: Agnes hatte nicht bloß gelebt, wie die Ihren erwähnten, sondern auch erlebt, was bis auf den heutigen Tag in ihr nachwirkte. Wenn Willmann auch am Ende kein Recht auf das hatte, was es vor der Verbindung mit ihm etwa in der Gattin gegeben hatte, weil ihre Ehre und Reinheit dadurch nicht verletzt und ein prächtig zu sein schien. Etwas ganz anderes war es, wenn diese Erlebnisse auch in der Ehe fortwirkten, sich zwischen die Gatten stellten und die Frau in Wirklichkeit dem Mann niemals zu eigen werden ließen.

Es war, wie wir wiederholen müssen, für den wackeren Mann in diese Erkenntnis, denn Zweifel hegte er nicht mehr, teils etwas unendlich Demütigendes und Bitteres, teils etwas hundertmal Besseres, Berechtigteres und Ehrenhafteres, als die gewöhnliche Eifersucht. Er fühlte sich bis ins Herz gekränkt und erkältet, und wenn er auch nicht nachließ, für Agnes zu sorgen und, wo dies nötig wurde, zu handeln, um sie endlich aus den Schrecken und Qualen zu erlösen und ihr zumindest die äußere Ruhe zu sichern. die alte Herzlichkeit und die alte Ausdauer, welche sein Leben mit Agnes erfüllt und bestimmt hatten, schien ihm mit dem Glauben und Vertrauen zu ihr unrettbar verloren gehen zu sollen.

Ernst und verschlossen ging er umher und trug, was ihm auferlegt war, für sich allein, wohl zufrieden, dass die Eltern und selbst seine Schwägerin sein verändertes Wesen durch die Sorge um Agnes, durch sein Verlangen nach einer endlichen Aufklärung des Falls und nach der Entdeckung des Täters erklärten. Sich ihnen mitzuteilen, vermochte er nicht über sich, da nicht annehmen zu dürfen glaubte, dass er sie zu seiner Anschauung bekehren würde. Endlich war ihm bisher auch immer noch ein schwacher Rest von Hoffnung geblieben: Wenn Agnes bei fortschreitender Genesung aus dem alten Bann sich frei rank und sich mit vollem Vertrauen ihm offen hingab, dann, rechnete er, möge noch alles dennoch gut werden.

Allein auch darin sollte er sich gewissermaßen getäuscht haben. Für die Erklärung und Verfolgung des Falls mochte, was er von Agnes vernahm, von größter Bedeutung sein. Für ihn selbst erwuchs daraus weder Beschwichtigung noch Genugtuung.

Als das Fieber gewichen war und die Kräfte sich ziemlich rasch wieder zu heben begannen, als der Arzt Willmann die Erlaubnis gab, die Gattin vor der bevorstehenden gerichtlichen Vernehmung, um die Ereignisse im Wald und um den Namen des Angreifers zu befragen, geschah dies von ihm in einer besonders guten und friedlichen Stunde und auf die schonendste Weise.

Der Eindruck auf sie war augenscheinlich ein sehr tiefer und qualvoller, allein sie wurde seiner dennoch alsbald mit unvermuteter Kraft Herr und sprach es mit auffälliger Entschiedenheit aus, dass sie über das Erfragte weder etwas mitteilen könne noch dürfe. Denn, erklärte sie endlich dieses letztere Wort, was nun geschehen sei, hänge mit früheren Ereignissen zusammen, über die sie geschworen habe, das strengste Schweigen zu bewahren.

»Ein Eid, wie du ihn andeutest und wie er von dir erzwungen sein könnte«, sagte Willmann, seine Überraschung zurückdrängend, mit großem Ernst, »ist vor Gott und Menschen ungültig, Agnes, und bindet dich nicht an einen Augenblick. Das musst du selbst begreifen.«

»Nein«, versetzte sie matt und dennoch wieder mit voller Entschlossenheit, »so sah ich es nicht an und kann es nie so ansehen. Ich fühle mich gebunden.«

»Willst du mir denn auch den Namen des Täters jetzt nicht nennen, wie du es doch vorhattest, bevor dich das Bewusstsein verließ?«, fragte er nach einer Pause mit gefalteter Stirn.

»Ich … kenne ihn nicht … du musst dich irren«, erwiderte sie ausweichend und schloss die Augen.

»Wenn ich dir den richtigen Namen nennen … willst du mir ein Zeichen geben? … War es jener Herr Wedening?«

Ihre Augen blieben geschlossen, in ihren Zügen erschien nicht die leiseste Bewegung, nur die Lippen schienen sich, wie Willmann zu sehen glaubte, ein wenig fester aneinander zu schließen.

Er nahm ihre Hand und streifte sie flüchtig mit seinen Lippen. »Es wird Zeit, zu gehen«, sprach er in kaltem Ton, »denn ich muss noch einiges packen.« Er hatte nämlich der Gattin und den Übrigen erklärt, dass er notwendig auf einige Zeit zu seinem Geschäft zurückkehren müsse. »Ich verlasse dich ohne Sorge«, fuhr er fort, dass sie nun die Augen zu ihm aufgeschlagen hatte und seine Hand von Neuem erfasste. »Du bist ja wirklich auf dem Weg zur Besserung. Also lasse mich oft gute Nachrichten haben und, wenn ich wiederkommen kann, dich wohl und vor allen Dingen auch offener finden.«

Er wollte aufstehen. Aber sie richtete sich rasch aus ihrem Stuhl auf und warf beide Arme um seinen Hals.

»Sei gut, sei lieb, Fritz«, stammelt sie, während die Tränen ihr aus den Augen drangen und sie die Stirn an seine Schulter presste. »Verzeih mir, ich kann, ich darf nicht anders! Habe mich lieb – lieb!«

Er versuchte sie mit freundlichen Worten zu beschwichtigen und schied, als ihm das gelungen zu sein schien, mit dem Versprechen, sobald wie möglich zurückkehren zu wollen. Allein die alte Herzlichkeit vermochte er nicht einmal zu heucheln. Sie empfand das gut genug. Aber einen Versuch, ihn zurückzuhalten, machte sie nicht.